Das Land braucht jetzt „Zusammenhalt statt politischer Debatten“ – diese Worte richtete Ministerpräsident Viktor Orbán am 22. März im Parlament an die Abgeordneten. Aber natürlich geht die Politik, in Ungarn wie überall sonst auf der Welt, in der Covid-19-Pandemie genauso weiter wie immer. Die Politiker aller Lager versuchen, die Krise zum eigenen Vorteil zu nutzen. Nach der Devise: Lass keine Krise ungenutzt verstreichen. Nach wie vor geht es darum, den politischen Gegner zu schwächen, die eigene Macht zu stärken, stark, kompetent und entschlossen aufzutreten und dem Gegner Schwäche und Inkompetenz vorzuwerfen.


Regierung ließ Verlängerungsfrist verstreichen

Exemplarisch dafür ist derzeit die Debatte um die Sondervollmachten der Regierung im Rahmen der sogenannten „Gefahrensituation“ – eine spezielle Art von Ausnahmezustand. Die Regierung rief diesen Notstand am 11. März aus. Damit konnte sie Dekrete erlassen, deren Gültigkeit aber nach 15 Tagen automatisch abläuft. Um sie aufrecht zu erhalten, bedurfte es also einer Verlängerung durch das Parlament.

Nun begann ein politisches Schauspiel wie ein Jonglier-Spektakel im Zirkus. Die Regierung reichte ihren Gesetzentwurf zur Verlängerung des Notstands zu spät ein, um einen nahtlosen Übergang zu ermöglichen. Dem Vernehmen nach hatte man in der Hitze des Gefechts der Krisenbekämpfung die prozeduralen Fristen der Parlamentsarbeit nicht hinreichend beachtet. Eine Abweichung von den Hausregeln wurde somit erforderlich. Um das zu beschließen, bedarf es im Parlament aber einer Vier-Fünftel-Mehrheit. Ohne Abweichung von den Hausregeln genügen zwei Drittel, was für die Regierungspartei Fidesz (133 von 199 Abgeordneten) kein Problem ist. Nun aber brauchte sie die Unterstützung der Opposition.

Zuvor war in den Hintergrundgesprächen der sieben Parlamentsparteien die Stimmung sogar nach Auffassung mancher Oppositionsvertreter sehr gut und konstruktiv gewesen. Fast stand also zu „befürchten”, dass die Opposition mitmachen würde. Der Gesetzentwurf, eingereicht am 20. März, enthielt dann aber etwas, was die Opposition fast schon zur Ablehnung zwang. Beziehungsweise, es fehlte etwas: Eine zeitliche Begrenzung.


Opposition feuerte aus allen Rohren

Und so ging der Zirkus los. „Staatsstreich“, die Erschaffung eines „Königreiches“ für seine Majestät Viktor Orbán – besonders Péter Jakab, der neue Chef der ehedem nationalkonservativen, nunmehr aber „gemäßigten“ und kaum noch zu definierenden Jobbik-Partei, zog vom Leder. Seine Kollegen bei den anderen Oppositionsparteien feuerten auch aus allen Rohren.

Die von der Regierung gewünschte Abweichung von den Hausregeln wurde daher bei der Abstimmung am 23. März abgelehnt. Für die Abweichung stimmten 137 Parlamentarier (die 133 Fidesz-Abgeordneten und vier andere), 52 dagegen. Zu einer Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Verlängerung des Notstands kam es insofern vorerst gar nicht.

Über den wird nun am kommenden Dienstag abgestimmt, ohne Abweichung von den Hausregeln. Es genügt also eine Zweidrittel-Mehrheit, über die die Regierungspartei auch verfügt. Es bedeutet aber, dass die bisher getroffenen Regierungsdekrete zur Bewältigung der Krise – etwa die Schließung der Grenzen oder Steuererleichterungen für Bürger und Unternehmen – etwa eine Woche lang ihre Gültigkeit verlieren. Das Kabinett suchte bei Redaktionsschluss noch nach Wegen, dieses Problem irgendwie zu lösen.

#

Jobbik-Chef Péter Jakab fürchtet einen „Staatsstreich“.


All das gab der Regierungsseite die Munition für ein politisches Trommelfeuer: Die Linken, Liberalen und was immer Jobbik heutzutage sein mag, so hieß es, hätten sich im Krieg gegen das Coronavirus auf die Seite des Virus gestellt.


Wieder auf den Leim gegangen

Das war derselbe Trick, der schon bei der Anti-Soros-Kampagne der Regierung perfekt funktioniert hatte: Da hatte man erreicht, dass die Opposition den US-Milliardär und seine Unterstützung liberaler NGOs verteidigte, und konnte somit behaupten, Linke und Liberale wollten „wie Soros“ das Land „mit Migranten überschwemmen“.

Es geht dem Fidesz also wohl um wahltaktische Vorteile und eine vorteilhafte Ausgangsposition für die Wahlen 2022. Allein das spricht bereits gegen den Vorwurf der Opposition, Orbán wolle die Wahlen unter dem Vorwand der Krise unterbinden. Zwar sieht der Gesetzentwurf zur Verlängerung des Notstandes vor, Nachwahlen und Volksbefragungen in dieser Zeit aufzuschieben. Aber das Zeitfenster für Parlamentswahlen ist in der Verfassung festgeschrieben. Die Regierung kann da nichts ändern, ohne die Verfassung selbst umzuschreiben.

Einen unbegrenzten Notstand lehnt die Opposition übrigens nur im Parlament ab. In Budapest, wo sie regiert, eher nicht. Der neue Oberbürgermeister Gergely Karácsony (MSZP/Párbeszéd) hat zwar für die Verlängerung des Notstandes eine Zeitgrenze von 90 Tagen gefordert. Aber in Budapest soll der Stadtrat bis auf weiteres nicht mehr zusammentreten. Erst wenn Karácsony es entscheidet.

Das war im Stadtrat abgenickt worden, mit Unterstützung des Fidesz. Die Regierungspartei konnte nun also sagen, Kará­csony mache in Budapest genau das, was er auf Landesebene kritisiere – und dass man ihn dabei unterstützt habe, während Karácsony und seine politischen Verbündeten eine solche Unterstützung für die Regierung auf Landesebene verweigerten. Gegenüber der Budapester Zeitung wies Karácsony allerdings darauf hin, dass die neue Form des Regierens auf kommunaler Ebene eine allgemeine Regelung sei, die für alle Kommunen des Landes gelte und die Konsequenz der Gefahrenlage sei.


Außerordentliche Befugnisse

Der Notstand gibt also auch den Kommunalverwaltungen außerordentliche Befugnisse. In Komló, Szekszárd und Nagykanizsa nutzten dies jeweils Bürgermeister der Regierungspartei, die bisher mit einem mehrheitlich oppositionellen Stadtrat vorliebnehmen mussten – was in Nagykanizsa beispielsweise dazu führte, dass es dort seit Oktober keinen stellvertretenden Bürgermeister gab. Nun ernannte der aktuelle Bürgermeister einfach einen Parteikollegen. Begründung: Die Stadt muss entscheidungsfähig bleiben. In Szekszárd und Komló wurde der Haushalt vom Bürgermeister im Alleingang genehmigt.

Ein inhaltlicher Grund für den von der Regierung geforderten „unbegrenzten“ Notstand ist schwer auszumachen. Die Regierung verweist darauf, dass dieser eigentlich auch gar nicht unbegrenzt sei. Inhaltlich und zeitlich sei er begrenzt, er gelte nämlich nur, solange die Epidemie andauere, und berechtige nur zu Verordnungen, die dazu dienen, die Krise zu bewältigen. Dennoch ist nicht ganz klar, warum eine zeitliche Begrenzung nachteilig wäre für die Bekämpfung des Virus. Theoretisch kann das Parlament ja jederzeit, wann immer erforderlich, eine weitere Verlängerung beschließen. Und theoretisch hat die Regierungspartei dafür auch die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit.

Dazu hieß es von der Regierungsseite (in Gestalt von Kommunikationsstaatssekretär Zoltán Kovács) , die Pandemie könne dazu führen, dass das Parlament gar nicht mehr zusammentreten könne.

#

MSZP-Vorsitzender Bertalan Tóth: „Wir haben von Ministerpräsident Orbán eine Geste erwartet, die jedoch ausgeblieben ist.“


Tímea Szabó von der kleinen Oppositionspartei Párbeszéd fragte die Regierung daraufhin in der Parlamentsdebatte am 23. März, warum man nicht auf das Mittel digitaler Abstimmungen zurückgreifen wolle. Immerhin habe die Regierung den gesamten Lehrbetrieb im Bildungssystem binnen weniger Tage auf digitale Methoden umgestellt. Warum, fragte Frau Szabó rhetorisch, gehe das nicht auch im Parlament?


Keine Alternativen?

Darauf gabs erst tags darauf eine Antwort, von Kanzleramtsminister Gergely Gulyás: Das erfordere eine Verfassungsänderung. Ein schlagendes Argument ist das kaum – denn für eine solche Verfassungsnovelle hat die Regierung die erforderliche Mehrheit, noch dazu müsste die Opposition, wenn sie eine solche Reform schon fordert, diese im Parlament wohl auch unterstützen.

Staatssekretär Balázs Orbán argumentierte in der Parlamentsdebatte, eine Zeitgrenze von 90 Tagen könne dazu führen, dass das Parlament aufgrund (bis dahin) zahlreicher Erkrankungen nicht mehr entscheidungsfähig sei. Zudem könne das Parlament ja jederzeit zusammentreten und den Notstand beenden – was aber de facto angesichts der Mehrheitsverhältnisse unwahrscheinlich ist, wenn die Regierungspartei das nicht will.

Entscheidungsunfähigkeit, weil es nicht mehr genug gesunde Abgeordnete mehr gibt – das ist natürlich denkbar, aber für eine solche Situation könnte man sicher eine Ausnahmeregelung ins Gesetz schreiben (und dafür notfalls die Verfassung ändern).

Nachvollziehbarer scheint, was Kanzleramtsminister Gergely Gulyás am 24. März sagte. Er war gefragt worden, ob die Regierung denn die erforderliche Mehrheit habe, wenn das Parlament nächste Woche über den Gesetzentwurf abstimmt. Da diesmal nicht von den Hausregeln abgewichen werden muss, reicht eine Zweidrittel-Mehrheit.


Keine sichere Regierungsmehrheit

Nein, das sei nicht sicher, sagte Gulyás. Denn jederzeit könne die Epidemie den einen oder anderen Abgeordneten treffen oder in die Quarantäne zwingen. Es sei also denkbar, dass man erneut die Hilfe der Opposition benötigen werde.

Da kann man, wenn man will, zwischen den Zeilen lesen: Die Gefahr, dass die Pandemie den Fidesz früher oder später faktisch seiner Zweidrittel-Mehrheit berauben könnte, besteht tatsächlich. Vielleicht ist das der Grund, warum die Regierung keine zeitliche Begrenzung will.

Auch auf der europäischen Bühne hat die Politik nicht aufgehört, Politik zu sein: Der (sozialdemokratische) Vorsitzende des Rechtsausschusses im EU-Parlament, Juan Fernando Lopez Aguilar, forderte die EU-Kommission auf, zu prüfen, ob Ungarn mit seiner Ausnahme-Gesetzgebung gegen EU-Grundwerte verstoße – während vielerorts, sogar in Deutschland, die Einschränkungen der Bürgerrechte schon jetzt viel umfassender sind als in Ungarn. Eine Reihe von Ländern hat umfassende Ausgangssperren eingeführt, zuletzt Rumänien – wo sogar die Armee die sehr scharfen Bestimmungen durchsetzen soll.

Konversation

WEITERE AKTUELLE BEITRÄGE
Regierungsbeschlüsse

Ende für Transitzonen

Geschrieben von BZ heute

Am kommenden Dienstag reicht die Regierung jene Vorlage im Parlament ein, mit der sie um die…

Im Gespräch mit Columbo, Frontmann der Band Irie Maffia

Musik in der Quarantänezeit

Geschrieben von Péter Réti

Vor 15 Jahren wurde die ungarische Band Irie Maffia gegründet. Die Budapester Zeitung sprach mit…

Brettspielverleih „Játszóház Projekt”

Lasset die Spiele beginnen!

Geschrieben von Elisabeth Katalin Grabow

Gezwungenermaßen verbringen viele Menschen heute mehr Zeit daheim. Da wird die Suche nach neuen…