„Gleich direkt nach der Kommunalwahl und seinem Einzug ins Rathaus trafen wir uns mit Gergely Karácsony zu einem ersten Gespräch”, erinnert sich Gábor Kürti, genannt Kükü. Der Vorsitzende des Ungarischen Radfahrerclubs (Magyar Kerékpárosklub) hatte zwei große Themen für das Treffen mit dem OB im Blick. Zum einen wollte er wissen, was aus dem VEKOP-Geld (Programm für ein wettbewerbsfähiges Mittelungarn) geworden ist, zum anderen „wollten wir, dass ein umfassendes Netz an fahrradfreundlichen Verbindungen entsteht.”

Im Rahmen des VEKOP waren in Budapest acht Milliarden Forint für fahrradfreundliche Stadtentwicklungsprojekte ausgeschrieben. „Das Problem war nur, dass die Bezirke jeder für sich gearbeitet haben.” Nur wenige Projekte, wie beispielsweise der Radweg von Rákospatak, der bis an die Stadtgrenze führt, gingen über die Zuständigkeiten eines Bezirks hinaus. „Wir wollten vor allem wissen, wie es um dieses Erbe aus der Tarlós-Zeit stand, denn von vielen Projekten hatten wir nichts mehr gehört oder wurden erst in den Prozess einbezogen, als eigentlich schon alles entschieden war”, erzählt Kürti.


Neue Radspuren

Er sieht die bisherigen, durchaus positiven Entwicklungen im Rad-Stadtbild als Schritt in die richtige Richtung, „aber wir haben jetzt eine Glasdecke erreicht. Da, wo es nicht weh tat, wurden den Radfahrern Zugeständnisse gemacht”, so Kürti. Für umkämpftere Straßen, wie etwa die Bartók Béla oder Váci út, habe bisher aber der Wille gefehlt.

Das könnte sich nun ändern. Denn jetzt, da der Autoverkehr dramatisch zurückgegangen ist – und auch das Wetter mitspielt –, steigen immer mehr Leute aufs Rad um und neue Radspuren entstehen. „Es gibt für Budapest einen sogenannten Mobilitätsplan, der besagt, dass bis 2030 zehn Prozent des Personenverkehrs mit dem Fahrrad geschehen sollen. Das bedeutet, dass es in der Innenstadt etwa so viele Räder wie Autos geben müsste.”

Bisher habe sich aber niemand wirklich getraut, den Autofahrern Spuren wegzunehmen. „Wir haben einen Stillstand erreicht”, erklärt Kürti. Mit der neuen Stadtführung scheint jedoch ein entschiedenes Vorgehen möglich.

Der Radfahrerclub-Vorsitzende erinnert sich: „Sie haben fast alle unsere Vorschläge angenommen. Wir waren selbst ganz erstaunt.” Doch neben dem erkennbaren Willen des Oberbürgermeisters ist es auch unbestreitbar die aktuelle Coronavirus-Krise, die der Radnutzung nun Vorschub leistet. „Die Pandemie brach los, und plötzlich waren die Straßen leer. Dávid Vitézy (Anm.: früherer Geschäftsführer des Nahverkehrszentrums BKK) war vielleicht der erste, der auf Facebook einen Beitrag darüber veröffentlichte, dass in New York leere Autospuren den Radfahrern übergeben wurden.” Der Post wurde mehr als 100 Mal geteilt und auch von den Medien aufgegriffen.

Einer, der noch weiterging, war Áron Halász, Vize-Vorsitzender des Radfahrerclubs. Mit dem festen Entschluss, so etwas auch in Budapest Wirklichkeit werden zu lassen, setzte er sich mit dem Budapester Rathaus in Verbindung – und traf auf offene Ohren.

„Fast umgehend begann man mit der Planung. Und diese Pläne wurden dann auch wahnsinnig schnell umgesetzt”, so Kürti. Die Bartók Béla und die Üllői út gehörten zu den ersten beiden verkehrstechnischen Hauptschlagadern, auf denen den Autos jeweils eine Spur weggenommen, den Radfahrern dafür aber eine eigene geschaffen wurde. Auf der Üllői út ist diese Radspur sogar mit Betonblöcken abgegrenzt, um den Zweirädern auch wirklich den nötigen Raum zu sichern. Vorerst will Kürti jedoch noch nicht die Sektkorken knallen lassen: „Das sind alles erst einmal nur vorläufige Spuren. Wir wissen noch nicht, was dauerhaft ist und was am Ende der Corona-Krise wieder abgeschafft wird.”


Coronavirus: Radfahren ist sicher

Jetzt geht es für Kürti vor allem darum, möglichst viele Menschen in den Sattel zu bringen: „Wir haben natürlich Erhebungen dazu, wie sehr es bei der Entscheidung gegen das Fahrrad eine Rolle spielt, dass die Menschen Angst vor dem Autoverkehr haben. Mit dem Wegfall eines großen Teils des Verkehrs und wirklich konsequenten Radspuren kann dieser Angst aber jetzt begegnet werden.”

Kürti ist sich sicher, dass selbst bei einer schrittweisen Öffnung des öffentlichen Lebens in den kommenden Wochen das Fahrrad die attraktivere Alternative bleibt: „Wir stehen jetzt im Wettlauf mit der Zeit, denn nur, wenn viele Leute die neuen Radspuren nutzen, besteht die Chance, dass diese auch in Post-Corona-Zeiten Bestand haben werden.”

Doch wie verhält es sich eigentlich mit der Ansteckungsgefahr beim Radeln? „Die anderthalb Meter Mindestabstand sind auf dem Rad eh gegeben”, weiß Kürti als erfahrener Radfahrer. Und wie steht es um die „Wolke” ausgeatmeter Viruspartikel, die ein Radfahrer hinterlassen könnte? „Selbst die Forscher, die diese Hypothese publiziert haben, sagten ganz klar, dass das nur eine Hypothese ist und kein untersuchter und bestätigter Fakt. Wenn sich das Virus wirklich über derartige ‚Wolken‘ ausbreiten würde, wären vermutlich wesentlich mehr Kassierer und Nutzer des ÖPNV infiziert.”

Laut Kürti ist und bleibt das Rad die beste Alternative, wenn es um individuelle Beförderung geht. Noch dazu ist man mit dem Drahtesel ökofreundlich unterwegs. Im Gegensatz zu Autostraßen haben Radwege außerdem kein oberes Nutzungslimit, Staus auf Radwegen seien, so Kürti, bisher noch nie vorgekommen.


Parkplatzchaos macht das Leben schwer

Weniger gut sieht die Situation derweil für Autobesitzer in den innerstädtischen Bezirken aus. Mit der Streichung der Parkgebühren ist die ohnehin angespannte Parkplatzsituation jetzt unerträglich geworden. Viele Anwohner sind genervt.

Davon betroffen ist auch Véra Somfai. Die junge Frau lebt in der Nähe des Budapester Stadtwäldchens. „Hier ist die Parksituation seit der Schließung des Parkplatzes auf dem Ötvenhatosok tere besonders schwer.” Tagsüber könne man das Auto durchaus noch nutzen – und auch wieder abstellen, aber nach 18 Uhr müsse man bei der Parkplatzsuche ein wachsames Auge und starke Nerven haben. „Das nächste Parkhaus, das auch Stellplätze vermietet, befindet sich anderthalb Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Seit es keine Parkgebühren mehr gibt, ist es aber quasi unmöglich geworden, dort tagsüber einen Parkplatz zu finden.” Auch die Polizei mache die Situation nicht einfacher. Laut Somfai sei diese gerade besonders „scharf“ dabei, Strafzettel zu verteilen – selbst an jene Autofahrer, die nur kurz anhalten, um etwas auszuladen.

Noch auffälliger sei die Situation jedoch im Herzen der Innenstadt, so Somfai: „Ich habe bis vor Kurzem noch am Blaha Lujza tér gewohnt. Wenn dort die Bars und Restaurants schlossen, war die Stadt wie leergefegt und man konnte pro Straßenecke noch wenigstens ein oder zwei Parkplätze finden.” Doch seitdem keine Parkgebühren mehr erhoben werden, sei auch damit Schluss.

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Fahrradkuriere haben derzeit Hochkonjunktur. Einige von ihnen hängen nach ihrer Schicht auch noch ein paar Kurierfahrten für wohltätige Zwecke dran.


Doch nicht nur für Anwohner ist die Parkplatzsuche ein ständiges Ärgernis. Auch Kurierfahrer Attila Gál, genannt Galád, ist genervt: „Ich nehme sowohl als Fahrrad- als auch Autokurier am Verkehr teil, und momentan ist es wirklich manchmal nervenaufreibend, wenn man mit dem Auto Runde um Runde dreht, weil die zwei Entladeplätze bereits von jemandem belegt sind, der ‚eben nur kurz was auspacken will‘.“


Das „Rotkäppchen-Kommando”

Gemeinsam mit Kürti und einem weiteren Fahrradkurier des Lieferunternehmens Hajtás Pajtás, Gábor Bella, hat Gál das „Rotkäppchen-Kommando” gegründet. Alle drei waren sich von Beginn der Krise an einig, dass sie ihre Hilfe in Form von Lieferdiensten anbieten wollen. Im firmeneigenen Chat präsentierten sie die Idee ihren radelnden Kollegen. Schon kurz darauf waren sie erst im Auftrag des VI. und mittlerweile auch des IX. Bezirks unterwegs. Was sie transportieren? „Alles, was anfällt, von Lebensmittellieferungen an Senioren über Textilien zu freiwilligen Näherinnen bis zu fertigen Masken an Sozialeinrichtungen.” Gáls Aufgabe reicht gar noch weiter: „Ich bringe mittlerweile auch oft Näherinnen und Krankenhäuser in Kontakt. Wir können ihre Arbeit enorm beschleunigen, indem wir Grundstoffe hin- und hertransportieren.”

Auf die Frage, warum er dies neben seinem ohnehin anstrengenden – und derzeit nicht ungefährlichen – Job noch macht, zuckt der Kurierfahrer mit den Schultern: „Klar könnte ich jetzt hochtrabende Reden schwingen, aber die Wahrheit ist: Ich mache es, weil es sonst keiner macht. Momentan hat sich ein solcher gesellschaftlicher Zusammenhalt entwickelt, dass ich es einfach als meine Pflicht empfinde, zu helfen. Und da es niemanden gab, dem ich mich hätte anschließen können, hab ich mich halt an die Spitze stellen müssen.” Mit Ausnahme weniger Tage und der Wochenenden hat Gál seit Beginn der Krise jeden Tag noch bis zu drei Stunden nach Dienstschluss in diese Arbeit gesteckt. Er koordiniert die Helfer oder schwingt sich auch selbst in den Sattel. „Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, wie vielen Menschen wir helfen können”, sagt er. Mittlerweile hätten sich drei weitere Kurierfirmen der Aktion angeschlossen. Gemeinsam sind sie unterwegs, um all jenen zu helfen, die es am meisten brauchen.

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