Wer im Osten des gespaltenen Europas aufgewachsen ist, dem dürfte die „12-Jahre-Regel“ geläufig sein. Alle zwölf Jahre „ereignete“ sich Geschichte, so 1956 in Ungarn, 1968 in der damaligen Tschechoslowakei und 1980 in Polen. Das Jahr der politischen und Systemwende hätte demnach auf 1992 fallen müssen, doch so viel Geduld hatten die Massen im Osten um 1989/90 dann doch nicht mehr. Natürlich ist die Theorie der Zwölf-Jahre-Zyklen nicht ganz ernst zu nehmen, aber die Parallele zur Weltwirtschaftskrise von 2008 bietet sich nun einmal für den aktuellen Vergleich an. Denn abgesehen von den dramatischen Folgen des kollabierenden Gesundheitssystems wirft das neuartige Coronavirus nicht die Frage auf, ob es die Weltwirtschaft 2020 in eine Rezession ziehen wird. Diese Frage ist leider längst vom Tisch. Nun muss sich die Wirtschaftspolitik überall auf der Welt Gedanken machen, wie ein Neustart aussehen soll.

Die zunächst zögerlichen, mit der wachsenden Verunsicherung aber zunehmend radikaleren Abwehrmechanismen bringen das wirtschaftliche Leben sukzessive zum Erliegen: Erst wurden die Hotels geschlossen, dann blieben die Flugzeuge am Boden, die Schiffe in den Häfen und die Züge in den Bahnhöfen. Theatern, Konzertsälen, Museen und Kinos, Stadien und Sporthallen sind die Zuschauer abhandengekommen. Friseure machen zum Selbstschutz dicht, und jeder überlegt es sich zweimal, ob er sein angestammtes Restaurant oder Café in diesen Zeiten noch aufsuchen will. Das Virus hat auch Ungarn längst im Griff, es grassiert nicht nur in Budapest und anderen Ballungszentren, selbst auf dem Lande finden sich die roten Quarantäne-Warnzettel an mehr und mehr Häusern.


Der erste unsichtbare Feind

In dieser Situation zeichnet selbst der von Natur aus optimistische Ministerpräsident ein dunkles Bild. Dabei hat Viktor Orbán, der das Land zwischen 1998 und 2002 sowie seit 2010 durchgehend regiert, in diesen Jahren allerhand Krisen managen müssen. Zwar profitierte er bei seinen Machtantritten sowohl 1998 als auch 2010 von der „Großreinigung“, die ihm im Vorfeld Finanzminister Lajos Bokros mit dem berüchtigten Sparpaket von 1995 beziehungsweise die Expertenregierung unter Gordon Bajnai mit ihrem professionellen Krisenmanagement der Jahre 2009/10 von den Schultern genommen hatten. Dessen ungeachtet musste er mit der Russland- und der Dotcom-Krise ebenso fertig werden, wie mit den Spätfolgen der großen Finanzkrise. Hinzu kamen Jahrhunderthochwasser und die Rotschlammkatastrophe, ganz zu schweigen von der Migrationskrise. Mochte eine dieser Herausforderungen heimtückischer als die andere sein, hatte es Orbán doch bislang nie mit einem unsichtbaren Feind zu tun, der „seine Karten“ erst aufdeckt, wenn es für uns fast zu spät ist.

Am 4. März war das neuartige Coronavirus offiziell in Ungarn angekommen: Zwei Studenten aus dem Iran wurden positiv getestet. Am 15. März war das erste Todesopfer der Epidemie hierzulande zu beklagen. Zwischen diesen beiden Ereignissen stieg die Zahl der nachweislich Infizierten auf 50 Personen, drei Mal so viele Menschen gelangten in Quarantäne. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Ungarische Industrie- und Handelskammer (MKIK) am 10. März ihren Auftakt des Wirtschaftsjahres, eine Konferenz, bei der von Seiten des Trios Ministerpräsident, Notenbankpräsident und Finanzminister gewöhnlich die wirtschaftspolitischen Leitlinien für die kommende Zeit verkündet werden.


Alle müssen ihre Komfortzone verlassen

Die mit größter Spannung erwartete Rede von Viktor Orbán konzentrierte sich auf das Bekenntnis, wonach der Staat den an den Folgen der Epidemie leidenden Wirtschaftsakteuren zur Seite stehen müsse. Er machte jedoch keinerlei konkrete Zusagen, vielmehr bat er den Kammerchef László Parragh, bis Ende April Rückmeldungen der Mitgliedsunternehmen zusammenzutragen, welche Instrumente einzelnen Branchen konkret durch die schweren Zeiten helfen könnten. Solche gezielten, branchenspezifischen Programme favorisierte Orbán gegenüber makroökonomischen Konjunkturprogrammen. Um die Wirtschaft mit „vielen Milliarden Euro“ wiederbeleben zu können, müssten das diesjährige Budget ebenso wie der Haushaltsplan für 2021 neu konzipiert werden. Die Rezession dürfe nicht die Ausmaße von 2008/09 erreichen und Ungarn müsse unbedingt seinen Wachstumsvorsprung von mindestens zwei Prozentpunkten gegenüber der EU bewahren.

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Das leergefegte Széchenyi-Heilbad in Budapest – die Tourismussaison ist „im Eimer“. (Foto: MTI/ Balázs Mohai)


Da es kein Gegenmittel zur Abwehr des Virus gebe, müsse das Land fortan mit einer psychologischen Unsicherheit leben. China benötigte 5-6 Monate, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen – davon ausgehend sei die diesjährige Tourismussaison in Ungarn „im Eimer“. „Wir müssen uns auf brutale Veränderungen einstellen, die jeden Akteur zwingen, seine Komfortzone zu verlassen“, warnte Orbán die Wirtschaftskapitäne. Dabei schloss er jedes optimistische Szenario aus. Aus seiner Sicht verdränge die Angst, wen das Virus erwischen kann, die Sorge um die Lieferketten. „Es liegt auf der Hand, dass wir einen neuen Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft auflegen müssen“, erklärte der Ministerpräsident sichtlich pessimistisch.


Unermesslich schwere Folgen

Woher dieser Stimmungsumschwung rührte, deckte Finanzminister Mihály Varga am Abend des gleichen Tages im Info-Radio auf. Während sich Varga auf der Kammerkonferenz am Vormittag auf eine Kritik an der Entwicklung der Weltkonjunktur beschränkt hatte, packte er nur zehn Stunden später aus: „Ungarn wird die anvisierten 3,5-4 Prozent Wirtschaftswachstum nur erreichen, wenn das Virus morgen verschwindet.“ Weil dieses Szenario ausgeschlossen ist und weil IWF und OECD aktuell schon ein globales Nullwachstum für denkbar halten, dürfte die ohnehin angeschlagene EU in eine Rezession von bis zu zweieinhalb Prozent sinken. Der zeitliche Verlauf und die Tiefe der Epidemie werden bestimmen, wo sich die ungarische Wirtschaftsleistung in einem Intervall zwischen 3,7 Prozent im Plus und 0,3 Prozent im Minus ansiedeln wird.

Als der Finanzminister diese schockierende Prognose von einem unter Umständen sogar negativen Wachstum abgab, befand sich Europa aber noch gar nicht in der Starre der Quarantäne: Die Regierung Österreichs gab an jenem Tag gerade eine Reisewarnung für Italien aus und verhängte eine Einreisesperre für Italiener, die Schweiz schloss nur kleinere Grenzübergänge zu Italien, und in Deutschland beurteilte das Robert-Koch-Institut die Gefährdung der Bevölkerung noch als „mäßig“.

Einen Tag später wurde der landesweite Notstand ausgerufen, und weitere zwei Tage darauf, in seinem üblichen Freitag-Interview für das Kossuth-Radio, sprach Orbán von „unermesslich schweren wirtschaftlichen Folgen“ durch das Virus. Allerdings glaubte der Ministerpräsident da noch an einen Aktionsplan, der einzelne Branchen präferieren werde, „weil der Stillstand der Wirtschaft nicht alle Sparten gleichermaßen trifft“. In jenem Interview deutete er in Verbindung mit der außerordentlichen Rechtsordnung zum ersten Mal an, der Krisenstab könnte gewisse Unternehmen und Fabriken unter staatliche Kontrolle stellen. Man müsse umsichtig mit diesem Instrument umgehen, in einer Phase „zwischen der Demokratie in Friedenszeiten und dem Kriegszustand“. Am Freitagabend gab Orbán auf Facebook die Einrichtung von zehn Aktionsgruppen bekannt, unter denen Verteidigungsminister Tibor Benkő mit der Leitung jener Gruppe beauftragt wurde, die für die Sicherheit sogenannter „lebenswichtiger Unternehmen“ verantwortlich sei.


Große Welle droht

Seit dieser Woche igelt sich das Land – angelehnt an die Praxis sämtlicher EU-Mitgliedstaaten – vollkommen ein: Auf das Abriegeln der Grenzen folgt eine sukzessive Verschärfung der Abwehrmaßnahmen. Am Montag hielt der Ministerpräsident im Parlament weiter an seiner These fest, die einzelnen Branchen der Volkswirtschaft würden nicht gleichzeitig von jener Katastrophe heimgesucht, die Tourismus, Gastgewerbe und Dienstleistern wegen der ausbleibenden Gäste widerfahre. In diesem Sinne beauftragte Orbán die Ministerin ohne Geschäftsbereich, Andrea Bártfai-Mager, sich mit Repräsentanten der Krisenbranchen zu konsultieren, um schnelle Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Zugleich erkannte er die Gefahr einer großen Welle an Arbeitsplatzverlusten und betonte die Notwendigkeit, die Arbeitsplätze zu schützen. Der Premier wandte sich an die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gemeinsame Anstrengungen für den Erhalt der Arbeitsplätze zu unternehmen.

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Alle Grenzen sind nun dicht – freies Geleit gibt es allein für den Lieferverkehr. (Foto: MTI/ Péter Lakatos)


Der Finanzminister kommentierte derweil die Entwicklung mit den Worten, die Pläne für 2020 müssten vorerst „beiseitegelegt werden“. Die von dem Virus ausgehende akute Gefahr überschreibe alle wirtschaftspolitischen Bestrebungen. Als Leiter der Aktionsgruppe Finanzen habe er die Neuplanung des Staatshaushaltes 2020 in die Wege geleitet, die parallel mit der Planung des Budgets für 2021 geschehe. Die Betonung liege darauf, dass die von der Regierung verkündeten Maßnahmen über die erforderliche, realistisch gegebene Deckung verfügen müssen.

Notenbankpräsident György Matolcsy sprach von unberechenbaren langfristigen Auswirkungen des Coronavirus, das die Wirtschaft auf Jahre und in allen Bereichen belasten werde. Inmitten der um sich greifenden Verunsicherung erstaunlich optimistisch wirkte seine Einschätzung vom Wochenende, wonach die Weltwirtschaft einer allgemeinen Krise entgehen und sich die Krisenszenarien von 1929-1933 sowie 2007-2009 nicht wiederholen werden. „Ungarn stehen die größten Schwierigkeiten erst noch bevor, doch mit einem guten Krisenmanagement lässt sich das Jahr 2020 retten und das Jahr 2021 gewinnen“, schrieb Matolcsy in einem Meinungsartikel, in dem er sich im Übrigen bereits mit dem „Neustart“ der Wirtschaft befasste.


Gesunder Bankensektor vonnöten

Die Ungarische Nationalbank (MNB) rief derweil am Montag in eben dem von ihrem Präsidenten geforderten Krisenmodus die Handelsbanken auf, ein Moratorium für sämtliche Unternehmenskredite zu verkünden, das bis zum Jahresende gelten sollte. Dass es sich dabei nicht nur um fromme Wünsche handelte, deutete der nachdrückliche Hinweis an: „Sofern die Banken diesen Schritt nicht von alleine gehen, ersuchen wir die Regierung, den Zahlungsaufschub anzuordnen.“ Die MNB sieht bei den im Rahmen ihres Programms für Wachstumskredite (NHP) zugeteilten Darlehen von deren Tilgung ab und entlastet allein mit diesem Schritt potenziell 25.000 Klein- und mittelständische Unternehmen.

An diesem Mittwoch legte die MNB nach, indem sie die Handelsbanken im gleichen Stil, wie am Montag im Falle der Unternehmenskredite, zu einem Moratorium in Bezug auf die Privatkundenkredite aufforderte. Erneut wurde die Bitte mit der dezenten Drohung verknüpft, bei der Regierung für die Durchsetzung des Zahlungsaufschubs sorgen zu wollen. Der Generalsekretär des Bankenverbandes sagte dem öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender M1 in einer ersten Stellungnahme, die Hilfen für Unternehmen und Familien, die wegen der Corona-Krise in eine schwierige Lage geraten sind, seien eine wichtige Aufgabe. Levente Kovács definierte die Gefahren bei den Unternehmen in dem Verlust von Geschäftsvolumen und -aktivitäten, bei der Bevölkerung bezüglich der drohenden Einkommensausfälle. Verständlicherweise möchten die Geldinstitute – nicht zuletzt zum Selbstschutz – die Hilfen auf die wirklich Bedürftigen beschränken. „Die richtige Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel ist außerordentlich wichtig, weil die Wirtschaft nach erfolgter Abwehr des Virus schnell auf die Beine gestellt werden muss, wofür ein gesunder Bankensektor vonnöten ist“, erklärte der Generalsekretär.


Nichts hält den Forint

Den Forint brachte die MNB mit ihrer „Maßregelung“ des Bankensektors endgültig auf die schiefe Bahn. Die einheimische Währung wertete schon im vergangenen Jahr intensiver um 15-20 Einheiten gegenüber dem Euro ab und durchbrach im August erstmals das Niveau von 330 HUF/EUR. In diesem Februar attackierten die Spekulanten die Widerstandslinie bei 340, die nach den aktuellen Maßnahmen der Notenbank in dieser Woche Makulatur wurde. Allein am Montag verlor der Forint bis zu drei Prozent an Wert, am Mittwoch wurde eine weitere symbolische Schwelle überschritten, wonach für einen Euro bereits 350 Forint gegeben werden müssen.

Eine umfassende Unterstützung der Bevölkerung mittels Stundung ihrer Kredite oder vorübergehender Gewährung eines Grundeinkommens wird nach den Produktionsstillständen in den größten Fabriken zur akuten Fragestellung: Nacheinander verkündeten Audi Hungaria in Győr, Magyar Suzuki in Esztergom und Mercedes-Benz in Kecskemét die Stilllegung der Werke für voraussichtlich (mindestens) zwei bis drei Wochen. Wegen der Lieferketten werden die Zulieferer der Automobilindustrie um ähnliche Maßnahmen nicht herumkommen. Allein dieser Sektor steht für ein gutes Viertel der ungarischen Industrieproduktion und fünf Prozent der Wertschöpfung. Sollte sich der Stillstand tatsächlich auf die Mindestzeit der Quarantäne von zwei Wochen beschränken, würde die Konjunktur darunter nur mit wenigen Zehntelpunkten leiden. Der Ausfall eines ganzen Monats könnte das Bruttoinlandsprodukt aber bereits um einen halben Prozentpunkt schröpfen.

In diesem Kontext sei an die Befürchtung des Ministerpräsidenten erinnert, wonach sich alle an ein Leben anpassen müssten, das „in den folgenden Monaten nicht in den gewohnten Bahnen verlaufen wird“. Als wichtigste „Kraftreserve“ Ungarns machte Orbán Solidarität und Disziplin aus. Die Herausforderung durch das neuartige Coronavirus verlangt dem Land, der gesamten Europäischen Union und der Welt wirklich enorm viel ab.

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