Seit dem Wochenende wird der 3. Mai als „Stichtag“ kommuniziert; erst sprach Ministerpräsident Viktor Orbán dieses Datum beim Besuch eines Krankenhauses auf dem Lande an, dann bekräftigte Landesamtsärztin Cecília Müller diese Prognose der Experten auf ihrer täglichen Online-Pressekonferenz der operativen Einsatzleitung. Nach dem für Anfang Mai erwarteten „Höhepunkt“ der durch das neuartige Coronavirus ausgelösten Krise soll es mit den Neuinfektionen auch hierzulande langsam, aber sicher bergab gehen. Diese Einschätzung ist in erster Linie für die Belastungszahlen und die damit zusammenhängende Belastbarkeit des Gesundheitswesens von Relevanz.

Solange man nicht wirklich weiß, welcher Patientenwelle die Kliniken ausgesetzt sein können, muss die Wirtschaft ein Schattendasein fristen. Die einfache Erklärung dafür lautet, dass Ungarn eine Triage – das abschreckende Beispiel Norditaliens und weiterer westlicher Länder vor Augen – um jeden Preis vermeiden will. Ohne Rückschläge in der Entwicklung der Infektionskurve wird der Monat Mai schrittweise Lockerungen bringen. Längst in der Planung befinden sich die Prüfungen zur mittleren Reife sowie die Abschlussprüfungen für die Azubis in den Betrieben. Dazu heißt es von den zuständigen Ministerien, das Leben gehe weiter, die Zukunft liege vor den jungen Menschen. Auf der einen Seite soll der Studienbetrieb mit Erstsemestern im Herbst wie gewohnt anlaufen, zum anderen braucht die Wirtschaft für den Neustart nach dem Coronavirus junge Fachkräfte.


Niemand weiß, wie tief es geht

Die Wirtschaft mochte sich in der Corona-Krise von der Orbán-Regierung einigermaßen im Stich gelassen fühlen. Abgesehen von der gewissermaßen im ersten Augenblick verkündeten Kreditstundung werden im Staatshaushalt nach Darstellung von Finanzminister Mihály Varga „nur“ rund 2.000 Mrd. Forint (5,5 Mrd. Euro) bewegt. Die Regelung zum Kurzarbeitergeld wirkte derweil verspätet, völlig bürokratisch und zu kurz greifend – wie die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) als einer der strategischen Konsultationspartner des Ministeriums für Innovationen und Technologien (ITM) in einem gesonderten Artikel in dieser Magazin-Ausgabe darlegt, scheint die mittlerweile vollzogene Nachbesserung aber nun doch die meisten Wünsche zufriedenzustellen. Zwei Wochen sind seit der Ankündigung des größten Rettungspakets aller Zeiten ins Land gegangen, in denen es reichlich Kritik hagelte, während sich die Regierung daran machte, die dem Paket zugrunde liegende Philosophie zu kommunizieren. Das war auf jeden Fall vonnöten, wenn man schon mit den zaghaften, punktuellen und jeden sozialen Ansatz vermissenden Maßnahmen keine Blumentöpfe gewinnen konnte.

Erinnern wir uns noch einmal zurück, was Orbán bei der Ankündigung des historischen Rettungspakets im Beisein von drei Ministern sagte: „Die Zielstellung des durch die Regierung ausgearbeiteten Aktionsplans zum Schutz der Wirtschaft lautet, so viele Arbeitsplätze zu schaffen, wie das Coronavirus zerstört.“ Wie viele zerstört werden, weiß momentan natürlich niemand. Die Orbán-Regierung war 2010 mit dem Anspruch angetreten, eine Million neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das war nach der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 auch dringend erforderlich. Diese brachte dem Land erneut ausufernde Arbeitslosenzahlen, wie sie innerhalb der Europäischen Union eher für die Südeuropäer typisch sind.

Der neu deklarierte Ansatz „Arbeit statt (Sozial-) Hilfe“ integrierte vorübergehend bis zu einer Viertelmillion Menschen in öffentliche Arbeitsprogramme. Gleichzeitig wurde die Statistik durch Ungarn „auf Entsendung“ verschönt, indem man einfach einen Gutteil der sich im Ausland verdingenden Arbeitskräfte weiterhin dem einheimischen Arbeitsmarkt zurechnete. Mit all diesen Tricks, aber doch in erster Linie durch eine Politik der Investitionsförderung „um jeden Preis“ befinden sich heute rund siebenhunderttausend Ungarn mehr in Lohn und Brot, als das noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. Genauer gesagt befanden sie sich in Arbeit, denn mit der Corona-Krise folgt ein weiteres dunkles Kapitel der Arbeitsmarktstatistiken.


Massen fallen durchs Sieb

Gerade haben die Arbeitsämter die offiziellen Zahlen für Ende März vorgelegt: Demnach befanden sich im ersten Monat der Krise 281.000 Menschen auf Jobsuche. Das sind 17.000 Arbeitslose mehr, als im Februar registriert wurden, als sich der Anstieg gegenüber dem Monat Januar auf 14.000 Personen summierte. Der befürchtete Ausreißer schlägt sich in dieser Zahl somit noch nicht nieder. Dazu lohnt es zu wissen, dass sich um Arbeitslosengeld, welches unter der Orbán-Regierung auf einen Zeitraum von 90 Tagen beschränkt wurde, ausschließlich Personen bewerben können, die in den letzten drei Jahren vor Antragstellung wenigstens 365 Tage in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis angemeldet waren. Da fallen in Ungarn mit seinem saloppen Verständnis von Rechtsgehorsam von vornherein Massen durchs Sieb.

Abgesehen davon erklärte gleich jeder zweite Befragte bei einer Erhebung des Wirtschaftsforschungsinstituts GKI unter Klein- und mittelständischen Unternehmen, man habe ab Mitte März Mitarbeiter in Zwangsurlaub geschickt. Weil jedes fünfte befragte Unternehmen aber schon im ersten Monat der Krise nicht um Entlassungen herumgekommen sei, rechnen die Wirtschaftsforscher mit 50.-60.000 zusätzlichen Arbeitslosen bis Mitte April und weiteren 90.-100.000 Arbeitslosen in den nächsten drei Monaten. Das betrifft wohlgemerkt nur Betriebe mit mindestens fünf Mitarbeitern; die ungezählten Selbständigen vom Fremdenführer über den Taxifahrer bis zum Kosmetiker, deren Existenz die heruntergefahrene Wirtschaft akut bedroht, finden sich in dieser Schätzung nicht.

Wenngleich das zentrale Arbeitsamt die detaillierten Angaben zur Arbeitslosenstatistik schuldig blieb, zeichnet sich schon jetzt ab, dass ältere Mitarbeiter über 55 Jahren und Hilfskräfte als erste nach Hause geschickt wurden. Selbst Großunternehmen wie Suzuki in Esztergom, die ihrer Stammbelegschaft mit dem Produktionsstillstand Zwangsurlaub verordneten, haben fortan keine Verwendung für ihre Leiharbeitskräfte mehr – bei dem Automobilhersteller waren von der Entscheidung allein 600 Menschen betroffen, die überwiegend aus dem strukturschwachen Landesosten stammen. Über die im Verband der Leiharbeitskräfte MMOSZ zusammengeschlossenen Firmen wurden landesweit rund 170.000 Menschen an Unternehmen vermittelt, der Gesamtmarkt dürfte eine Viertelmillion Arbeitskräfte im Verleihmodus umfassen.

Daneben gibt es noch knapp zweihunderttausend Studenten und einige zehntausend Rentner, die sich für ein Zubrot oder häufig saisonal vermitteln ließen. Die Neoliberalen loben gerne die unaufhaltsame Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, welcher diese Krise einen weiteren Impuls verleihen wird. Ausgerechnet jene Leiharbeitskräfte, die sich zu Zeiten einer Wirtschaft im Normalbetrieb flexibler als alle anderen zeigen mussten, finden sich heute jedoch als erste im Aus.


Der blanke Überlebensinstinkt

Dass sich Firmen in solchen Zeiten ohne Aufträge massenhaft von ihren Arbeitnehmern trennen, ist einem natürlichen Reflex geschuldet: Es geht für immer mehr von ihnen nicht um eine Durststrecke, die schnell vorübergeht, sondern ums nackte Überleben. Noch gibt es keine staatlichen Garantien für Kredite, die sich Unternehmen gegenseitig gewähren, noch greifen die Maßnahmen des Aktionsplans zum Schutz der Wirtschaft nicht, um die Stabilität der Lieferketten zu gewährleisten. Laut Statistiken der Notenbank sichern die ungarischen Unternehmen ihren fortlaufenden Betrieb mit kurzfristigen Krediten in der Größenordnung von umgerechnet 30-35 Mrd. Euro ab. Die Lieferanten gehen sogar in der Größenordnung von 40 Mrd. Euro für ihre Partner in Vorleistung. Durch Kreditversicherungen gedeckt ist schätzungsweise ein Drittel, bestenfalls die Hälfte dieser Forderungen.

Nicht von ungefähr drängt die Ungarische Industrie- und Handelskammer (MKIK) faktisch seit dem Ausbruch der Krise auf eine Stärkung des Factoring, um den Finanzierungsspielraum von Unternehmen in Zeiten grassierender Liquiditätsengpässe wieder zu weiten. Offenbar hat sich der Druck auf die politischen Entscheidungsträger seit Mitte März dermaßen erhöht, dass nun staatliche Garantien im Volumen von 500 Mrd. Forint (knapp 1,5 Mrd. Euro) über die Entwicklungsbank MFB in Aussicht gestellt werden. Einen entsprechenden Garantierahmen hat die Europäische Kommission für Deutschland bereits abgesegnet – mit einem Volumen von 30 Mrd. Euro.


Psychologischer Haken

Gemessen an diesen Beträgen erscheinen die vom Bankensektor in der Krise geforderten Opfer marginal. Die neu erhobene Bankensondersteuer wurde auf 55 Mrd. Forint veranschlagt – dies stellt eher eine Liquiditätshilfe für den Fiskus dar, da dieses Geld über fünf Jahre hinweg zurückerstattet wird. Die als Überbleibsel der vorigen Krise weiterhin existente Sondersteuer verlangt den Geldinstituten in diesem Jahr etwas mehr ab; zusammen mit den Kosten der allgemeinen Kreditstundung dürften sie Verluste von mehr als 100 Mrd. Forint einstecken. Das ist freilich nur ein Bruchteil der zuletzt realisierten Rekordgewinne. Gefährlicher erscheint, dass die Handelsbanken eine neue Welle von Kreditausfällen befürchten müssen.

Die Notenbank sieht schon aktuell beinahe jedes zehnte Unternehmen als zahlungsunfähig, nachdem zwei Drittel schockartige Störungen der Lieferketten beklagen. Vier von zehn Firmen wollen Kredite aufnehmen, um die Löhne weiter zahlen zu können, drei von zehn bauen besser gleich Personal ab. Und während die Geldhäuser angehalten sind, eine Kreditklemme unbedingt zu verhindern, müssen sie doch in der jetzigen akuten Lage mindestens ein Drittel aller wirtschaftlichen Aktivitäten als riskant einstufen. Das bis Jahresende verhängte Moratorium hat zudem einen Haken, der im psychologischen Bereich angesiedelt ist: Kunden, die aus dem Rhythmus der monatlichen Tilgungen herausgefallen sind, entwöhnen sich der Zahlungsdisziplin.


Die rote Linie

Auch mit allen Nachbesserungen des Rettungspakets wird das als zentrales Element verstandene Kurzarbeitergeld höchstens 75.000 Forint (kaum mehr als 200 Euro) im Monat bringen. Die Orbán-Regierung hält an ihrem Grundprinzip fest, das Geld nicht mit der Gießkanne zu verteilen. Wer in der Krise die Schleusen öffnet, dem wird im Anschluss die Rechnung präsentiert: Gläubiger und Spekulanten werden die Schwächsten unter den Schuldnern „aufknüpfen“, glaubt die politische Führung in Budapest. Konkret gelte eine Neuverschuldung von drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt als „rote Linie“, die das Land nicht überschreiten dürfe, um sich nicht wieder – wie 2008 geschehen – auf Gedeih und Verderb externen Kräften auszuliefern.

Wenn diese Selbstkontrolle funktioniere, könnten im Mai Pläne für den Neustart der Wirtschaft in Angriff genommen werden. Neben dem von Hause aus optimistischen Notenbankpräsidenten György Matolcsy teilen immer mehr Institutionen sowie Analysten im In- und Ausland die Ansicht, Ungarn könnte die Corona-Krise relativ gut wegstecken. In der Theorie von der sogenannten V-Kurve wird dennoch bis zu einem Drittel der potenziellen Wirtschaftsleistung in Mitleidenschaft gezogen, ehe sich die Wirtschaft schrittweise regenerieren kann. Wie gut die Erholungsphase gelingt, hängt von der Länge des Abschwungs und dem Erfolg des Krisenmanagements ab.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt Ungarn innerhalb der Region Osteuropa als besonders widerstandsfähig ein: Eben auch wegen der robusten Basis dank der starken jüngeren Konjunkturphase könnte das Land die Rezession mit drei Prozent schrumpfender Wirtschaftsleistung überwinden und schon 2021 wieder um gut vier Prozent wachsen; allein Serbien wird ein noch besseres Abschneiden zugetraut. Die Polen werden laut IWF tiefer fallen und anschließend nicht dynamischer als die Ungarn wieder aufsteigen, Slowaken und Tschechen verlieren doppelt so viel an Potenzial, wobei die Tschechen im kommenden Jahr zu Wachstums-Spitzenreitern avancieren könnten. Wie nahe diese Prognosen der Realität kommen, da wird das Coronavirus sicher noch ein Wörtchen mitreden.

Konversation

WEITERE AKTUELLE BEITRÄGE
Regierungsbeschlüsse

Ende für Transitzonen

Geschrieben von BZ heute

Am kommenden Dienstag reicht die Regierung jene Vorlage im Parlament ein, mit der sie um die…

Im Gespräch mit Columbo, Frontmann der Band Irie Maffia

Musik in der Quarantänezeit

Geschrieben von Péter Réti

Vor 15 Jahren wurde die ungarische Band Irie Maffia gegründet. Die Budapester Zeitung sprach mit…

Brettspielverleih „Játszóház Projekt”

Lasset die Spiele beginnen!

Geschrieben von Elisabeth Katalin Grabow

Gezwungenermaßen verbringen viele Menschen heute mehr Zeit daheim. Da wird die Suche nach neuen…