Am Montag stellte sich Viktor Orbán im Parlament den kritischen Fragen der Opposition. Neben allgemein gehaltenen Vorwürfen, seine Regierung absolviere ein schlechtes Krisenmanagement, wurde der Ministerpräsident vor allem mit der wenig berauschenden Entwicklung am Arbeitsmarkt konfrontiert. Dass die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen, zeige nun mal an, wie wenig effizient die Abwehrmaßnahmen zur Bewahrung der Arbeitsplätze seien. Die Opposition fordert wie gehabt Direktbeihilfen für die Krisenopfer sowie ein erhöhtes und verlängertes Arbeitslosengeld. Unter dem Fidesz wurde das Arbeitslosengeld auf drei Monate gekürzt – so schlecht sind die Arbeitnehmer, wenn sie erst ihren Job verloren haben, in keinem zweiten Land in der Europäischen Union gestellt.


Job verloren, raus aus der Statistik

Orbán hat sich immer damit gebrüstet, Ungarn mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes besser im europäischen und globalen Wettbewerb aufgestellt zu haben. Die Flexibilität haben naturgemäß die Arbeitnehmer sicherzustellen. Dazu gehört auch, dass sich die Zahl der am Arbeitsmarkt verfügbaren, also wirtschaftlich aktiven Magyaren seit 2010 um nahezu eine Million auf vier­einhalb Millionen Menschen erhöht hat. Die Neigung zu arbeiten wird im heutigen Ungarn dadurch bestärkt, dass die Sozialtransfers massiv abgebaut wurden. Das ging so weit, dass mittlerweile von den offiziell bei den Arbeitsämtern landesweit registrierten Arbeitslosen die Hälfte keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat.

Die Zahl der Arbeitslosen war im Monat März relativ verhalten auf 281.000 Personen gestiegen. Das waren nur 17.000 mehr als im Februar, und nur gut 31.000 mehr, als noch Ende Januar registriert. Zur gleichen Zeit ermittelte das Zentralamt für Statistik (KSH) eine durchschnittliche Erwerbslosenquote von 3,7 Prozent für den Zeitraum Januar-­März. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine Schätzung auf der Basis der ILO-Definition. Diese Quote hat sich binnen drei Monaten um nahezu einen halben Prozentpunkt vom historischen Tiefpunkt entfernt, der im vierten Quartal letztmalig mit 3,3 Prozent markiert worden war. Aktuell gelten ungefähr so viele Menschen in Ungarn als erwerbslos, wie das vor einem Jahr der Fall war. Gleichzeitig geht das KSH wegen der im März ausgebrochenen Corona-Krise davon aus, dass allein im letzten Monat 56.000 Ungarn ihren Job verloren haben. Von denen meldeten sich aber nur rund zweitausend als arbeitslos, die große Mehrheit verschwand gleich wieder im inaktiven Status.


Schwache Regionen noch schwächer

Parallel sank die Beschäftigungsquote im Quartalsvergleich um rasantere 0,7 Prozentpunkte und liegt nun wieder unter dem auch in der EU stolzen Wert von siebzig Prozent. Nachdem vier­einhalb Millionen Ungarn in Lohn und Brot standen, wollte Orbán endlich auch die von den Tschechen vorgelebten fünf Millionen meistern – diese Pläne hat das Virus allerdings vorerst durchkreuzt. Ohnehin wird die Beschäftigungsstatistik seit Jahren durch die in den öffentlichen Arbeitsprogrammen und im Status „auf Auslandsentsendung“ gezählten Personen verschönt. Gegenwärtig werden mehr als zweihunderttausend Ungarn in diesen beiden Rubriken geführt. Wie die Krise all diese Zahlen durcheinanderwürfeln wird, dazu gibt es momentan bestenfalls vage Vermutungen. Immerhin zeigte der März als „halb-­infizierter“ Monat bereits Abweichungen zum Vormonat Fe­bruar, die wenig Gutes verheißen lassen.

So fiel die Beschäftigungsquote im Kreis der 15-64-Jährigen um einen Prozentpunkt. Das Beschäftigungs­niveau hielt sich dort am besten, wo der Arbeitsmarkt schon bislang besonders robust war: in Budapest und West-Trans­danubien. Umgekehrt fiel die Beschäftigungsquote in Süd-Transdanubien, wo es schon vor der Krise die schlechtesten Voraussetzungen gab, drei Mal so schnell, wie im Landesdurchschnitt. Im Nordwesten Ungarns ist eine Erwerbslosenquote um zwei Prozent charakteristisch, in Süd-Transdanubien nahm diese – nachdem das KSH dort mit 23.000 gestrichenen Jobs kalkulierte – um ein Drittel auf über sechs Prozent zu. In der besonders strukturschwachen Nördlichen Tiefebene im Nordosten des Landes sollen im März 20.000 Arbeitsplätze weggefallen sein. Demnach hätten sich in der Krise drei Viertel der Verwerfungen am Arbeitsmarkt in diesen zwei von insgesamt sieben statistischen Regio­nen bemerkbar gemacht. Am hintersten Ende der Lieferketten, wo die Wertschöpfung begrenzt ist und weniger Kapital zur Verfügung steht, hat die Krise also gleich in den ersten Wochen durchgeschlagen.


Entlassungen zu Hunderten

Längst beschränkt sich die Entlassungswelle nicht mehr auf Kleinfirmen und Selbständige, die keine Rücklagen für eine Zeit des Totalausfalls bilden konnten. Während die Statistik den Stand bis Ende März abbildet, mehrten sich im Monat April Meldungen von Massenentlassungen bei Großunternehmen. Magyar Suzuki in Esztergom schickte 600 Leiharbeitskräfte nach Hause, bei Bosch in Hatvan traf das gleiche Schicksal 700 Leiharbeitskräfte; bis Jahresende werden außerdem bis zu 130 Büromitarbeiter entlassen. Der deutsche Tier-1-Zulieferer leidet unter der globalen Krise der Automobil­industrie und rechnet auch nach dem Ende der Corona-Krise mit keiner schnellen Erholung am Weltmarkt.

Budapest Airport wollte keine konkreten Zahlen zum Stellenabbau nennen, verweist aber auf den fast totalen Stillstand. Dieser stehe in keiner Relation zu einem Personal, das zuletzt 16 Mio. Passagiere abfertigte und in diesem Jahr ein Rekordvolumen von 17 Mio. Reisenden bewältigen sollte. Die nachgebesserten Regelungen zum Kurzarbeitergeld wird das Unternehmen voraussichtlich in Anspruch nehmen können, was viele Jobs retten könnte. Auf Kurzarbeit stellt auch Denso in Székesfehérvár um: Voraussichtlich bis Ende September wird eine 32-Stunden-Woche im Dreischichtsystem absolviert, mit einem Arbeitsrhythmus von Montag bis Donnerstag, gefolgt von einem dreitägigen Wochenende. Für die Rettung der Arbeitsplätze willigten die Gewerkschaften auf 20 Prozent Lohnverzicht ein.

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Große Investitionsprojekte wie das Batteriewerk von Samsung in Göd – Ministerpräsident Viktor Orbán (M.) bei einer früheren Übergabe – besitzen größte Relevanz für eine erfolgreiche Krisenbewältigung. (Foto: MTI / Zsolt Szigetváry)

Seit der Deutsche Jörg Bauer den ungarischen Traditionsbetrieb Tungsram vor zwei Jahren der US-amerikanischen GE Lighting abkaufte, erlebt das MBO mit 4.000 Mitarbeitern seine erste Krise. Tungsram gab Anfang der Woche ein Programm zum Schutz der Arbeitsplätze bekannt, das Kurz­arbeit von 32 Wochenstunden mit dem Verzicht auf die ursprünglich ab April vorgesehenen Lohnerhöhungen und einer Streichung von Cafeteria-Leistungen kombiniert, um die Stammbelegschaft zusammenzuhalten. Das Management verzichtet sogar auf ein Viertel des Gehalts, um die bei 30-40 Prozent erwarteten Umsatzeinbußen abzufedern. Bauer rechnet nicht vor 2021 mit einer Erholung des Weltmarktes für Lichtquellen.

Mit der allgemeinen Marktentwicklung unabhängig von der Pandemie erklären Electrolux und Continental zumindest einen Teil des Stellenabbaus. Die Schweden haben die Fertigung von Kühltruhen in Jászberény eingestellt, was 110 Arbeitsplätze beseitigt. Bis August läuft am gleichen Standort die Fertigung von Staubsaugern aus – auch dies gemäß einer noch 2019 getroffenen Entscheidung. Contitech beendet bis September die Produktion von Kühl- und Heizungssystemen in Nyíregyháza und streicht deshalb rund 130 Jobs. Im Hintergrund dieser Entscheidung steht die Umstellung der Automobilindustrie auf Elektroautos.

„Probleme gar nicht so groß“

Da können noch so viele Unternehmen Massenentlassungen verkünden, Innovationsminister László Palkovics zeigt sich dennoch ausgesprochen optimistisch. In einem Interview für die konservative Tageszeitung Magyar Hírlap erklärte er dieser Tage frei her­aus, die Probleme in der heimischen Volkswirtschaft seien gar nicht so groß, wie das viele darzustellen versuchen. Mit der erfolgreichen Umsetzung des neuen Aktionsplans zum Schutz der Wirtschaft werde es einen zügigen Neustart der Wirtschaft geben. „Es ist nun an der Zeit, das normale, gewohnte Leben der Menschen und den Zustand der Wirtschaft vor der Krise wiederherzustellen“, sagte der Minister der Zeitung. Die schrittweise Lockerung sei deshalb möglich, weil das Gesundheitswesen heute weit mehr Schwerkranke versorgen kann, als das Mitte März der Fall war. Im weiteren Verlauf der Notstandslage werden die Zügel somit gelockert und nur dann wieder angezogen, sollten die Neuinfektionen außer Kontrolle geraten.

Um die Wirtschaft stehe es gar nicht so schlecht, glaubt Palkovics, der sogenannte Neustart müsse tatsächlich nur in Tourismus und Gastgewerbe vollzogen werden. Das verarbeitende Gewerbe und die Landwirtschaft habe die Krise weniger getroffen. Die Automobilindustrie laufe gerade wieder an, viele andere Branchen kamen ganz ohne Aussetzer aus. „Es mag wie eine mutige Prognose erscheinen, aber ich denke, die Industrieproduktion wird schneller wieder ins Lot kommen, als viele glauben.“ Dabei stützt er sich auf die eigenen jahrzehntelangen Erfahrungen in der Industrie, die ihm eine andere Sichtweise auf die Realwirtschaft verschafft haben, als vielen Ökonomen, die in ihrer „Schreibtischwelt“ jeden „Unsinn“ zusammentragen würden.

Der vom Ministerpräsidenten mit der Koordinierung und Steuerung des Aktionsplans zum Schutz der Wirtschaft beauftragte Innovationsminister sieht fünf Instrumente, die zwecks Bewahrung möglichst vieler Arbeitsplätze zur Anwendung gelangen. An erster Stelle nannte er im Interview die Verlängerung des Arbeitszeitrahmens auf zwei Jahre – viele Unternehmer hätten ihm versichert, dank dieser Regelung die Mitarbeiter bis Herbst halten zu können. Das zweitwichtigste Instru­ment sei das hierzulande neuartige Kurzarbeitergeld. „Einige Schlaumeier beanstanden die ständigen Feinabstimmungen dieses Systems und vergessen dabei, dass selbst die deutsche Bundesregierung die Bedingungen für die Kurzarbeit im Wochentakt anpasst“, monierte Palkovics. An dritter Stelle kommen außerordentlich attraktive Kreditkonstruktionen zum Einsatz, mit denen die Firmen mittels Lohnfortzahlungen bis zu neun Monaten die jetzige Flaute überbrücken können. Ein spezielles Instrument bilden die Lohnzuschüsse für Ingenieure in den Segmenten Forschung, Entwicklung und Innovationen, die über drei Monate hinweg vierzig Prozent erreichen. Und schließlich ordnete der Minister flugs die Senkung der Sozialabgaben um zwei Prozentpunkte ab 1. Juli in den aktuellen Maßnahmenplan ein, wenngleich diese Zusage im Gegenzug für dynamische Lohnerhöhungen lange vorher versprochen wurde. Allerdings trifft es zu, dass die daraus resultierende Entlastung um rund 160 Mrd. Forint den Wirtschaftsakteuren in Zeiten einer ausgetrockneten Liquidität unbedingt zugutekommt.


Die erste Sonderzone

Wie selbstverständlich greift die Regierung auch und gerade in diesen schwierigen Zeiten auf das Instrument der Investitionsförderung zurück, denn Investitionen schützen bestehende Arbeitsplätze oder sorgen für weitere. Ein extremes Beispiel liefert die seit Jahren laufende Standorterweiterung von Samsung in Göd vor den Toren der Hauptstadt: Das frühere TV-Gerätewerk stellten die Südkoreaner gemäß dem Zeitgeist auf die Herstellung von Batterien für Elektroautos um. Nun investiert Samsung nochmals eine gute Milliarde Euro in das Werk und verspricht eine Aufstockung der Mitarbeiterzahl von 1.600 auf 4.300 Personen. Grund genug für die Regierung, mit einer Verordnung die erste sogenannte Sonderwirtschaftszone im Lande einzurichten. Wohlgemerkt inmitten der Notstandslage und für das Werk eines Zulieferers, während Gleiches im Falle der großen Automobilwerke von Audi, Mercedes und BMW nicht bekannt ist. Nun gut, in Győr wurden alle Ausbaustufen längst vollzogen, aber Mercedes-Benz in Kecskemét hätte immer noch Potenzial zum Wachsen, und für das in Debrecen geplante BMW-Werk fließen allein rund 100 Mio. Euro in die Zubringer-Infrastruktur.

In ihrer Kommunikation konnten sich Fidesz-Politiker denn auch nicht verkneifen, auf „chaotische politische Verhältnisse“ im von der Opposition geführten Göd zu verweisen – gewissermaßen werde das für den ungarischen Arbeitsmarkt so bedeutende Projekt von Samsung „stabilisiert“, indem der Stadt alle Befugnisse entzogen wurden. Dabei geht es gar nicht bloß um die ins Schaufenster gerückte örtliche Gewerbesteuer, die per Federstrich auf die – vom Fidesz kontrollierte – Komitatsebene gehoben wurde. Die Bürger von Göd haben fortan weniger Mittel, technologische Umweltauflagen einzufordern, selbst die Zufahrtsstraßen wurden de facto verstaatlicht. Kaum waren die Weichen gestellt, bewilligte die Regierung etwa 120 Mio. Euro für eine verbesserte Anbindung des riesigen, künftig auf 120 Hektar angesiedelten Werks an die Schnellstraße M2. Die größten Positionen stellen freilich der Ausbau der Energienetze und von Kapazitäten zur Aufbereitung des Industrieabwassers von Samsung dar. Außenwirtschaftsminister Péter Szijjártó deutete in einem Interview für das Boulevardblatt „Blikk“ an, die Einrichtung der Sonderwirtschaftszone habe mit im Hintergrund laufenden Verhandlungen über Investitionen von einem Kaliber zu tun, wie sie Ungarn seit Jahren, vielleicht sogar seit Jahrzehnten nicht erlebt habe.


Beschleunigen statt begraben

Die Philosophie seiner Regierung verteidigte Ministerpräsident Viktor Orbán, wie eingangs erwähnt, zuletzt am Montag im Parlament. „Die Opposition spricht laufend davon, Geld ohne Arbeit zu verteilen. Diese Regierung möchte aber lieber Arbeitsplätze schaffen, damit die Menschen jenes Einkommen erarbeiten können, das sie für ihren Lebensunterhalt benötigen. Wir brauchen eine auf Arbeit an Stelle von Beihilfen basierende Wirtschaft.“ In dieser Fragestunde riskierte er die Behauptung, sobald die drei Monate der Arbeitslosenhilfe abgelaufen seien, werde jeder wieder in Lohn und Brot stehen. „Wir werden so viele Arbeitsplätze schaffen, wie das Virus zerstört. Es wird niemanden in Ungarn geben, der ohne Offerten aus der Wirtschaft oder von Seiten des Staates bleibt“, erklärte Orbán, ohne genauer darauf einzugehen, welche Art von Offerten sich Arbeitslose in einer Krise vorstellen müssen. Gewiss aber setzt er auf die (staatlichen) Großprojekte wie den Bau der Bahnstrecke Budapest-Belgrad, denn jetzt sei der „ideale Zeitpunkt für die Verwirklichung solcher strategischen Projekte“, die nicht begraben werden dürften, sondern im Gegenteil noch beschleunigt werden müssten.

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