Die Lage verändert sich derzeit im Tages- und Wochentakt; es fällt nicht leicht, die Übersicht zu bewahren. So haben nun auch die Handelsbanken die Einschätzung abgegeben, die Regierung müsste mehr tun, um die Krise aufzufangen (mit dem Krisenmanagement der Notenbank ist eine große Mehrheit derweil zufrieden). Auf längere Sicht erscheint nicht mehr länger der Dienstleistungssektor (mit dem kompletten Tourismus- sowie Gastgewerbe, mit Kultur und Sport) als Problembranche Nummer 1, sondern jene Automobilindustrie mit ihrem breiten Hinterland an Zulieferern, die hierzulande ins strategische Zentrum der Wirtschaftspolitik gehoben wurde.

Nach den Herausforderungen Schadstoffemissionen und e-Mobilität muss die Vorzeigebranche in der Corona-Krise mit gestörten Lieferketten und wohl weit über die Krise hinaus mit einem umfassenden Nachfrageschock kämpfen. Das Weltwirtschaftsinstitut an der Akademie der Wissenschaften rechnet mit einem Produktionseinbruch von einem Drittel und einer bis 2022 andauernden Regenerationsphase. Nach dem Ausfall durch corona-bedingte Werksschließungen trifft die weiterhin stockende Fertigung (weil der Produktionsanlauf nur im Einschichtmodus und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen geschieht) eine außerordentlich exportorientierte Branche, die einschließlich des Zuliefererhinterlands bisher knapp fünfzehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftete. Die neuen Abstandsregeln dürften derweil den Automatisierungsprozess beschleunigen, Roboter zunehmend mehr Arbeitsplätze ersetzen.


Viele Einkommen brechen weg

Ob den Unternehmen der Automobilindustrie die neuartigen Regelungen zum Kurzarbeitergeld helfen können, muss sich erst noch zeigen. Das hierzulande bislang vollkommen unbekannte Instrument ist seit dem 1. Mai für einen Zeitraum von (zunächst) drei Monaten wirksam. Die ersten einigen hundert Anträge gingen vorige Woche hauptsächlich von Klein- und mittelständischen Unternehmen ein. Daneben wurden Anträge zum Schutz von Mitarbeitern in den Segmenten Forschung, Entwicklung und Innovationen gestellt, für die eine spezielle Regelung der staatlichen Lohnzuschüsse gilt. Alles in allem beschränkte sich der Andrang vor dem offiziellen Startschuss aber auf Firmen mit weniger als zehntausend Arbeitnehmern. Weil vor allem kleinere Firmen vor dem vermeintlichen bürokratischen Aufwand zurückschrecken, betont das Ministerium für Innovationen und Technologien (ITM), die Antragsformulare seien übersichtlich gehalten und beschränkten sich auf eine einzige Seite.

Bekanntlich hatte die Regierung die erste Regelung zum Kurzarbeitergeld nach massiven Protesten aus der Wirtschaft deutlich nachgebessert, was von repräsentativen Verbänden und Kammern wie der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer (DUIHK) begrüßt wurde. Nun wird ein Lohnzuschuss bereits bei Kurzarbeit von zwei an Stelle der normalen acht Stunden täglich gewährt, aber auch für Tätigkeiten im Homeoffice sowie für Leiharbeitskräfte. Das scheint dringend nötig, denn wie eine globale Studie der Generali-Versicherung zeigt, mussten 63 Prozent der befragten Ungarn bereits Ende März Einkommenseinbußen hinnehmen, und sogar 78 Prozent befürchteten, dass sich ihre Einkommenslage weiter verschlechtern wird.

Den Leiharbeitskräften bringt die Regierung in der Krise urplötzlich große Aufmerksamkeit entgegen. So sehr, dass eine Firma, die als Vermittler solcher Arbeitskräfte im großen Stil auftritt, nun zum strategischen Partner auserkoren wurde. Außenwirtschaftsminister Péter Szijjártó war sich nicht zu fein, die Unterzeichnung des feierlichen Dokuments mit dem Geschäftsführer der Prohumán Kft. persönlich vorzunehmen. Wie Geschäftsführer Sándor Zakor verriet, gehört Prohumán zu den zehn größten Arbeitgebern in Ungarn. Mit 85 Unternehmen hat die Orbán-Regierung bislang vergleichbare Vereinbarungen getroffen, bei denen es sich überwiegend um die hiesigen Tochtergesellschaften multinationaler Konzerne handelt. So manche dieser strategischen Partner haben sich in der Corona-Krise unter den ersten Abwehrmaßnahmen zur Reduzierung der drohenden Verluste von Leiharbeitskräften getrennt. Wenngleich der Prohumán-Geschäftsführer dem Minister versprach, mit Hand anzulegen, dass so wenig Arbeitsplätze wie möglich verloren gehen, dürfte der Fokus anderswo liegen: in einer effizienten Zusammenarbeit beim Neustart der Wirtschaft.


Zentral gefördert, zentral gelenkt

Der Ministerpräsident hat wiederholt versprochen, so viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, wie das Virus vernichtet. Seine Fachleute im ITM würden das lieber die Wirtschaftsakteure richten lassen, doch weil sich der Markt in Krisenzeiten nicht von alleine einrenkt, tritt der Staat vorübergehend in den Vordergrund. Welche Vorstellungen Viktor Orbán konkret hat, umriss er mit Worten wie „bezahlte Umschulungen“ oder „öffentliche Arbeitsprogramme“. Mit den nicht nur zentral geförderten, sondern auch zentral gelenkten Umschulungen möchte die Regierung einen Wandel am Arbeitsmarkt forcieren, wie sie diesen mit der Reform der Erwachsenenbildung sowie der Berufsausbildung seit langem anstrebt. Die öffentlichen Arbeitsprogramme wurden einst geschaffen, um bis zu einer Viertelmillion Menschen in ein geregeltes Arbeitsleben (zurück-) zu führen.

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Kaum zu glauben, aber wahr: Die Armee bewährt sich derzeit auch im Brückenbau. (Foto: kormany.hu/ Károly Árvai)

Nach Auskunft von Kanzleramtsminister Gergely Gulyás werden derzeit noch 83.000 Personen auf diese Weise beschäftigt; das Statistikamt KSH hatte die Zahl der sogenannten ABM-Kräfte im I. Quartal mit durchschnittlich 105.000 Personen angegeben. Gulyás rechnet wegen der Krise mit wieder steigenden Zahlen, denn die neue Arbeitslosigkeit trifft Hilfsarbeiter und angelernte Kräfte überproportional. Wahrscheinlich werden diese Leute nicht den statistischen Durchschnittslohn von netto 250.000 Forint im Monat verdient haben, den das KSH auf Volkswirtschaftsebene ermittelte. Die seit Jahren eingefrorene Entgeltleistung der öffentlichen Arbeitsprogramme von netto 54.100 Forint im Monat rangiert jedoch näher an der Sozialhilfe, als am Existenzminimum.


Fünftausend Arbeitslose täglich

Darin offenbart sich ein Widerspruch in der von Orbán verfolgten Anschauung, eine auf Arbeit basierende Gesellschaft zu schaffen. Die verschwindend geringfügige Bezahlung der ABM-Kräfte wurde vor Jahren vom Mindestlohn abgekoppelt, ganz einfach um die Anreize für einen Wechsel auf den primären Arbeitsmarkt zu erhöhen. Nun aber sollen die öffentlichen Arbeitsprogramme wieder Massen aufnehmen, die in der Krise entbehrlich wurden. Bei den Arbeitsämtern haben sich im März knapp 60.000 Menschen als arbeitslos gemeldet – die aufgeschlüsselten Monatszahlen wurden von der Behörde ohne jede Erklärung mit dreiwöchiger Verspätung präsentiert.

Der Präsident der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK), László Parragh, geht derweil von täglich vier- bis fünftausend neuen Arbeitslosen und somit einer rasant anwachsenden Arbeitslosigkeit aus. „Es ist allgemeine Praxis, dass Firmen das Eingestehen von Zahlungsschwierigkeiten und erst recht einen drohenden Bankrott bis zum Äußersten hinauszuzögern versuchen, um ihren guten Ruf zu wahren, solange es irgendwie geht“, sagte Parragh der linken Tageszeitung „Népszava“. Deshalb brauche es seine Zeit, bis wir einen Überblick über die tatsächliche Lage in der Corona-Krise erhalten werden. Der Kammerpräsident sieht als erste die im Ausland beschäftigten Ungarn betroffen, die wegen der Grenzschließungen nach Hause geschickt wurden. Da reden wir von mehreren hunderttausend Menschen. Er räumte ein, dass die Höhe des Arbeitslosengeldes und dessen auf drei Monate beschränkte Dauer große existenzielle Probleme bereiten werden.


Wasserwirtschaft und Armee rufen

Aus der offiziellen Prognose der Regierung im überarbeiteten Konvergenzprogramm lässt sich derweil verhaltener Optimismus herauslesen. Obgleich die Beschäftigungsquote im vergangenen Jahr auf ein Rekordhoch kletterte und parallel die Erwerbslosenquote auf ein Rekordtief fiel, soll letztere im laufenden Krisenjahr „nur“ auf 5,6 Prozent zulegen und die Beschäftigtenzahl „nur“ um 1,8 Prozent fallen. Bereits im Jahre 2021 soll die Erwerbslosenquote wieder auf 4,3 Prozent gedrückt sein, 2022 auf 3,7 Prozent und bis 2024 mit 3,3 Prozent auf ein Vorkrisenniveau zurückkehren. Das ist eine etwas anderslautende Interpretation der „persönlichen Garantie“, die der Ministerpräsident für die Neuschaffung sämtlicher durch das Coronavirus zerstörter Arbeitsplätze verkündete. Weil demnach selbst die Regierung nicht daran glaubt, dass „es der Markt richten wird“, winken also öffentliche Arbeitsangebote in der Wasserwirtschaft oder bei der Armee – letztere Offerte hat Orbán speziell für „lebenskräftige“ junge Leute angepriesen.

Der Wirtschaft wird nun aber auch mit mehr Geld unter die Arme gegriffen, denn mit dem Konvergenzprogramm hat die Regierung ihre steife Haltung hinsichtlich der Neuverschuldung letztlich doch aufgegeben. So wird bei einer um drei Prozent schrumpfenden Wirtschaftsleistung ein Haushaltsdefizit von 3,8 Prozent angesetzt, wieder gut ein Prozentpunkt mehr, als zuletzt offiziell kommuniziert. Das Rettungspaket wird im Staatshaushalt auf 2.100 Mrd. Forint oder viereinhalb Prozent der Wirtschaftsleistung veranschlagt, wovon die außerordentlichen Gesundheitsausgaben bislang 600 Mrd. Forint verschlungen haben, während der Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft aus 1.350 Mrd. Forint finanziert werden soll. Dabei will der Staat für die Schaffung neuer Arbeitsplätze mehr Geld als zur Finanzierung der Kurzarbeit in die Hand nehmen.

Nach anfänglichem Widerstand schluckte der Regierungschef zwar die vom Innovationsministerium auf Druck der Verbände und Kammern verabreichte Kröte des deutschen Kurzarbeitergeldes; aber natürlich nur, indem das Modell den ungarischen Verhältnissen angepasst wurde. Die Hauptrolle in der Krisenbewältigung auf die ungarische Art wird aber nicht dieses Modell spielen, sondern der „Neustart der Wirtschaft“. Noch befindet sich dieses Programm in der Ausarbeitung. Wir wissen aber mittlerweile, dass der Finanzminister im Staatshaushalt den wie auch immer angeschobenen Neustart mit vier Mal mehr Geld unterlegt, als zur Stützung der Kurzarbeit fließen soll. Ungarn geht wie so oft den eigenen Weg.

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