Ágnes Szélpál tanzt seit ihrem achten Lebensjahr. Ihr Weg war mehr oder minder vorbestimmt, tanzten und tanzen doch auch ihre Eltern. Sie alle sind Teil des János-Bihari-­Ensembles, eines der bekanntesten und renommiertesten Volkstanzensembles in Ungarn.


Von der Pike auf gelernt

„Bei uns im Bihari-Ensemble beginnt man als Kind bei den ‚Kleinen Biharis‘. Von dort kommt man in den Nachwuchs und von dort, wenn man gut genug ist, ins Erwachsenen- beziehungsweise Auftrittsensemble”, erklärt Ágnes ihren Werdegang. Wer auftreten will, muss sich seine Sporen verdienen. „Viele Ensembles funktionieren wie offene Werkstätten, es kann sich anschließen, wer möchte und wer gut genug ist, kann auftreten. Besonders bei Uni-Ensembles ist das häufig der Fall. Bei uns läuft es allerdings etwas anders.”

Dreimal die Woche wird für zweieinhalb Stunden geprobt, wobei im Bihari nicht nur Volkstanz gelehrt wird: „Wir sind mehr ein Tanztheater. Alle Ensemblemitglieder haben neben dem Tanz noch weitere Talente, entweder eine gute Singstimme oder schauspielerisches Talent. Einige sind auch talentierte Redner”, erläutert Ágnes. Dies ist wichtig, da das Bihari mehr will, als nur Volkstanz auf die Bühne zu bringen. Bezeichnend für das Ensemble sind vielmehr Themenabende oder ganze Stücke wie „Forrószegiek”, eine volkstümliche Version von Romeo und Julia, die auf einer wahren Begebenheit beruht. Der Volkstanz ist jedoch stets das grundlegende Element – und eine gute Basis für die gebotene Vielfalt.

„In Ungarn haben wir das große Glück, dass Volkstanz, -musik und -lieder gut dokumentiert und erhalten sind”, sagt Ágnes. Als Beispiel nennt sie István Mátyás, besser bekannt unter dem Namen Mundruc (gesprochen Mundruz). „Er war ein weit über seine Region hinaus bekannter Tänzer, der bereits als junger Mann auf Film festgehalten wurde. Wir haben das große Glück, dass sein Tanz über Jahrzehnte hinweg gefilmt wurde. So können wir heute nachvollziehen, wie sich sein ‚Legényes Tánc‘ (dt.: Burschentanz) über die Zeit verändert hat.“ Mundruc, dessen Spitzname so viel wie „schneidig” bedeutet, nimmt bis heute eine wichtige Rolle im ungarischen Volkstanz ein.

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Schon in den 50er Jahren begann man damit, den Volkstanz zu dokumentieren. (Fotos: Haranghy György)

Éva Szélpál, die Mutter von Ágnes, ergänzt: „Die Bewegungen von Mundruc, die Figuren, Schritte und Sprünge, die er getanzt hat, haben sich natürlich über die Jahre verändert. Ihm stand es zu, Veränderungen im Legényes einzubauen, weil er ein authentischer Tänzer war. Er war noch einer derjenigen, die den Tanz gelebt und am Leben erhalten haben. Wir hingegen ändern heute nichts mehr. Wenn doch, dann tanzen wir es nicht mehr unter dem traditionellen Namen.”


Dokumentation ist heute nationaler Schatz

In den 50er-Jahren begann man damit, die Tänze, Lieder und Weisen der Ungarn (auch in den ehemals ungarischen Regionen wie etwa Siebenbürgen) zu dokumentieren. „Doch zu Beginn gab es noch keine wirkliche Struktur, kein Konzept in der Dokumentation”, erklärt Éva. Erst mit György Martin wurde der ungarische Volkstanz in die drei Hauptdialekte der Regionen Donau, Theiß und Siebenbürgen untergliedert, wobei jeder dieser Hauptdialekte noch zahlreiche Unterdialekte besitzt – bis hin zu den ganz speziellen Eigenheiten eines jeden Dorfes.

Der Legényes beispielsweise ist ein von einem Mann getanztes Solo und nur im Siebenbürger Dialekt bekannt. Als guter Legényes-Tänzer gilt, wer, wie es heißt, „mit seinen Füßen feinste Spitze in die Luft zeichnet”. Gemeint ist, dass der Tanz viele Sprünge und Beinschwünge enthält.

Es gibt Schritte, die in allen drei Dialekten zu finden sind, bei denen jedoch die Ausführung die Herkunft des Tänzers oder der Tänzerin verrät. Ein solcher Schritt ist der „Cifra”, eine Rechts-links-rechts-Schrittkombination, die von gesetzt bis gesprungen getanzt wird. „Je nachdem, wie hoch die Füße gehoben werden und wie hoch gesprungen wird, lässt sich feststellen, aus welcher Region der Tanzende kommt. Dafür braucht es aber immenses Hintergrundwissen und Erfahrung”, erzählt Éva lachend.

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Diese Sammlung ist heute ein Schatz, aus dem auch das Bihari-Ensemble schöpft.


All diese Eigenheiten versuchte György Martin zu dokumentieren und vor allem zu kategorisieren. Seiner Arbeit sowie der von ihm vorgegebenen Struktur ist es zu verdanken, dass das Archiv gut dokumentierter und unverfälschter ungarischer Volkstänze heute so umfangreich ist.


Blessuren gehören dazu

Ein Unterschied zwischen Volkstänzern verschiedener Regionen, den auch Laien relativ leicht erkennen können, ist die regional unterschiedliche Tracht.

Éva weiß um die Bedeutung der Kleidung: „Es ist für mich unvorstellbar, den Tanz einer Region in der Tracht einer anderen zu tanzen. Das Gewicht und der Fall der Röcke hat so starken Einfluss auf die Bewegungen und darauf, was sich ‚richtig‘ anfühlt, dass nur die Schritte und Formen der entsprechenden Region in Frage kommen.”

Je nach Region sind im Volkstanz fünf bis sechs Unterröcke aus gestärktem Leinen keine Seltenheit. Bis zu sechs Kilo kann eine solche Tracht mitsamt Oberrock und Schürze wiegen. „Natürlich gab es Vorstellungen, nach denen ich blaue Flecke hatte, aber mit den Jahren lernt man, sich so zu schnüren, dass die Röcke an ihrem Platz bleiben, ohne Blessuren zu verursachen”, sagt auch Ágnes Szélpál. Beide Frauen gestehen lachend, dass ihre Taillen nie so schmal sind wie nach einer Vorstellung.

Dabei waren die bunten, reich bestickten – und vor allem schweren – Kleider und Röcke ursprünglich nicht fürs Tanzen gedacht. „Die Trachten, die wir heute auf der Bühne tragen, waren eigentlich die Sonntagskleider, die teils über Generationen hinweg weitervererbt wurden”, erklärt Ágnes. Für das Tanzhaus, das wöchentliche Tanzvergnügen, wurden dagegen einfachere Kleider getragen.

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Die bunten Trachten waren eigentlich dem sonntäglichen Kirchgang vorbehalten, sind aber für die Bühne die richtige Wahl. (Fotos: Tóth László)

„Wir lassen außerdem auch andere Aspekte außer Acht“, erläutert die Volkstänzerin. „Die Farben und die Anzahl der Perlen auf dem Kleid hatten früher eine ganz klare Bedeutung. Der soziale Rang und der Stand ließen sich an ihnen zweifelsfrei ablesen. So trugen Frauen, je älter sie waren, umso dunklere und gedecktere Farben, während junge, noch unverheiratete Frauen farbenprächtiger daherkamen.“


Das Tanzhaus als Partnerbörse

Kein Wunder, mussten die Tänzerinnen doch so die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Im ungarischen Volkstanz – und damit auch in den Tanzhäusern – kam den Frauen eine dem Mann komplett untergeordnete Rolle zu. Während junge Burschen ihr Können auch im Alleingang präsentierten, gab es für das schöne Geschlecht keine Solotänze. Ágnes differenziert allerdings: „Die Schritte, die die Frauen tanzen, sind im Prinzip nur Reaktionen auf die Schritte des Partners und darauf, wie er führt. Wenn in einem Dorf beispielsweise die Burschen besonders schwungvoll gedreht haben, lag es an den Mädchen, diesen Schwung ‚auszuschreiten‘, also durch Schritte abzufangen und auszutanzen. Es war aber keinesfalls so, dass die Mädchen den Burschen ‚ausgeliefert‘ waren. Vielmehr war es so, dass eine gute Tänzerin häufig aufgefordert wurde und es an den Burschen war, ihr die Möglichkeit zu geben, ihr Können zu präsentieren.” Häufig waren die Tanzhäuser dazu gedacht, den jungen Leuten die Möglichkeit zu geben, erste vorsichtige Bande zu knüpfen. „Deswegen waren diese Tanzvergnügen auch nur für Unverheiratete. Wer bereits verheiratet war, der ging nicht mehr zu Tanzhäusern”, erklärt Ágnes. Verheiratete hätten dagegen vor allem bei Hochzeiten, Erntefesten und anderen sozialen Ereignissen das Tanzbein schwingen können, ergänzt Éva.

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Im Volkstanz war es Aufgabe des Mannes, die Grundlage zu bieten dafür, dass die Mädchen ihr Können präsentieren können.


Eine große Ausnahme stellen die „Karikázó”-Tänze dar. Diese nur von Frauen und von eigenem Gesang begleiteten Tänze durften sogar während der Fastenzeit getanzt werden. „In den Liedern geht es häufig um Aspekte im Leben einer Frau, allen voran um die Liebe”, so Éva. Obwohl zur eigenen Stimme getanzt, hat auch der Karikázó dynamische und schnelle Teile, welche die Tänzerinnen und Sängerinnen vor einige Herausforderungen stellen. Im ungarischen Volkstanz ist es keine Seltenheit, dass Frauen mit Frauen tanzen. „Es gab einfach nicht genügend Burschen”, sagt Ágnes lachend.


Umfassendes Wissen ist die Grundlage

Im Bihari-Ensemble werden heute nicht nur die Tänze und Gesänge der drei Hauptdialekte gelernt und gelehrt. Ágnes hat im Laufe der Jahre auch die Tänze der in Ungarn lebenden Minderheiten – etwa der Schwaben, Slowaken und Serben bis hin zu Romatänzen – gelernt. Sie erklärt: „Diese sind deswegen besonders interessant, weil die ‚Zigeunermusik‘, wie man sie heute kennt, nicht mehr viel mit ihrem Ursprung gemein hat.”

Klassisch begleiteten die Roma ihre Tänze mit Gesang, musiziert wurde dazu nicht mit Instrumenten, sondern mit „Alltagsgegenständen”, wie Löffeln oder etwa einer Milchkanne. Später kam die Gitarre dazu.

„Später waren es aber vor allem Roma, die bei Tanzhäusern aufspielten. Zur klassischen Aufstellung gehörten die Geige, die Bratsche und der Kontrabass. Und dann wurden eben Stücke der Region gespielt”, erzählt Ágnes. Besonders interessant sei es, wenn in einem Dorf zu gleichen Teilen Roma und Ungarn lebten. Beide hatten ihre eigenen Schritte und Tänze, beeinflussten sich aber auch gegenseitig.

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Bis zu sechs Kilo kann ein Kostüm wiegen, allein ein Unterrock hat bis zu fünf Meter Stoff.


Auch wenn sich vieles verändert hat – die Tradition der Tanzhäuser ist bis heute erhalten geblieben. Noch immer werden Stücke aus verschiedensten Regionen gespielt. Selbst wer kein erfahrener Tänzer oder ein kompletter Neuling im Bereich Volkstanz ist, sollte sich einmal ein Tanzhaus ansehen: „Zumeist ist es so, dass beispielsweise ab 19 Uhr eine Stunde oder anderthalb Stunden unterrichtet wird. Man lernt einen bestimmten Tanz und der kann dann selbst von absoluten Anfängern im Laufe des Abends immer wieder getanzt werden”, bekräftigen sowohl Ágnes als auch Éva.

Wer also noch nach einer neuen Herausforderung für die Zeit nach der Quarantäne sucht, der kann sich also ruhig das Erlernen eines ungarischen Volkstanzes auf seine Liste setzen.

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