Am 16. Januar trat Österreichs neuer, alter Kanzler Sebastian Kurz zu seiner ersten Auslandsreise an. Nach Prag, um an einem Gipfeltreffen der sogenannten „Visegrád-Länder“ teilzunehmen, also von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei.

Man kann es auch als seinen zweiten Auslandsbesuch betrachten, je nachdem wie man es sieht. Zuerst hatte er in Brüssel seinen Antrittsbesuch absolviert, aber da war er nicht bei der Regierung eines anderen Landes zu Gast, sondern bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ein wenig ist man in Brüssel immer auf eigenem Boden: Es sind ja die Mitgliedsländer, die zumindest theoretisch die EU regieren, und nicht umgekehrt.


Die Folgen des Brexit

Dort, in Brüssel, besprach Kurz mit der Kommissionschefin den wichtigsten Schritt in der Geschichte der EU seit dem Beitritt Großbritanniens, nämlich dessen Austritt. Ab dem 31. Januar ist die EU eine kontinentaleuropäische Angelegenheit, ohne die Engländer.

Das hat Folgen für die Machtstrukturen und das Beziehungsgeflecht in der Union, und für den Stil der Politik. Die EU wird kleiner und der Ton der politischen Auseinandersetzung in ihr wahrscheinlich härter werden. Weniger Geld steht zur Verfügung, aber keiner will weniger bekommen. Und um die Ausgestaltung der EU in den kommenden Jahren wird es heftige ideologische Auseinandersetzungen geben: Mehr oder weniger Integration? Moralische Werte oder kühle Pragmatik? Gegensätzliche nationale Interessen werden aufeinander prallen.

Und das Gravitationszentrum wird sich zwangsläufig nach Osten verschieben, jetzt wo im Westen ein gewichtiger Teil Europas wegbricht.

In diesem Sinne besprachen Frau von der Leyen und Sebastian Kurz eine heikle Mission, die sicher auch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel abgestimmt war: Sowohl die EU als auch Deutschland streben ein neues, partnerschaftlicheres und respektvolleres Verhältnis zu den V4 an. Sebastian Kurz soll dabei helfen. Immerhin waren Österreich und die eine ganze Reihe östlicher EU-Mitglieder früher mal ein Land: Das Habsburgerreich.

Diese Botschaft bekam er mit auf den Weg nach Prag.


Versöhnliche Töne

Und so stand er dort mit den Regierungschefs der vier mittelosteuropäischen Länder als Inkarnation eines spektakulären Neuanfangs. „Sehr freundlich“ sei der Ton der Gespräche gewesen, sagte Kurz. Die EU wolle die in den letzten Jahren aufgebrochene Gräben zwischen Ost und West überbrücken, sagte er, und als Brückenbauer sei er gekommen. Die V4-Regierungschef sagten ebenfalls konstruktive Dinge, unter anderem Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán: Man wolle sich nicht abschotten, sondern suche Kooperation und Gemeinsamkeit mit den anderen Ländern Europas.

Was passiert da? Waren nicht gerade eben noch Polen und Ungarn und überhaupt die „Osteuropäer“ die „Bösewichte“ der EU, antidemokratisch, korrupt und autoritär?


Die Bedeutung der Mitteleuropäer wächst

Was immer die Vergehen der Mitteleuropäer auch sein mögen, ihre Bedeutung für die EU und auch für Deutschland wird durch den Brexit jedenfalls wachsen. Kaum eine Entscheidung kann mehr ohne sie getroffen werden in den Institutionen der EU, solange sie als Block agieren und viele andere Länder der Region offen oder verdeckt mit ihnen an einem Strang ziehen, so wie Slowenien, Kroatien, Bulgarien und die baltischen Republiken.

Wirtschaftlich sind sie die Fabrikhalle Deutschlands, und Deutschland ist die Lokomotive der europäischen Wirtschaft. Aber so abhängig die Visegrád-Länder von westeuropäischen (oft deutschen und österreichischen) Konzernen und vom Handel mit diesen Ländern sind, so abhängig sind diese umgekehrt von den Mitteleuropäern. Die Vorteile, die westliche Investoren in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei genießen, sind ein Grund für ihre Profitabilität und damit für die globale Wettbewerbsfähigkeit der gesamten EU.

Eine langsame Abkehr vom deutsch-französischen Grundmodell als „Motor“ der EU zeichnet sich daher ab. Was sich neu herausschält, ähnelt sehr dem europäischen Grundriss vergangener Jahrhunderte. Hüben England (und zunehmend ein Frankreich, das sich von Deutschland entfernt), drüben ein an die deutschsprachigen Länder angebundener mitteleuropäischer Block.

Deutschland sah den Osten Europas in der Vergangenheit als sein bevorzugtes Entfaltungsgebiet. Diese Grundstruktur kehrt allmählich zurück und wird der EU eine neue Prägung geben.


Franzosen greifen auf bewährte Rezepte zurück

Und was ist mit der deutsch-französischen Freundschaft, die bislang der EU zugrunde lag? 2019 war ein Jahr immer häufigerer Reibereien zwischen Paris und Berlin: Der Beginn eines Ringens um Dominanz in einer neuen, kontinentaleren EU. Die Franzosen spüren, dass Deutschland in Zukunft klarer dominieren könnte als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, und versuchen das abzuwehren. Mit Rezepten, die schon von de Gaulle, Mitterand und anderen französischen Präsidenten angewendet wurden: Deutschland binden in Strukturen, die keine eigenen Wege erlauben, und in diesen Strukturen möglichst viele Schlüsselpositionen besetzen.

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Kanzlerin Angela Merkel und Premier Viktor Orbán im August 2019 in Sopron:Seit Sommer 2019 mehren sich die Zeichen, dass man in Brüssel und Berlin stärker auf Realismus und Pragmatik setzt. (Foto: Amt des Ministerpräsidenten / Balázs Szecsődi)


Macrons Ruf nach einer europäischen Armee ist ein solcher Schritt. Frankreich als einzige Atommacht des Kontinents, und als einziges Land mit dem Willen, auch im Ausland militärisch zu intervenieren, würde diese Armee dominieren. Seine Forderung nach mehr Integration in der Wirtschafts- und Finanzpolitik soll ebenfalls Berlins Spielraum für eigene Strategien auf diesem Gebiet einengen.


Deutschland vor neuer, alter Realität

Deutschland sieht sich derweil im Osten vor einer neuen, alten Realität. Die Länder Mittelosteuropas, so wie früher das Habsburgerreich, bieten sich als Verbündete an. Die entscheidende Entwicklung der letzten Jahre im Osten war nicht der verbale Schlagabtausch mit Berlin zu den Themen Migration, Rechtsstaat und europäische Integration, sondern das Drängen der Ostmitteleuropäer, Deutschland (und die EU) möge sie als strategische Partner anerkennen, und mit ihnen zusammen zu den Grundsätzen realistischer, pragmatischer Einfluss- und Interessenpolitik zurückkehren statt ständig Moral zu predigen.

Dieses Drängen währt hinter den Kulissen seit 2014/15. Und seit dem Sommer 2019 mehrten sich die Zeichen, dass man in Brüssel und Berlin diese Option zu erwägen beginnt. Ein erster Schritt in diese Richtung war die entscheidende Unterstützung der V4 für die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionschefin nach den Europawahlen, und deren Versprechen, dem Osten Europas mit „mehr Respekt“ zu begegnen.

Im August kam dann Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Ungarn und lobte die Regierung von Viktor Orbán: Sie arbeite etwa bei der Verwendung von EU-Mitteln „für die Bürger“. Außenminister Heiko Maas hat schon vor einem Jahr eine „neue Ostpolitik“ angekündigt. Er geht auf die V4 zu.

Auch ein FDP-Antrag im Bundestag vom 7. November fordert eine institutionalisierte strategische Kooperation mit der Visegrád-Gruppe. Obwohl das formal chancenlos ist, weil es von der Opposition kommt, haben eine ganze Reihe von Unionspolitikern gesagt, das sei absolut notwendig (etwa Bayerns ehemaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber im Interview mit der Budapester Zeitung) und dass man versuchen werde, in den Ausschüssen möglichst viel von dem Antrag in die Regierungspolitik zu übernehmen.

Brüssel und Berlin wenden sich in Anbetracht des Brexit also Mittelosteuropa zu. Damit will man die V4 wohl auch stärker einbinden und fernhalten von rechten Bewegungen in Italien und Frankreich.


Hindernis: Rechtsstaatsdebatte

Das größte Hindernis für eine Annäherung haben die EU und die deutsche Politik selbst aufgebaut: Die Rechtsstaatsdebatte und die Artikel 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn. Wie beendet man solche Verfahren? Niemand weiss es. Die „Sünder“ zu entlasten, traut sich keiner – aus Angst, sich damit selbst Angriffen auszusetzen. Eine Verurteilung geht auch nicht – sie würde Einstimmigkeit erfordern.

Die Lösung wäre der von der neuen EU-Kommission angedachte neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der für alle Länder gelten würde. Dann würde sich eine Chance eröffnen, die bestehenden Verfahren in den neuen Mechanismus zu überführen.

Da müsste man dann sehr viel vorsichtiger vorgehen, denn Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit haben in der einen oder anderen Form viele Länder, nicht nur Polen und Ungarn.


Rechtsstaat hier, Kooperation dort

Schon bereitet man in Brüssel eine erste Bestandsaufnahme zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 Mitgliedsländern vor. Sie soll während der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte präsentiert werden. Die offene Frage ist dabei, ob die bestehenden Artikel 7-Verfahren in diesen Rahmen überführt werden, oder separat davon weiterlaufen sollen. Das fordern Linke und Liberale. Im Europaparlament wurde in der vergangenen Woche mit großer Mehrheit ein Antrag angenommen, der eine Ausweitung der Artikel 7-Verfahren gegen insbesondere Polen um weitere Themenbereiche fordert.

Während diese Schlacht tobt, hat man sich in Brüssel und Berlin auf eine zweigleisige Strategie verlegt. Rechtsstaat hier, Kooperation dort – also zwei ganz verschiedene Dinge, die einander kaum berühren. Man könnte auch sagen: Hinter dem Theaterdonner der Rechtsstaatsdebatte kommt man hinter den Kulissen freundlich zusammen.

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