Der frühere Finanzminister Péter Oszkó der letzten sozialistischen Regierung hat erklärt, ein fünfprozentiges Wachstum lasse sich nicht einfach so zusammenschustern, die Regierung pfusche nicht, sondern handle rational. Woher dieser Gesinnungswandel?

Das weiß ich nicht. Wir kennen uns fachlich bedingt schon seit langem. Es freut mich, wenn uns der Finanzminister einer früheren Regierung eine normale und gute Arbeit bescheinigt.


Die Kritiker lamentieren derweil, dass wir nicht näher an die übrigen Visegrád-Staaten (V4) herankommen und nun sogar Rumänien an uns vorbeiziehe.

Das sind „Fake News“ der Oppositionsmedien, denen die Fakten widersprechen. Die ungarischen Löhne müssen wohl attraktiver als die rumänischen sein, denn viele Rumänen arbeiten in Ungarn – von einer Massenbewegung in umgekehrter Richtung ist mir nichts bekannt. Innerhalb der V4-Staaten haben wir aufgeholt und in gewissen Bereichen die Spitzenposition erobert. Wir konnten die unwürdige Lage aus der Zeit vor 2010 beenden, als Ungarn das bestenfalls belächelte Schlusslicht der Gruppe war. Heute haben allein die Tschechen weniger Erwerbslose, aber unsere Wirtschaft wächst doppelt so schnell wie die tschechische, und auch schneller als die Polens oder der Slowakei. Wir brauchen uns nicht zu verstecken, doch wegen der früheren verfehlten Wirtschaftspolitik kostete es uns zehn Jahre harte Arbeit, ehe Ungarn wieder den ihm gebührenden Platz in der Region einnehmen konnte.


Immer wieder zu hören ist, das Wachstum sei nicht nachhaltig.

Die meisten legen diese bis 2014/15 bemühte Platte nicht mehr auf. Wir haben mit dem Wachstum gerade 2018/19 bewiesen, dass die Wirtschaft auf stabileren Beinen steht, indem die Konjunktur auch durch den Privatverbrauch und die Exportleistung getragen wird. Eine wachsende Zahl ausländischer Investoren ist davon überzeugt, dass es sich wegen der Aussichten der ungarischen Wirtschaft lohnt, hier zu investieren.


Kommen die Auslandsinvestoren nicht weiterhin wegen der im Vergleich zum Westen niedrigen Löhne ins Land?

Es mag sein, dass ein Investor auch diesen Aspekt abwägt, doch wer langfristig denkt, hat andere Prioritäten. Wer sich hier ansiedelt, weiß um den weit verbreiteten Arbeitskräftemangel. Daraus folgt, dass die hiesigen Arbeitnehmer besser bezahlt werden müssen. Die Löhne steigen nun schon seit Jahren zweistellig, der Lohnvorteil schmilzt also dahin. Wenn sich Auslandsinvestoren für Ungarn entscheiden, dann hauptsächlich wegen der politischen und wirtschaftlichen Stabilität, der geographischen Lage und dem berechenbaren wirtschaftlichen Umfeld. Bei der Neuansiedlung von Investitionen fördern wir in erster Linie die innovative Wertschöpfung, Forschung und Entwicklung.


Die ungarische Wirtschaft hat den Gang der deutschen Wirtschaft in die Rezession nicht mitgemacht, die Abhängigkeit der Slowaken von den Deutschen ist da auffälliger.

Wenn die deutschen Multis aufgrund der sinkenden Nachfrage Kapazitäten abbauen wollen, macht das wegen der höheren Kosten eher daheim als in Ungarn Sinn. Bei uns half außerdem ein hohes Niveau der Investitionsquote, denn neben der Automobilindustrie gibt es zum Beispiel auch im Pharmasektor oder in der Chemie viele neue Projekte. Drittens reifen die Früchte unserer aktiven Wirtschaftspolitik, die auf der Suche neuer Märkte und einer Wirtschaftsdiplomatie basiert.


Die Haushaltspolitik bekommt auch ihren Teil ab. Kritische Analysten meinen, wir drücken noch bergab aufs Gas. Dabei wäre es gescheiter, die Staatsfinanzen zu stabilisieren, solange das Umfeld günstig ist.

Dem kann ich nur halbwegs zustimmen, denn es geht nicht bergab, sondern weiter bergauf. Ich bin aber ebenfalls für eine strengere Haushaltsplanung und vertraue darauf, dass wir bis 2022, aber spätestens bis 2023 einen Nullsaldo erreichen. Das geht wegen des Modernisierungsprozesses nur Schritt für Schritt. Bei der Zusammenstellung des Budgets müssen wir Gesichtspunkte wie Steuersenkungen, den Schuldenabbau, die Investitionsförderung oder die Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst abwägen.


Stimmt es, dass wegen des strengen Haushalts zu wenig Geld für Bildung und Gesundheit bleibt?

Die jüngsten Monate haben gezeigt, dass wir hier eher von schlechten Strukturen denn von einer Unterfinanzierung sprechen sollten. Nachdem die Regierung enorme Mittel aus EU-Fonds und dem Staatshaushalt für die Modernisierung der Krankenhäuser aufwandte, bildete sich dort bis zum Jahresende erneut ein gewaltiger Schuldenberg. Wir stecken mehr Geld in das Gesundheitswesen, die Schulden reproduzieren sich dennoch. Da gibt es auch Managementprobleme, die bewältigt werden müssen.


Der Ministerpräsident hat Ihnen die Aufgabe gestellt, die Tschechen in Sachen Beschäftigungsquote einzuholen. Wie wollen Sie das schaffen?

Als ich im März 2013 dieses Gebiet übernahm, stand die Erwerbslosenquote bei 11,6 Prozent, Ende 2019 war diese auf 3,5 Prozent gefallen. Die Beschäftigungsquote legte zur gleichen Zeit von 57,5 auf 70,3 Prozent zu; statt 3,9 Millionen arbeiten heute bei uns bereits 4,52 Millionen Menschen. Während dieser Erfolgsperiode konnten wir wertvolle Erfahrungen sammeln. Arbeitsmarktreserven sehen wir bei den älteren Generationen, der Rückführung von Frauen ins Arbeitsleben mittels flexibler Modelle, der Integration von ABM-Kräften in den primären Arbeitsmarkt und der Umschulung von Arbeitslosen. Die Arbeitsämter konnten – indem wir in den letzten anderthalb Jahren Lösungen aus Deutschland und den Niederlanden adaptierten – rund 50.000 Menschen in Arbeitsverhältnisse verhelfen.


Wann kommt die einstellige Einkommensteuer?

Dieses Vorhaben gehört zu unseren Plänen. Doch wir können nicht alles auf einmal angehen. Bei der Wirtschaftspolitik geht es nicht zuletzt um das Abwägen der Möglichkeiten. Die Staatsfinanzen sind beschränkt, wir wollen uns nicht verschulden und das nationale Vermögen nicht aufbrauchen, sondern vermehren.


Können Sie uns Genaueres zur Steuerbefreiung für Mütter von drei Kindern sagen?

Nur, dass es diesbezüglich einen Vorschlag gibt (den der Ministerpräsident auf seiner Jahrespressekonferenz im Januar einwarf, Anm. d. Red.). Seit Jahresanfang gilt die Steuerbefreiung für Mütter von vier Kindern; es braucht seine Zeit, um abzusehen, wie das von den Familien angenommen wird.


Die Multis zahlen weniger Steuern als die ungarischen Firmen, sie bleiben isoliert und geben ihr Wissen und ihre Innovationen nicht weiter.

Das stimmt nur zum Teil. Hinsichtlich der Steuerbelastung muss man die Nettolage der Unternehmen sehen, also ihre Einzahlungen und die erhaltenen Zuwendungen. So fließen auch die EU-Gelder zum Großteil den Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) zu, die in diesem Zyklus insgesamt 2.700 Mrd. Forint (ca. 8,5 Mrd. Euro) erhielten, wobei sie viele Programme exklusiv in Anspruch nehmen können.

Was den „Inselbetrieb“ der Multis betrifft, hat die Wirtschaftspolitik seit 2014/15 viele Maßnahmen ergriffen, um Großunternehmen wie Audi, Suzuki oder Siemens in Zuliefererprogramme einzubinden und den einheimischen Firmen näherzubringen. Früher brachten die Multis gewöhnlich ihre Zulieferer mit ins Land, heute aber sind sie offen für Veränderungen, wenn es entsprechende ungarische Partner gibt.


Würde es den einheimischen Firmen helfen, den Euro einzuführen? Macht das noch Sinn, wenn etwa Griechenland Opfer eines zum politischen Produkt verkommenen Euro wurde?

Ich springe nicht gerne auf einen Zug auf, bei dem ich nicht weiß, wohin die Reise geht. Der Euro ändert sich laufend; die Weltwirtschaftskrise von 2008 offenbarte eklatante Schwachstellen der Gemeinschaftswährung. Solange die ungarische Volkswirtschaft nicht ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht hat, kann es nicht in unserem Interesse liegen, der Eurozone beizutreten. In Hinsicht auf die drohenden Wettbewerbsnachteile warnt uns das Beispiel Italiens oder Portugals.


In der EU sind Sie der dienstälteste Finanzminister. Bringt das Vorteile mit sich?

Ganz und gar nicht. Die Sitzungen der Eurogruppe und des Ecofin zeigen glasklar, dass die Achse Frankreich-Deutschland die Entscheidungsprozesse vorantreibt. Sind sich die beiden Großen einig, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Unentschlossenen überzeugt sind. Zum Glück stellt inzwischen auch die V4-Gruppe einen Faktor dar; die Finanzminister Deutschlands und Frankreichs sind schon mal in die Hohe Tatra gereist, um sich mit den V4-Staaten abzustimmen.


Teilen Sie die Kritik von Notenbankpräsident György Matolcsy, dass die Wohnungspolitik gescheitert sei?

Seine konkreten Behauptungen kann ich nur teilweise bekräftigen. Über die letzten sechs Jahre betrachtet wurden 2019 die meisten Wohnungen gebaut. Mit unserer Wohnungsbauförderung CSOK und den vergünstigten Krediten konnten wir 700 Mrd. Forint in den Wohnungsmarkt lenken. Natürlich steigerte das die Nachfrage, mit der das Angebot im Bauwesen nicht Schritt halten konnte. Die Budapester Wohnungspreise sind jedoch ein Thema für sich. Die Niedrigzinsen und der schwache Forint riefen (ausländische) Anleger auf den Plan. Den dadurch generierten Preisanstieg bremst die Regierung mittels der im Sommer aufgelegten Superanleihe MÁP+, die 3.300 Mrd. Forint als Sparanlagen an den Fiskus umleitete und damit den Immobilienmarkt beruhigt. Unsere Zielstellung lautet unverändert, jungen Menschen zu eigenem Wohnraum zu verhelfen. Da es ungarnweit 550.000 leerstehende Immobilien gibt, muss neben dem Wohnungsneubau auch auf die Modernisierung ein Schwergewicht gelegt werden.


Wo sehen Sie noch Ungleichgewichte in der ungarischen Wirtschaft?

Da muss ich erst einmal vor der eigenen Haustür kehren: Der Staatshaushalt ist erst im Gleichgewicht, wenn das Defizit verschwunden ist. Am Arbeitsmarkt stehen 150.000 Menschen auf Arbeitsuche bereits 80.000 unbesetzte Stellen gegenüber. Und während wir Ausländer stimulierten, in Ungarn zu investieren, beschäftigten wir uns kaum mit der Frage, ungarische Investitionen im Ausland zu fördern.


Der Franzose Thomas Piketty hat erklärt, dass mehr Kapital in Form von Gewinnen und Dividenden außer Landes fließt, als in Form von EU-Fördermitteln hereinkommt.

Die Kapitalabsorptionskraft und Wirtschaftsleistung Ungarns widersprechen dieser Piketty-These. Die Zahlungsbilanz belegt, dass mehr Kapital ins Land kommt, als Gewinne abgeschöpft werden. Im vergangenen Jahr brachten Großinvestitionen 1.700 Mrd. Forint (5,2 Mrd. Euro), denn es lohnt sich, hier zu investieren. Die von Piketty entworfene Theorie ist irreführend, weil Ungarn demnach ärmer wäre, als ohne das Auslandskapital.


Eine polnische Studie hat offengelegt, dass sehr viele Euros aus Brüssel in die Geberländer zurückfließen. Das ist durchaus der Fall. Aber glauben Sie, BMW kommt wegen der Fördermittel nach Ungarn?

Die Fördermittel sind also kein Geschenk, und so stimmt wohl genauso wenig, dass einzig die EU-Gelder die ungarische Wirtschaft am Laufen halten.

Verblendete Linke behaupten, Ungarn wachse allein wegen der Fördergelder der Europäischen Union. Da diese Gelder auch unseren Nachbarn zuteilwerden, müsste also jedes Land mit fünf Prozent wachsen. Das ist aber nicht der Fall. Diese Gelder helfen, selbst wenn ihr Verwendungszweck begrenzt ist. Wir sollten uns daran erinnern, dass Ungarn schon unter der ersten Orbán-Regierung nach 1998 ein dynamisches Wachstum aufwies, als wir noch gar nicht in der EU waren. Diese Gelder helfen uns wie einem Kind beim Radfahren, das angeschoben werden will, aber danach auch allein gut zurechtkommt. Als Mitglieder der Gemeinschaft stehen uns die Gelder zu, denn wir zahlen unseren Beitrag und haben unsere Märkte geöffnet.



Das hier in Auszügen wiedergegebene Interview erschien zunächst im konservativen Wochenmagazin Mandiner.

Übertragen ins Deutsche von Rainer Ackermann.

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