Was kann ein Dokumentarfilm aus einem Kriegsgebiet erreichen? Ist es nötig, immer schockierendere Bilder zu zeigen?

Ein Dokumentarfilm sollte Gewaltszenen nicht zeigen, damit der Filmemacher beweisen kann, wie abgehärtet er ist. Manchmal machen Journalisten so etwas. Manchmal gibt es dafür gesetzliche Regeln. Wir müssen Menschen respektieren, wenn sie leben, aber auch nachdem sie umgebracht wurden. Das ist eine große Verantwortung. Manche verhalten sich korrekt, andere habe die Verkaufschancen ihres Films im Sinn. Es ist wichtig, Filme zu machen, die menschliche Werte widerspiegeln und Aspekte einer Geschichte erzählen, die niemand kennt. Was syrische Dokumentarfilme bedeutsam macht, ist Bashar al-Assad selbst. Weil die Regierung jegliche Berichterstattung durch die Medien untersagt hat, sind die Leute innerhalb und außerhalb Syriens noch entschlossener, zu erzählen was passiert. Kino kann Kriegsverbrechen dokumentieren oder den Kampf für eine gute Sache zeigen, beispielsweise den Versuch, Menschen zu beschützen. Aber ich glaube, dass wir tiefer gehen müssen, jenseits der Bilder. Wir müssen versuchen zu verstehen, woher die Probleme kommen, die zum Konflikt führen.



Was halten Sie von Dokumentarfilmen, die schockierende Bilder zeigen und dann dem überwältigten Zuschauer mitteilen, wer die schuldige Partei in einem Konflikt ist?

Wir können nicht beurteilen, wer die schuldige Partei ist. Beide Seiten, die in Syrien gekämpft haben und noch immer kämpfen, haben Kriegsverbrechen begangen. Vielleicht in unterschiedlichen Graden, aber alle haben Verbrechen begangen. Wir können nicht nur über Assad sprechen und sagen: Er hatte die Macht, er hat mit allem angefangen. Ich kann keine Alternative nennen. Ich kenne die Leute, ich habe mit ihnen gesprochen und ich traue keinem von ihnen. Deshalb verachten sie mich alle.

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Szenen aus dem Film „Of Fathers and Sons”. (Fotos: BIDF)


Wie kann ein Filmemacher verhindern, dass sein Film im Krieg um die moralische Vormachtstellung missbraucht wird?

Als Filmemacher kann man nicht über diese Möglichkeit nachdenken. Sonst wird man nie einen Film machen. Du musst dir vorstellen, dass du und dein Charakter die einzigen zwei Personen sind, die auf der Erden existieren, und dich darauf konzentrieren, das du die ausdrucksvollen Momente findest, die viel über das Leben deines Charakters aussagen können.

Wir haben während des Festivals zwei Filme über den Konflikt in Syrien gesehen. Beide handeln von Frauen, der Hauptort des Geschehens sind Krankenhäusern und beide machen dem Zuschauer klar, dass der Grund des Leidens die russischen Luftangriffe sind, bei denen auch Krankenhäuser bombardiert werden. Wie aufmerksam muss der Zuschauer sein, wenn er beurteilen will, ob ihm die ganze Wahrheit gezeigt wird?

Manchmal will ein Dokumentarfilm eine emotionale Sympathie mit einer Partei erreichen. Manchmal machen sie einen Fehler. So ein Fehler ist es, einen weiblichen Charakter zu benutzen, um eine männliche Gemeinschaft zu unterstützen. Es ist sehr selten, dass eine Frau etwas in einer männlichen Gesellschaft erreichen kann. Beide Filme wurden in einer radikalen Gemeinschaft gefilmt. Keine Frau kann dort ohne Kopftuch ausgehen, keine Frau kann laut sprechen, es gibt keine anderen Religionen und die Jihadisten kontrollieren völlig das Verhalten der Leute. Aber es wird nicht darüber gesprochen. Ich vertraue jedoch den Filmmachern dieser beiden Filme und ich meine, dass sie keine schlechte Absicht hatten. Ich denke, wir sehen zwei starke Frauen. Das kann Mut machen. Filmemacher sollten aber ihr eigener Planet sein und korrekt beobachten. Geschichte wird nicht vergessen. Man kann einen Film machen, der (nur) die Hälfte der Leute verärgert, weil die, die den Film machen, ein Teil des Konflikts sind oder hoffen, dass ihre Seite gewinnt. Aber wer kann schon voraussehen, wer gewinnen wird?


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Sie versuchen mit Ihren Filmen etwas genauer hinzuschauen, über die unmittelbare, blutige Gewalt des Konfliktes hinaus.

Mein letzter Dokumentarfilm „Of Fathers and Sons” fängt den Alptraum und die Probleme einer Organisation ein, die von einer negativen, männlichen Gewalt kontrolliert wird. Er zeigt, wie versucht wird, den Krieg in die Länge zu ziehen, weil man bis zum letzten Kind kämpfen will. Gleichzeitig zeigt er menschliche Momente derer, die dazugehören. Der Film wurde außerhalb des umkämpfen Gebietes gedreht. Es geht darum, zu verstehen, wie diese Gemeinschaft von Jihadisten von innen aussieht, wie sie leben und woran sie glauben.



Was können wir gewinnen, wenn wir die Denkweise der Konfliktteilnehmer kennen?

Diese Leute haben einen starken Glauben. Um die Überzeugungen von Leuten zu ändern und sie aus der Gewalt herauszuführen, bedarf es viel Arbeit. Bombardieren ist keine Lösung. Wo immer die Amerikaner oder Russen bombardiert haben, gab es eine Radikalisierung. Die Jihadisten haben die Gemeinschaften manipuliert und ihnen versprochen, dass der IS der einzige ist, der ihre Sicherheit garantieren könne. Der IS hat nun zwar seinen Einfluss auf dem Boden verloren, aber nicht in den Köpfen der Leute. Sie werden warten und ihre Form verändern und dann sind sie zurück und tun, was ihnen gefällt. Die Ideen sind im Umlauf und können plötzlich wieder die Kontrolle übernehmen. Der IS ist jetzt ein Opfer wie Hussein (Enkel des Propheten Mohammed) oder Jesus. Wir haben den ideologischen Kampf gegen den IS nicht gewonnen, nur den militärischen.


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Wie war es Ihnen möglich, einen Zugang zu dieser Familie von Jihadisten zu bekommen?

Durch meinen Film „Return to Homs“ hatte ich viele Kontakte zu Leuten vor Ort, die radikalisiert wurden. Das Familienoberhaupt musste davon überzeugt sein, dass ich ein Sympathisant der Salafisten bin. Als die türkische Regierung die Grenze nach Syrien geöffnet hatte, sind tausende von Jihadisten aus Europa und Asien ins Land gekommen. Ich habe die Chance genutzt und bin 2014 auf dieselbe Weise von Deutschland nach Syrien gelangt. Aus der Geschichte der Cinematography weiß ich, dass ich der einzige Filmemacher war, der den Zugang, die notwendige Geduld und den finanziellen Rückhalt hatte, um über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren in dieser Gemeinschaft präsent zu sein.



Sie leben im Exil in Berlin. Wie wurde Ihr Film in Deutschland aufgenommen?

Der Film hatte sehr positive Rezensionen. Er hat mehrere wichtige Preise in Deutschland gewonnen. Nur die rechtsorientierte AfD hat mich auf den sozialen Medien angegriffen. Dass mein Hauptcharakter auch menschliche Züge hat, hat ihnen nicht gefallen.



Was sind Ihre Hoffnungen für Syrien? Werden Sie in der nächsten Zukunft zurückkehren können?

Was als Versuch begonnen hat, Syrien für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte vorzubereiten, hat eine dunkle Wendung genommen. Wir sind hart miteinander geworden, wir haben das Mitgefühl für einander verloren. Statt uns um die Zukunft unserer Geschichte und die Zukunft unserer jungen Generation zu kümmern, bekämpfen wir einander. Diese Wahrheit wollen wir noch immer nicht begreifen. Die Menschen sehen alles schwarz oder weiß, nur in politischen Kategorien. Das Problem aber liegt tiefer, tief in der menschlichen Natur, in der Geschichte unseres Landes, in der Geschichte des Islam. Alle Syrer haben das Recht in Frieden zu leben. Aber sie brauchen Menschen an der Spitze, die sich um sie kümmern und ihre Seele beschützen. Es gibt Hunger in Syrien und eine neue Generation von Leuten, die durch den Krieg reich geworden sind und die Städte kontrollieren. Ich kann nicht nach Syrien zurückkehren. Regierung und Opposition haben mein Name auf ihrer Liste.

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Was haben die Menschen aus dem Konflikt in Syrien gelernt?

In arabischen Ländern gibt es jetzt viele Demonstrationen; in Bagdad, in Beirut, in Algerien, im Sudan. Was in Libyen und in Syrien passiert ist, hat die Menschen gelehrt, unter keinen Umständen Gewalt anzuwenden und zu den Waffen greifen. Vielleicht hat der Krieg auch die uneingeschränkte Macht der Väter gebrochen.



Arbeiten Sie an einem neuen Projekt?

Ja, aber es ist aus Sicherheitsgründen geheim.

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BIDF EXTRA:

Filme, die bei der 6. BIDF ausgezeichnet wurden, sind vom 14. bis 16. Februar nochmals im Cinema City Arena zu sehen. Darunter auch die beiden Dokumentarfilme aus dem syrischen Kriegsgebiet: „For Sama“ und „The Cave“. Alle Filme haben englische und ungarische Untertitel.

https://www.cinemacity.hu/?lang=en_GB#/


Filme von Talal Derki:


Return to Homs (2013)

Gefilmt in der Zeit von 2011 bis 2013 zeigt der Film, wie sich einige führende Charaktere des Widerstandes gegen das Regime von Bashar al-Assad von friedlichen Demonstranten in Mitglieder der bewaffneten Miliz verwandeln. Unter ihnen Abdul Baset al-Sarout, ehemaliger Torwart des Jugendnationalteams von Syrien. (Er starb 2019 bei der Nordwest-Offensive in Syrien im Alter von 27 Jahren.)


Of Fathers and Sons (2017)

Der Film zeigt das Leben einer radikalen Islamistenfamilie. Die Geschichte konzentriert sich um den Vater Abu Osama (45), einem der Gründer von Al-Nursa, dem syrischen Arm von Al Qaeda, und seinen Söhen Osama (13) und Ayman (12). Der Vater will seinen Traum vom Islamischen Kalifat verwirklichen und verlangt, dass seine Söhne den Pfad des Jihad einschlagen. Beide Kinder werden zu einem Trainingslager für junge Kämpfer gebracht. Aber Ayman möchte lieber weiter in die Schule gehen.

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