Gyula Kincses, der Präsident der Ungarischen Ärztekammer, wird in unserem Konferenzbericht folgendermaßen zitiert: „In den letzten 50 bis 60 Jahren mussten wir im Gesundheitssektor nie auf Reserven zurückgreifen, deshalb haben wir auch kaum welche angelegt. Die Welt befand sich in einem Wettrennen um Effizienz, weshalb jeder jeweils nur die absolut notwendigen Ressourcen lagern wollte.“

Weiter gedacht heißt das letztendlich auch: Weil wir es in der Vergangenheit unterlassen haben, im Gesundheitsweisen für Notsituationen wie diese einen gewissen Überhang an Kapazitäten vorzuhalten, etwa an Intensivbetten oder Beatmungsgeräten, sind wir jetzt gezwungen, mit allen Mitteln die Kurve flach zu halten und dabei mal eben unsere Volkswirtschaften zu ruinieren. Oder noch klarer: Weil gewisse Investitionen in überschaubarer Größenordnung unterlassen wurden, muss jetzt ein Vielfaches der „eingesparten“ Summen für das Herunter- und Wiederhochfahren der Wirtschaft gezahlt werden.

Die Krise offenbart auch, dass die Kalkulationen in erschreckend vielen weiteren Bereichen unseres Lebens fahrlässig auf Schönwetterannahmen beruhten. Hauptsache, in der Gegenwart war alles schön billig. Risiken wurden ausgeklammert. Dass sich die eingesparten Kosten möglicherweise woanders (schlechte Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern) oder später (zerberstende überdehnte Lieferketten) melden könnten, wurde ignoriert.

Auf Schönwetterannahmen beruhte häufig auch das Finanzgebaren vieler Akteure. Wie kann es sein, dass schon eine kurze Einnahmedelle viele Unternehmen und private Haushalte völlig aus der Bahn wirft? Von den ohnehin chronisch verschuldeten Staaten ganz zu schweigen.

Beim Entwerfen der Welt von morgen sollten all diese Fragen berücksichtigt werden. Nach der jetzigen Coronavirus-Krise mit anschließender Wirtschaftskrise befinden wir uns schließlich vor der nächsten, wie auch immer bezeichneten Krise. Wir brauchen mehr Nachhaltigkeit und insgesamt eine höhere Bereitschaft, den Dingen so wie sie sind ins Auge zu blicken – und nicht mehr den Dingen so, wie wir sie gerne hätten.

Wenn finanziell klar ist, dass Europa nicht das Weltsozialamt spielen kann, dann sollte der alte Kontinent auch so handeln. Wenn bei Elektrofahrzeugen durchaus Schadstoffemissionen anfallen – nur halt woanders –, dann dürfen sie nicht mit null angesetzt werden. Wenn die Gesellschaft noch nicht nachhaltig mit Ökostrom versorgt werden kann, dann ist ein kopfloser Kampflauf gegen die konventionelle Stromerzeugung unehrlich. Wenn Meerestiere mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben den Preis für zu billige Verpackungen zahlen müssen, dann stimmt etwas nicht.

Eine Hinwendung zur Realität heißt überall, unsere Entscheidungen aufgrund von ganzheitlichen Analysen zu treffen – und nicht etwa aufgrund von beliebig gewählten, uns gerade in den Kram passenden Ausschnitten. In dieser Hinsicht bieten übrigens die Vorschläge der Ungarischen Industrie- und Handelskammer bemerkenswerte neue Aspekte. So soll etwa die Vergabe von staatlichen Hilfsgeldern von der nachhaltigeren Ausgestaltung der Wertschöpfungsketten abhängig gemacht werden. Volkswirtschaftlichen Aspekten soll also eine höhere Beachtung geschenkt werden. Im Endeffekt könnte das dazu führen, dass bei staatlichen Auftragsvergaben nicht mehr nur der Preis und die technischen Parameter eine Rolle spielen, sondern auch die ungarische Wertschöpfungsquote.


Jan Mainka

Chefredakteur & Herausgeber

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