Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen – und so fand diese Konferenz nicht etwa in einem stickigen Vortragssaal, sondern (ohne jegliche Ansteckungsgefahr) im Internet statt. Über das Online-Tool Zoom diskutierten Gyula Kincses, der Präsident der Ungarischen Ärztekammer, Gyula Gilly, Gesundheitsökonom und Arzt, sowie Ökonom und Sozialwissenschaftler Gábor Schering und Alexandra Köves, Umweltökonomin an der Budapester Corvinus-Universität.


Wir brauchen mehr Zeit

„Das Coronavirus ist ein globales Problem, welches die Länder auf nationaler Ebene zu lösen versuchen “, skizzierte zu Beginn János Molnár. Der Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der FES führte durch die Konferenz. „Es gibt keine globale Institution, die ausreichende Kompetenzen hätte, um diese Krise auf einer globalen Ebene zu lösen“, mahnte er. Dies führe zu den nationalen Alleingängen, die wir nun beobachten können. Allerdings sei es für die Nationalstaaten fast unmöglich, so Molnár, ein Problem, das von Natur aus global ist und sich noch dazu dynamisch entwickelt, im eigenen Land einzudämmen. „Die Krise wird an den Fundamenten unserer Gesellschaft rütteln: vom Gesundheitssystem bis zur Wirtschaft, vom Sozialstaat bis hin zur Bildung.“

Gyula Kincses, Präsident der Ungarischen Ärztekammer, wies darauf hin, dass der Coronavirus die Welt völlig unvorbereitet getroffen habe. „In den letzten 50 bis 60 Jahren mussten wir im Gesundheitssektor nie auf Reserven zurückgreifen, deshalb haben wir auch kaum welche angelegt. Die Welt befand sich in einem Wettrennen um Effizienz, weshalb jeder jeweils nur die absolut notwendigen Ressourcen lagern wollte.“ Auf die Frage, wie lange diese Pandemie anhalten könne, antwortete Kincses: „Ich habe keine Ahnung, keiner weiß das. Aber ich hoffe, dass die lange dauert. Wir haben bisher keine Möglichkeit, diese Krankheit zu heilen oder sie gar mit einer Impfung zu verhindern. Unsere einzige Möglichkeit ist es, die Infektionsraten zu verlangsamen, sodass die Kranken nicht unser Gesundheitssystem überfluten.“

Kincses warnte, dass – obwohl man an einer Lösung für dieses Problem arbeite – es Komplikationen gebe: „Wir versuchen die Dinge so schnell es geht zu verbessern, aber wir haben nicht genügend Kapazitäten – zum einen, weil es weltweit einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Maschinen gibt, zum anderen, weil es an Personal fehlt.“ Der Präsident der Ungarischen Ärztekammer betonte, dass die Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte derzeit der einzige Weg sei, die Pandemie zu bekämpfen. Seiner Ansicht nach könne vernünftigerweise nicht mit einer Lockerung der aktuellen Einschränkungen in weniger als drei Monaten gerechnet werden.


Der ungarische Weg

Kincses kritisierte den Umgang der ungarischen Behörden, insbesondere aber des Gesundheitsministers mit der Pandemie. In seinen Augen sei das Pro­blem jedoch nicht die oft ins Feld geführte niedrige Anzahl an Tests, sondern die Auswahl der Getesteten. „Es sollen natürlich nicht alle getestet werden. Nicht aus Geldgründen, sondern aus Mangel an Ressourcen. Es würde viel Zeit kosten, die wir nicht haben. Die aktuellen Tests sind sehr langsam. Derzeit müssen wir unsere Ressourcen aber gezielt einsetzen. Deshalb sollten vor allem Risikogruppen getestet werden.“

Dem stimmte auch Gyula Gilly zu. Der Gesundheitsökonom fordert „eine strengere Rückverfolgung von Kontakten Infizierter“ sowie die Testung von Gesundheitsarbeitern und anderen Berufsgruppen, die häufig mit Infizierten in Kontakt kämen, vor allem Polizisten und Verkäufer. Er mahnt zudem einen strikteren Umgang mit jenen an, die infiziert sind, aber nur milde Symptome zeigen. „Was wir in Asien gelernt haben, ist, dass wir diese Leute nicht zu ihren Familien zurückschicken sollten, wo sie noch zwei oder drei weitere Menschen anstecken, sondern sie isolieren müssen.“ In diesem Zusammenhang kritisierte Gilly die Weisung des Gesundheitsministers, Menschen mit milden Symptomen nicht auf das Coronavirus zu testen: „Diese Leute werden zu sogenannten ‚Superspreaders’, weil sie ihr Leben fortsetzen, ohne zu wissen, dass sie andere infizieren. Das ist es, was dieses Virus so gefährlich macht. In China wurden fast 79 Prozent der Infektionen so übertragen. Stattdessen testen wir Menschen, die schon mit Pneumonie und 39 Grad Fieber eingeliefert werden. Das ist Nonsens.“

Im Hinblick auf die Auswahl der derzeit am Markt verfügbaren Testverfahren erläuterte Gilly: „Die sogenannte PCR-Methode testet auf das volle Spektrum des Coronavirus. So kann 100-prozentig festgestellt werden, ob jemand das Virus hat und ob er noch ansteckend ist. Aber es gibt auch andere Schnelltests, die nach Antikörpern im Blut suchen. Das Problem ist hier, dass die Immunreaktion, bei der diese produziert werden, erst zwischen dem siebten und zehnten Tag erfolgt.“ Deshalb seien diese Test nicht so zuverlässig wie PCR-Tests, sollten allerdings trotzdem für ein schnelleres Auffinden von mit Sicherheit Infizierten angewendet werden.

Gilly warnte abschließend vor den auch in Ungarn drohenden Dramen im Gesundheitssystem: „Selbst falls 80 Prozent der Infizierten ohne Symptome bleiben, könnten die restlichen 20 Prozent schon unser Gesundheitssystem überwältigen. Rund fünf Prozent müssen auf die Intensivstation, das könnte mehr sein, als wir zeitgleich behandeln können.“


Globales Problem mit regionalen Lösungsansätzen

Gábor Schering, der an der Bocconi-Universität in Mailand unterrichtet, ging auf die Situation in Italien ein. Seiner Ansicht nach habe Italien zu Beginn der Krise Zeit verloren: „Die Italiener haben mit diesem typisch europäischen Überlegenheitskomplex reagiert: ‚Das ist ein asiatisches Virus, das kann uns nicht erreichen. Bei uns sind die Zustände besser.’ Aber es hat uns erreicht.“ Einer der Gründe, warum es gerade Italien so hart getroffen habe, sei in der Wirtschaftspolitik des südeuropäischen Staates zu suchen: „Man hat in den letzten Jahren versucht, ein strukturelles Budgetplus zu erzielen, was bedeutete, dass man versuchte, weniger Geld auszugeben – dabei wurde das Gesundheitssystem kaputtgespart.“

Gleichzeitig habe die schlechte wirtschaftliche Situation in Italien dazu geführt, dass viele Investoren und Arbeitgeber darauf drängten, dass die Leute auch noch in der Pandemie zur Arbeit erscheinen. „Bis zu dem Punkt, dass die Gewerkschaften mit einem Generalstreik drohten, weil sie glaubten, dass man Menschenleben auf dem Altar des Kapitalismus opfern wolle“, so Schering. „Als erstes wurde in Italien natürlich der für das Land so wichtige Tourismus- und Servicesektor heruntergefahren, dann folgten die kleineren Unternehmen in angrenzenden Wirtschaftsfeldern und nun betrifft es sogar die Arbeiter in den Fabriken. Wie hoch die Arbeitslosigkeit sein wird, ist schwer zu sagen, da Italien Entlassungen in der aktuellen Krise untersagt hat.“

Italien habe nun Maßnahmen eingeführt, um die Auswirkungen auf Wirtschaft und Bevölkerung abzufedern: „Vor sechs Monaten hatte man bereits ein garantiertes Grundeinkommen für einen Teil der Bevölkerung eingeführt. Diesen Betrag hat man nun verdoppelt und auf weitere Kreise ausgedehnt. Es steht nun rund 10 Millionen Italienern zu.”

Von derartigen Sozialstaatsszenarien sei Ungarn, wo in den letzten Jahren viele Sozialleistungen gekürzt wurden, weit entfernt. Schering kritisierte, dass das Land auf einen infolge der Coronavirus-Pandemie drohenden Anstieg der Arbeitslosenzahlen nicht vorbereitet sei. Arbeitslosengeld werde nur für drei Monate ausgezahlt – Schering glaubt, dass die Regierung hier in Zukunft aufstocken müsse.

Im Hinblick auf Ungarns wirtschaftlichen Spielraum erläutert Schering: „Es gibt große Unterschiede zwischen den europäischen Ländern. Deutschland ist natürlich in einer besseren Position, die deutsche Wirtschaft profitiert vom Euro. Außerdem hat das Land genügend Geld, um mit groß angelegten Investitionen gegenzusteuern.“ Dies sei in anderen Ländern Europas wie etwa Italien, aber eben auch Ungarn nicht der Fall. Deshalb unterstützt Schering die Idee Europäischer Bonds. So könne ein massives europäisches Wirtschaftsförderprogramm auf den Weg gebracht werden. Die aktuelle Spaltung innerhalb der EU hält er für unproduktiv: „Die Zurückhaltung der nordischen Staaten wird das Vertrauen in die Union schmälern.“

In diesem Zusammenhang stimmt Schering dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu, der vor allem den Unwillen Deutschlands eine „historische Unverantwortlichkeit“ nannte. Schering glaubt, dass die Coronavirus-Pandemie ihre Auswirkungen in der ganzen Welt entfalten werde. „Das ist kein isoliertes Problem eines einzelnen Staates oder einer Region, sondern eine weltweite Herausforderung. Das wird uns alle betreffen. Wir können uns darauf einrichten, dass es im zweiten Quartal einen starken Absturz der Wirtschaft geben wird. Und wir wissen nicht einmal, wie lange das noch anhalten wird. Die Auswirkungen könnten beträchtlich sein“, so Schering.


Chancen der Krise

Dem stimmte auch Alexandra Köves zu. Die Umweltökonomin untersucht an der Budapester Corvinus-Universität, wie sich die Wirtschaft in Bezug auf Umwelt und Gesellschaft nachhaltiger gestalten ließe. Sie glaubt, dass die aktuelle Krise auch Chancen bietet, da in vielen Bereichen des Lebens plötzlich alte Routinen überdacht und neue Lösungsansätze gefunden werden müssten. Köves argumentierte, dass wir Konsum nicht blind unterstützen sollten, sondern uns anschauen müssten, wie eine globale Wirtschaft funktioniert: „Wir sehen nun noch stärker die Vor- und Nachteile der Globalisierung. Es hat sich gezeigt, dass weltweite Solidarität in der Bewältigung von Krisen zukünftig noch wichtiger sein wird.“ Die Ökonomin hob hervor, dass die moderne Globalisierung zu großen Abhängigkeiten geführt habe. „Wir sollten uns anschauen, wie wir die einzelnen Volkswirtschaften wieder unabhängiger machen können, ohne dabei aus dem globalen Netz zu fallen“, so Köves. Sie forderte: „Es muss wieder mehr lokale Produktions- und Konsumketten geben.“ Nur so könne man die Gefahr globaler Kettenreaktionen minimieren.

Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt erörterte Köves: „Wir sehen jetzt plötzlich, welches die Menschen und Berufe sind, auf die es wirklich ankommt. Das sind die Krankenschwestern, Ärzte, die Zusteller, Verkäufer und Lehrer. Das sind alles Berufe, die aus marktwirtschaftlicher Sicht wenig Respekt erhalten und für gewöhnlich unterbezahlt sind. Das sollte uns zu denken geben.“ Auch einen anderen Aspekt nahm Köves ins Visier: „Viele Menschen bekommen jetzt erst einen Geschmack davon, wie es ist, mit den Kindern daheim zu sein, sie zu betreuen und nebenbei den Haushalt zu schmeißen. Da kapieren einige erstmal, dass auch das Arbeit ist – und zwar richtig viel Arbeit. Diese Krise ist insgesamt eine Möglichkeit, die Wichtigkeit und Anerkennung bestimmter Arbeiten zu überdenken.”

Zynisch äußerte sich Köves über die, wie sie sagte, neoliberale Ideologie, die normalerweise den Markt idealisiere und den Staat von zu viel Einmischung abhalten wolle: „Jetzt in der Krise sagen diese Leute plötzlich, dass der Staat eine Lösung anbieten müsse. Er solle die Märkte retten.” Gábor Schering fügte dem hinzu: „Alle zehn Jahre oder so kommen die Industriemagnaten angelaufen und fordern ein bisschen Sozialismus. Die Bürger sollen für sie zahlen und das führt dann meistens auch noch dazu, dass soziale Leistungen reduziert werden.“ Gehe es nach Schering, so sollten Rettungsgelder für Unternehmen an strukturelle Reformen geknüpft werden: „Wenn wir schon zahlen, dann sollen die Unternehmen doch in Zukunft bitte auch mehr Arbeitsplatzsicherheit garantieren und mit mehr Nachhaltigkeit wirtschaften.” Insofern könne die aktuelle Krise auch eine Chance für ein verantwortungsvolleres Miteinander von Wirtschaft und Gesellschaft sein.

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