Beim Ende April an die Europäische Kommission eingereichten Konvergenzprogramm handelt es sich um das erste offizielle Dokument, das wirtschaftliche Aspekte der Corona-Krise reflektiert. Die COVID-19-Krise hat demnach ein Land getroffen, das dank seiner konsequent verfolgten Wirtschaftspolitik im Vorjahr um satte 4,9 Prozent wachsen konnte, binnen neun Jahren 840.000 neue Arbeitsplätze schuf und parallel hierzu die Erwerbslosenquote auf das Rekordtief von 3,3 Prozent senken konnte. Derweil schnellte die Investitionsquote auf 28,6 Prozent in die Höhe, einen Spitzenwert in der Gemeinschaft (den einzig Irland mit unglaublich anmutenden 43 Prozent in den Schatten stellt). Ungarn baute seine externe Verletzlichkeit zurück, das Defizit erreichte nur noch zwei Prozent, die Staatsschulden sanken bis Jahresende auf zwei Drittel am Bruttoinlandsprodukt. In dieses Szenario einer Volkswirtschaft im Modernisierungsrausch platzte das neuartige Coronavirus.


Löcher in den Staatsfinanzen

Darauf reagierte die Regierung mit dem Moratorium für Kredittilgungen, das schnell von den privaten Haushalten auf die Unternehmen ausgeweitet wurde, sowie mit Steuererleichterungen für die von der Krise am härtesten getroffenen Branchen, wie Tourismus, Gastgewerbe oder Personenbeförderung. Auch ohne die zugesagte Prämie für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens und die zeitlich verlängerten Familienzuschüsse hat das Land seit Mitte März für die Abwehr des Virus rund 600 Mrd. Forint aufwenden müssen. Im Vergleich dazu verzichtet der Staat mit der seit langem angekündigten – aber wenigstens nicht unter Hinweis auf die Krise zurückgenommenen – Senkung der Sozialabgaben um zwei Punkte auf 15,5 Prozent ab 1. Juli auf rund 160 Mrd. Forint in diesem und 330 Mrd. Forint im kommenden Jahr.

Die im Staatshaushalt eingeleiteten Umschichtungen dienen auch zur Finanzierung des Kurzarbeitergeldes, mit dem Ungarn seit dem 1. Mai Neuland betritt. Die Zentrale zur Verwaltung der Staatsschulden (ÁKK) begab noch Ende April eine Anleihe über 2 Mrd. Euro, um die im Krisenmodus aufgerissenen Löcher in den Staatsfinanzen stopfen zu helfen. Die Devisenreserven bei der Notenbank schossen infolgedessen auf 29 Mrd. Euro in die Höhe – so intensiv, wie seit Oktober 2008 nicht mehr erlebt, als der Internationale Währungsfonds seinen Rettungsschirm über dem damals hart angeschlagenen Ungarn aufspannte. Eine ungezügelte Neuverschuldung soll es 2020 aber nicht geben: Das ursprünglich mit einem Prozent am BIP kalkulierte Haushaltsdefizit darf nun 3,8 Prozent erreichen. Selbst dafür sind enorme Anstrengungen notwendig, hat die Corona-­Krise doch eine Lücke von sieben Prozentpunkten aufgerissen, wenn man die letzte „normale“ Prognose an den aktuellen Wachstumsaussichten misst.


Starke Fundamente

Die Regierung rechnet im neuen Konvergenzprogramm mit einer in diesem Jahr um drei Prozent schrumpfenden Wirtschaftsleistung, worauf 2021 eine kräftige Korrektur mit neuerlich 4,8 Prozent Wachstum folgen dürfte – anschließend setze sich die Konjunktur mit Werten stabil über vier Prozent fort. Die Beschäftigungsquote würde nur vorübergehend zurückfallen, die Erwerbslosenquote bis 2024 ein neues Rekordtief markieren. Ebenso würde die Entwicklung in Bezug auf Budgetdefizit und Staatsschulden verlaufen, die sich nach kurzen Ausreißern in ruhigen Bahnen wie gehabt fortsetzen würde: Das Defizit soll sich bis 2024 wieder auf ein Prozent beschränken, die Verschuldung dann endlich unter sechzig Prozent fallen.

Ganz anders als beim Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 stützt sich Ungarn heute auf starke Fundamente, die im Konvergenzprogramm zur besseren Veranschaulichung der Ausgangslage in der Corona-Krise explizit herausgearbeitet wurden. Gemessen am EU-Durchschnitt wies Ungarn in der damaligen Krise eine schlechtere Beschäftigungsquote und eine brutal defizitäre Zahlungsbilanz auf, die Arbeitslosigkeit lag um einen, die Verschuldung um zehn Prozentpunkte höher. Vor dem Ausbruch der Corona-Krise wuchs Ungarn dreimal schneller, wies eine um ein Drittel höhere Investitionsquote, eine höhere Beschäftigungsquote und eine nur mehr halb so hohe Erwerbslosenquote aus, wie sie 2019 für die EU-Länder typisch war. Die privaten Haushalte verzeichnen eine mehrfache Sparrate, die Zahlungsbilanz produziert Überschüsse, die ungarischen Auslandsschulden liegen um fünfzehn Prozentpunkte niedriger. Über einen Zeitraum von zehn Jahren betrachtet legten die Investitionen hierzulande um drei Viertel zu; im vergangenen Jahr wurden Entwicklungsprojekte im Gesamtvolumen von 13.400 Mrd. Forint (bald 40 Mrd. Euro) realisiert.


Sonderregeln für Exoten

Derzeit laufen zwei Dutzend Projekte im Einzelwert von 100 Mio. Euro aufwärts. Darunter befinden sich freilich auch die Zukunftsvorhaben der deutschen Premiumhersteller und ihrer Zulieferer, die momentan auf Eis gelegt sind, denn die globalen Aussichten der Automobilindustrie stimmen wenig zuversichtlich. Ähnlich geht es dem Flughafenbetreiber Budapest Airport und der Lufthansa, die derzeit ums blanke Überleben kämpfen, nachdem das Virus den weltweiten Flugverkehr lahmlegte. Die Südkoreaner bauen ihre Batteriewerke derweil unter Hochdruck aus. Mit einer Sonderregelung wurde Arbeitnehmern von Partnerunternehmen aus sechs Ländern gerade eine Freizügigkeit eingeräumt, die in Zeiten der Corona-Pandemie überhaupt nicht mehr selbstverständlich ist: Neben Deutschland und Österreich begünstigte die Verordnung die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien und Slowakei sowie als einzigen „Exoten“ Korea.

Chartermaschinen flogen dieser Tage technisches Personal für SK Innovation und für Samsung SDI nach Ungarn ein, damit deren Bauvorhaben keinen weiteren Verzug erleiden müssen. Für Samsung wurde sogar eine eigene Sonderwirtschaftszone in Göd deklariert, nimmt dieses Unternehmen doch mehr als 1 Mrd. Euro in die Hand. In dieser Größenordnung entstehen an der Grenze zu Österreich ein multifunktioneller Immobilienkomplex der FAKT AG beziehungsweise im Landesosten, an der Theiß, ein Petrolchemiewerk der MOL-Gruppe. Für Aufsehen sorgte die inmitten der Krise nur beim ersten Hinhören deplatziert wirkende Ankündigung der dänischen Jysk-Gruppe, für 200 Mio. Euro ein regionales Logistikzentrum für Mitteleuropa mit annähernd 150.000 Quadratmetern Lagerflächen vor den Toren der ungarischen Hauptstadt zu errichten. Die Lesern in Deutschland und Österreich eher als Dänisches Bettenlager vertraute Handelskette blickt halt in die Zukunft; schließlich geht das Leben irgendwie weiter.

Die Orbán-Regierung macht Investoren den Standort aber auch zunehmend schmackhafter. Das Arbeitsgesetzbuch wurde weiter gelockert, einheimische Firmen dürfen vergünstigte Kredite aufnehmen und ihre Umlaufmittel praktisch zum Nulltarif finanzieren. Exporteure erhalten Garantien und Rückversicherungen bei Zahlungsverzug ihrer ausländischen Partner. Die Ungarische Nationalbank und die staatliche Entwicklungsbank überschütten den Unternehmenssektor mit einer Neuauflage des Wachstumskreditprogramms beziehungsweise weiteren Investitionsbeihilfen mit insgesamt 3.000 Mrd. Forint, damit früher geplante Vorhaben nicht der Krise zum Opfer fallen müssen.

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In den Automobilwerken ist – wie hier im Mercedes-Werk Kecskemét – die Fertigung unter Einhaltung zahlreicher Schutzmaßnahmen wieder angelaufen. (Foto: MTI/ Sándor Ujvári)

Da steht einiges auf dem Spiel. Die Investoren hatten bis Anfang 2020 Projekte in Aussicht gestellt, deren Volumen nahezu ein Zehntel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts von nominal 44.800 Mrd. Forint erreicht. Mittelfristig sollten zusätzliche Kapazitäten in einer Dimension geschaffen werden, die eine Steigerung der ungarischen Exportleistung um bis zu 20.000 Mrd. Forint im Jahr ermöglicht hätten. Allein die einhundert von der Nationalen Investitionsagentur (HIPA) im vergangenen Jahr unter Dach und Fach gebrachten Projekte versprachen bei einem kumulierten Kapitaleinsatz von 5,3 Mrd. Euro unmittelbar 13.500 neue Arbeitsplätze.


Wo es hakt

Längst nicht in allen Kapiteln kann das Konvergenzprogramm einen vergleichbaren Optimismus versprühen. Das mit Steuergeldern im Volumen von einem Prozent der Wirtschaftsleistung ausstaffierte Wohnungsbauprogramm für Familien (CSOK) hat die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen gerade mal über zwanzigtausend anzuheben vermocht. Dabei wären vierzigtausend Neubauwohnungen pro Jahr das absolute Muss, um den Wohnungsbestand auf Niveau zu halten. Nun aber läuft die Regelung der auf fünf Prozent abgesenkten Mehrwertsteuer aus – die unausweichliche Teuerung lässt den Wunsch von den eigenen vier Wänden in eine unabsehbare Zukunft rücken.

Paradoxerweise ist Ungarn mit seiner engagierten Haltung, die EU-Fördermittel des Finanzrahmens 2014-2020 so schnell wie möglich in Projekten zu binden, in der Corona-Krise benachteiligt. Die aus Brüssel bereitgestellten 25 Mrd. Euro waren bereits am Jahresende 2019 komplett „ausgebucht“, nahezu die Hälfte des Geldes längst im Lande „verbaut“. Damit sind unbürokratische Umschichtungen, wie von der neuen EU-Kommission in diesen Wochen im Krisenmodus den Mitgliedstaaten ans Herz gelegt wurden, weitgehend ausgeschlossen. Allerdings werden die EU-Beihilfen, die nach Ansicht regierungskritischer Ökonomen schon bislang der wichtigste Motor des ungarischen Wirtschaftswachstums waren, bis Ende 2023 vertragsgemäß und unter Berücksichtigung der einheimischen Co-Finanzierung immerhin noch ein Investitionsvolumen von 15-18 Mrd. Euro generieren. Das ist kein Pappenstiel, können doch im Schnitt Jahr für Jahr drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung bewegt werden.


Mal wieder gute und böse Multis

Jeder Stimulus wird mehr als in den jüngeren Jahren vonnöten sein, denn weitere Konjunkturmotoren brechen weg. So wurde der Privatverbrauch seit der langfristigen umfassenden Tarifvereinbarung von Ende 2016 durch zweistellige Lohnzuwächse genährt. Dem Einzelhandel bescherte das einen Boom, der nun wiederum die Regierung veranlasste, in der Corona-Krise die einzige echte Sondersteuer über diese Branche zu verhängen. Was natürlich sehr kurz gedacht ist, profitierten von den Hamsterkäufen doch allenfalls die Anbieter von Artikeln des täglichen Bedarfs. Modeketten und Möbelhäuser mussten amtlich verordnet dichtmachen, Tankstellen zogen freiwillig nach, weil die Nachfrage deftig einbrach. Obendrein ist die Zusatzbesteuerung der Handelsbranche kontraproduktiv, weil sie investitionshemmend wirkt, wie die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) umgehend feststellte. Das scheint die Lenker der Wirtschaftspolitik aber nicht anzufechten: Sobald die Notstandslage beendet ist, wird die Sondersteuer zu einer Abgabe mit Dauercharakter. Diese trifft, wie schon einmal zwischen 2010 und 2012 praktiziert, weitgehend die multinationalen Unternehmen, da sie progressiv angesetzt wird und der Spitzensteuersatz von zweieinhalb Prozent erst ab Umsatzerlösen jenseits von 100 Mrd. Forint zur Anwendung gelangt. Damit ist zugleich klar geworden, dass die Orbán-Regierung weiterhin ihrem Narrativ von den guten und den bösen Multis folgt.

Dunkle Wolken brauen sich am Arbeitsmarkt zusammen. Die Erwerbslosenquote wurde seit 2010 gedrittelt, doch „in jüngster Zeit haben sich ungefähr einhundertsechzigtausend Ungarn um Hilfe an den Staat gewandt“, sagte Ministerpräsident Viktor Orbán dem staatlichen Kossuth-Radio. Diese Menschen hätten ihre Arbeit aber nicht ausschließlich aufgrund des Coronavirus verloren, fügte er noch hinzu. Er habe den Innen- und den Finanzminister angewiesen, die Zahl der ABM-Stellen kurzfristig zu verdoppeln. Die Regierung sei bereit, zweihunderttausend Menschen in öffentlichen Arbeitsprogrammen zu beschäftigen. Einen Ersatz für Beschäftigungsverhältnisse in der Wettbewerbssphäre stellt dies freilich mitnichten dar. Selbst wenn die Wirtschaft nach dem Sommer relativ rasch zu sich finden sollte, dürfte die Beschäftigtenzahl in der freien Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozentpunkte abnehmen. Hält die Corona-Krise die Gesellschaft länger im Würgegriff, könnte dieser Negativeffekt doppelt so heftig ausfallen. Die Löhne würden dann um drei Prozentpunkte, der Privatkonsum noch deutlicher einbrechen.

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