Anfang des Jahres hatten alle Parteien Ungarns ein großes Ziel fest im Blick: Die Parlamentswahlen 2022. Alle Seiten hatten ihre Strategien festgezurrt, die Maschinerie lief gerade an, um sorgsam ausgefeilte Schlüsselbotschaften an die vermeintlich entscheidenden Zielgruppen zu bringen.


Mit Krisenkompetenzen punkten

Die Covid-19-Epidemie hat diese Strategien weitgehend irrelevant gemacht, für alle Seiten. Es gibt nur noch ein relevantes Thema: Wenn die Regierung glaubhaft machen kann, dass sie das Land gut durch die Krise geführt hat, dann wird sie die Wahlen gewinnen. Wenn hingegen die Opposition glaubhaft machen kann, dass die Regierung versagt hat, dann hat sie wiederum eine Chance auf den Sieg. Allerdings regiert sie Budapest, unter Oberbürgermeister Gergely Karácsony, und dort ist es umgekehrt: Hier muss die Opposition zeigen, dass sie ein guter Krisenmanager war, während die Regierungspartei Fidesz versuchen muss, sie als Versager darzustellen.

Ein Schlachtfeld dieses Ringens sind Budapests Altenheime. Etwa zehn Prozent der bislang 430 Todesopfer der Epidemie in Ungarn – 44 Todesfälle – sind Bewohner eines Altenheims an der Pesti út, das von der Hauptstadt verwaltet wird. Um diese Einrichtung ist ein heftiger Schlagabtausch zwischen Regierung und Bürgermeisteramt entbrannt. Das Heim wurde wegen mangelhafter Hygienemaßnahmen mit einer Strafe in Höhe von einer Million Forint belegt. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. Mittlerweile tauchen in regierungsnahen Medien Berichte auf, in denen Angehörige einiger Verstorbener schwere Vorwürfe erheben: Nicht nur am Virus seien manche gestorben, sondern an mangelnder Verpflegung, die Rede ist von Unterernährung und Dehydration.

Oberbürgermeister Karácsony macht dagegen die Regierung verantwortlich. Denn auf deren Weisung hätten Krankenhäuser sich anfangs geweigert, entgegen der Bitte der Heimleitung, Einwohner des Seniorenheimes auf das Coronavirus zu testen.


Regierung soll absichtlich zu wenig testen

Viel oder weniger testen? Das entwickelte sich daraufhin zu einer hitzigen Debatte zwischen Staat und Stadt. Karácsony veranlasste, alle Einwohner Budapester Altenheime testen zu lassen, von privaten Laboren und auf Kosten der Stadt. Das war sicher eine Debatte unter Experten, aber mit einer politischen Dimension: Die Opposition beschuldigte die Regierung, absichtlich wenig zu testen, um das wahre Ausmaß der Epidemie absichtlich zu verschleiern – mit, so wurde suggeriert, potentiell katastrophalen Folgen für das Land.

Die Regierung konterte am Ende mit einer landesweiten Testkampagne, um festzustellen, wie weit das Virus in der Bevölkerung verbreitet ist. Ergebnis: Kaum. Bei 0,6 Prozent der Getesteten wurden Antikörper festgestellt, das heißt sie waren infiziert, sind es aber nicht mehr. Und bei nur zwei von mehr als 8.000 Tests wurde eine aktive Infektion festgestellt. Politisch bedeutet das: das wahre Ausmaß der Epidemie ist doch nicht viel schlimmer als es den Anschein hat, die Regierung hat die Lage vorerst im Griff.

Diese Schlacht ging zugunsten der Regierung aus, und was die Altenheime betrifft, dürfte bei den Bürgern vor allem ein Fakt registriert worden sein: Dass es schlimm zuging in Budapests Altenheimen, und dass Budapest von Karácsony regiert wird.


Fidesz steht vor schweren Wahlen

Ob solche Dinge die Ausgangspositionen für die Wahlen 2022 entscheidend ändern, bleibt abzuwarten. Es wird jedenfalls keine leichte Wahl für den Fidesz, denn erstmals sieht sich die Partei einer formal vereinten Opposition gegenüber. Da muss der Fidesz bei den Listenergebnissen souverän abschneiden, die über 93 Mandate entscheiden, aber auch mehr als die Hälfte der 106 Wahlkreise gewinnen. Das erfordert jeweils eine absolute Mehrheit, wo früher gegen eine gespaltene Opposition oft auch 40 Prozent genügten.

Der bisherige Plan des Fidesz sah im Kern so aus: Das eigene Lager voll mobilisieren und zusätzlich Anhänger der einst rechten, jetzt reformierten Jobbik-Partei anziehen. Die hat einen Teil ihrer Anhänger verloren, seit sie nicht mehr radikal rechts verortet ist. Teilweise bilden diese nun den Kern der neuen, kleinen Rechts-Partei „Mi hazánk“ (Unsere Heimat). Um frühere Jobbik-Wähler anziehen zu können, setzte der Fidesz Anfang des Jahres entsprechende Themen. Man sprach von Gewalt an Schulen, „übertriebenen“ Entschädigungen für in einer Schule benachteiligte Roma, „übertriebenen“ Entschädigungen für Häftlinge wegen „schlechter Haftbedingungen“. All das versprach zumindest in der Provinz gut anzukommen. Außerdem konnte der Fidesz hoffen, mit ausgezeichneten Wirtschaftsdaten imponieren zu können.

Der alte Plan der Opposition bestand wiederum unter anderem darin, den Fidesz mit Korruption gleichzusetzen.

Aber all das interessiert die Wähler im Augenblick kaum. Sie wollen möglichst unbeschadet durch die Krise kommen. Statt auf Wirtschaftswachstum stehen die Zeichen nun auf Rezession. Viel wird davon abhängen, wie sehr sich die Wirtschaft bis 2022 wieder erholen kann.

Der Fidesz muss, wie jede Regierung in dieser Krise, eine dreifache Leistung zeigen, um die Wähler zu überzeugen: Die Epidemie eindämmen, die Wirtschaft retten und den Verlust an Arbeitsplätzen so gering wie möglich halten. Was die Epidemie betrifft, scheint das zu gelingen – das Schlimmste scheint überwunden, zumindest vorerst. Was den Rest betrifft, setzt der Fidesz bei den Unternehmen an, mit Steuererleichterungen und Krediten, sowie staatlicher Unterstützung für Kurzarbeit in notleidenden Betrieben.


Der Fidesz konnte zulegen

Für den Wahlkampf wird aber die entscheidende Frage sein, wie schlimm die Krise die Arbeitnehmer trifft. Hier positioniert sich die Opposition mit Forderungen nach einer Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (derzeit drei Monate). Schritte in diese Richtung gehen aber gegen die ganze Philosophie des Fidesz und wären zudem nach der Epidemie nur schwer wieder rückgängig zu machen.

Dies ist der innenpolitisch wichtigste Aspekt der gesamten Krise, und ob die Opposition oder die Regierungspartei einen Vorteil erringt, wird davon abhängen, wie viele Arbeitslose es 2022 geben wird – solche ohne Arbeitslosengeld. Massenarbeitslosigkeit ohne Einkommensersatz für die Betroffenen tut keiner Regierung gut.

Vorerst aber sieht es gut aus für den Fidesz. Die jüngste Umfrage des (regierungsnahen) Nézőpont-Instituts sieht die Partei bei 54 Prozent der „sicheren“ Wähler, und die Oppositionsparteien bei nur 38 Prozent. Das ist im Vergleich zum Jahresbeginn ein leichter Anstieg für den Fidesz (drei Prozent mehr), und ein deutlicher Verlust für die Oppositionsparteien.

Es betrifft aber nur die Listenwahl und sagt nicht viel über die Lage in den einzelnen Wahlkreisen. Innerhalb des Oppositionslagers sieht die Umfrage die liberale „Momentum” als stärkste Kraft, mit 13 Prozent der „sicheren“ Wähler. Vielleicht profitiert die Momentum davon, dass das innenpolitische Kräftemessen in der Epidemie bislang vor allem zwischen dem Fidesz und den Linksparteien MSZP-Párbeszéd sowie der „Demokratischen Koalition” (DK) stattfand. Gegen die „Momentum” hat der Fidesz in der politischen Kommunikation noch kein wirklich wirksames Mittel gefunden, aber das ist vielleicht auch nicht nötig – solange die Anziehungskraft der Momentum auf die gebildeteren Schichten der Universitätsstädte begrenzt ist.

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