Wir brauchen angeblich Fachkräfte, doch die können nicht billig genug sein, und müssen durch Schlepperbanden und mit falschen Versprechungen von weit her geholt werden, während man den Kritikern dieser Praxis den Mund verbietet und die Arbeitslosen im eigenen Land als „untauglich“ oder einfach als „zu alt“ abstempelt. Man produziert Milliardenfach immer subtilere Energiefresser wie iPhones oder Tablets, verschleppt dafür die Seltenen Erden eines ganzen Kontinents, beutet dort sogar Kinder als Arbeitssklaven aus und beschimpft hier die Omas als „Umweltsäue“.


Selbstgemachte Tsunamiwelle

Plastik überflutet die Meere, permanent sterben Tiere, in zu engen Ställen zusammengepfercht und auf irrsinnigen Lebendtransporten von einem Land ins andere müssen sie leiden. Und bei all dem spricht man von „Wachstum“, von „Innovation“, von „Fortschritt“ und von „Rationalisierung“, von „Erfolg“, oder gar von „Ergebnis“ bei der kleinsten Verbesserung beim großen Ausschlachten der Weltressourcen. Irgendwie stimmt schon lange nichts mehr, vor allem nicht das Verhältnis vom Wort zur Realität, vom Sagen zum Sein.

Und nun, ganz plötzlich, schlägt etwas zurück. Da tritt ein Virus zufällig in der Nähe eines chinesischen Forschungsinstituts für Virologie in Wuhan auf und reist um die Welt. Und mit einem Mal fällt die Menschheit in genau das Ungleichgewicht, das sie selbst in den letzten Jahrzehnten durch ihre Grenzenlosigkeit hervorgerufen hat. Denn jetzt kommt es wie eine große, nicht mehr auszuhaltende Tsunamiwelle auf sie zu: das schon längst vergessene Gefühl des Ausgeliefertseins.

Das sind die Geister, die die Menschheit gerufen hat, sie hat sie eingeladen in die globalisierte Gesellschaft des immer alles Machbaren. Ganz gleich auf welcher Ebene, wir lebten bislang im unbegrenzten Raum des immer Mehr und allzeit Möglichen. Natürlich wurde von der Washington Post sofort dementiert, dass es sich bei COV-19 um eine biologische Waffe handle. Das mag vielleicht stimmen. Was in diesen Forschungsinstituten jedoch weltweit so alles geschieht, entzieht sich meist der Überwachung durch die dafür eigentlich Verantwortlichen.

Vielleicht hat ja ein Praktikant oder ein übermüdeter Wissenschaftler kurz vor Feierabend das falsche Röhrchen ins Waschbecken geschüttet. In der Welt des unbegrenzt Möglichen rechnet man nicht mehr mit menschlichen Fehlern, darum verrechnet man sich. „Forschen“ gilt per se als hochwertig, ihm darf keine Grenzen gesetzt werden. Es ist durch und durch ökonomisiert und an die Vorstellung von „Erfolg“ gekoppelt, nicht aber an eine wie auch immer geartete Vorstellung vom Wohl der Allgemeinheit.


Das unbegrenzte Mehr

Genau das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Seit Jahrzehnten geht es ihr um das unbegrenzte Mehr, werden immer neue Markterweiterungen und Geschäftsmöglichkeiten gesucht. Von den großen multinationalen Unternehmen werden immer neue Wege ersonnen, um Profite und Dividenden zu erhöhen. Dass so etwas dauerhaft nicht funktionieren kann, wird ausgeblendet. Die Gewinne, die in den letzten zehn Jahren geboomt haben, wurden oft nicht einbehalten, um die Solidität der Unternehmen zu stärken, sondern an die Aktionäre ausgeschüttet. Währenddessen nutzten diese zumeist börsennotierten Unternehmen aber auch die niedrigen Zinsen, um sich hoch zu verschulden, mit dem Ziel Aktienrückkaufprogramme zu starten und damit den Kurs des Unternehmens hochzuhalten. Immer mehr Hedgefonds und Finanzunternehmen werden zu den eigentlichen Eigentümern der großen internationalen Unternehmen. Und die haben vor allem ein Interesse: möglichst viel Geld aus den Unternehmen herauszuziehen.

Bei der sich anbahnenden Krise bricht dieses ganze System nun wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Denn wenn die Umsätze einbrechen und kein Erspartes mehr vorhanden ist, dann wird das ganze grenzenlose Spekulationssystem kollabieren. Und so zeigt sich auch hier: „Das wirtschaftliche Funktionieren der großen Unternehmen dient schon lange nicht mehr dem Wohlergehen der Allgemeinheit, weil ihnen bis dato keine Grenzen gesetzt werden durften, und weil sie für sich selbst den Liberalismus, das vollkommen freie Schalten und Walten, auf die Fahnen geschrieben haben.


Oberflächliches Treiben

Doch nicht nur in diesen beiden Bereichen hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass ein „Immer mehr“ auch gleichzeitig ein „immer besser“ bedeutet. Selbst in Kultur und Bildung glauben viele heute noch an die unbegrenzt mögliche Erweiterung, Verbesserung und Verbreitung von Ideen, Methoden und Gesetzmäßigkeiten. Wie nie zuvor konnten Menschen von einem Kontinent zum anderen reisen. Der europäische Bürger hat im Durchschnitt mindestens drei, vier, fünf Länder oder zumindest einmal einen anderen Kontinent bereist. Dabei haben sie jedoch nicht viel gelernt und auch nur wenig Neues erfahren, denn nicht die Länder selbst sind ihnen wichtig, sondern die bequemen Hotels, der sonnige Strand und das ausgiebige Shopping. Dieses oberflächlich vielfältige und bunte Treiben gibt es auch in der Pädagogik. Jeden Tag strömen neue pädagogische Konzepte und Aktivitäten in die Schulen und Lehrbetriebe. Vom spielerischen Lernen über die neue Achtsamkeit und die verschiedene Lerntherapien bis hin zur Lehrerbewertung durch Schüler. Es scheint, als gäbe es immer noch etwas, was die Menschheit ändern müsste auf ihrem Weg zum höchsten Punkt ihrer eigenen Geschichte.

Gottfried Wilhelm Hegel, der große deutsche Denker des frühen 19. Jahrhunderts hat diese Vorstellung von einer historischen Entwicklung der Menschheit hin zu einer bestmöglichen Welt in die Köpfe der Menschen gepflanzt. Und diese Vorstellung steckt tief in uns drin. Die junge Generation zwischen 15 und 20 Jahren ist sogar mit dieser Idee geboren worden. Ihr gilt jede neue Idee grundsätzlich als „besser“ als die vorhergehende. Schreiben Schüler heute über die Zukunft, gehen sie grundsätzlich davon aus, dass diese nur noch „besser entwickelt“ sein kann. Sogar das Violinspiel, so kann man lesen, würde mit neuen Methoden schneller und präziser zu erlernen sein.

Diese Idee des grenzenlosen und unbegrenzten Fortschritts, des Fortschreitens im Sinne einer ständigen Perfektionierung, ist zu einem allgegenwärtigen Glauben herangereift. In diesem neuen Glauben wird der religiöse Erlösungsgedanke zur reduzierten, pragmatischen Vorstellung von einer perfekt durchorganisierten, technologisch, wie wissenschaftlich reibungslos funktionierenden Welt ohne Grenzen. Auf ihr leben jedoch 8 Milliarden Menschen, die etwa 6.500 verschiedene Sprachen sprechen, über hundert religiösen Bewegungen angehören und sich aufgrund klimatischer Unterschiede und Geschichte alle voneinander unterscheiden.


Glaube vom grenzenlosen Fortschreiten

Wie sehr ist dieser Glaube vom gemeinsamen grenzenlosen Fortschreiten also nur eine Illusion, der wir endlich den Rücken kehren müssen? Schon allein die zu offenen europäischen Grenzen haben eine unkontrollierbare Massenmigration ausgelöst. Die zu stark globalisierte Wirtschaft führte zu einer schleichenden Verarmung der europäischen Mittelschicht und das Wirrwarr an modernen pädagogischen Ideen zum Werteverlust von Diplomen und Abschlüssen. In diesen Tagen werden die Menschen nun auf das Gegenteil dessen zurückgeworfen, was sie eigentlich angestrebt haben.

Es mutet schon seltsam an, diese vielen Flugzeuge zu sehen, die da weltweit auf den Flughäfen herumstehen, oder die Lastwagen mit den Lieferungen, die an den Grenzen feststecken. Es macht Angst zu merken, dass es in den Geschäften und Apotheken immer wieder an Nachschub mangelt. Und es ist beengend sich selbst einschließen und vor der Umwelt abschotten zu müssen, weil nur das plötzlich das eigene Leben schützt. Der Tod macht die Runde und die so hoch gehaltene Grenzenlosigkeit wird zum Fluch.

Grenzen setzen, das galt lange als veraltet, man wollte eine weit offene Welt und in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schien dies auch tatsächlich möglich. Dabei waren sich doch die meisten Philosophen in der Geschichte eigentlich immer darüber einig gewesen: Willkür und absolute Freiheit im Sinne von Grenzenlosigkeit führen zu ihrem Gegenteil. Wenn alles möglich ist, ist eben gleichzeitig nichts mehr möglich. Der Anspruch auf Grenzenlosigkeit führt zu Unkontrollierbarkeit. Unkontrollierbarkeit aber führt zu Willkür und diese mündet in ein Chaos, aus dem dann der Stoff neuer Diktaturen gemacht wird. Grenzenloses Wirtschaftswachstum, grenzenlose Forschung, grenzenlose Bildung und Ausbildung tragen in sich immer schon selbst den Keim ihrer eigenen Selbstauflösung und sie führen nur dazu, dass einige wenige damit die Freiheit haben, auf Kosten der Mehrheit noch mehr Gewinne zu machen.


Freiheit bedeutet nicht Grenzenlosigkeit

Mit der Freiheit beschäftigt sich die Philosophie, seitdem es sie gibt. Freiheit bedeutet jedoch nicht Grenzenlosigkeit. Freiheit steht immer in Verbindung mit der Vernunft, in Verbindung mit der Klarheit der Willensziele, mit der Gemeinschaft und mit der Fähigkeit des Menschen, sich selbst Regeln aufzuerlegen, die ein sinnvolles Gemeinwesen ermöglichen. Und dies kann nur von unten nach oben aufgebaut werden, basisdemokratisch sozusagen, bürgernah, in kleinen Einheiten, die sich selbst autonom verwalten dürfen. Und dabei sollte gelten: niemand darf grenzenlos agieren – keine Forscher, keine Manager, keine Banker, keine Politiker.

An sich hatte der Westen für sich selbst eine scheinbar sehr gute Lösung gefunden: Die Kontrolle jedweder Macht durch die Parlamente. Doch in einer globalisierten Welt sind sie bedeutungslos geworden. Was kann man also machen? Welche neuen Strukturen können der aktuellen unkontrollierbaren Grenzenlosigkeit entgegengestellt werden? An Ostern gedenkt die Christenheit weltweit dem Tod und der Auferstehung. Durch den Tod gehen wir gerade, wie aber kann die Auferstehung danach aussehen? Auf welchen Gebieten und wie weit sollten wir zurückrudern, damit wir wieder mehr die Kontrolle über unseren Gemeinwillen haben?

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