Gleich die erste Regierungssitzung im neuen Jahr befasste sich mit den Prioritäten der Energie- und Klimapolitik Ungarns bis 2030. Dem Ministerium für Innovationen und Technologien (ITM) obliegt nun die Aufgabe, einen breiten Konsens in der Gesellschaft und über alle Parteien hinweg zu erreichen, auf dessen Grundlage im Jahresverlauf die Nationale Strategie „für eine saubere Entwicklung“ verfasst werden soll. Die primäre Zielstellung dieser Bemühungen lautet, bis 2050 einen klimaneutralen Status zu erreichen.

Wie Innovationsminister László Palkovics erklärte, geschehe dies im Einklang mit den EU-Klimazielen. Allerdings sollte im Kontext der ungarischen Selbstverpflichtung manche Fußnote nicht unterschlagen werden. So erwarte Ungarn, dass die größten Verschmutzer (Staaten und Großunternehmen) anteilig mehr Kosten übernehmen, die Kosten der Familien für Energie und Grundnahrungsmittel nicht steigen dürfen, die Klimapolitik auf keinen Fall zu Lasten der Kohäsionsfonds geht, und dass die Nuklearenergie ein Teil der Lösung sein müsse. Um Klimaneutralität zu erreichen, kalkuliert die Regierung übrigens mit utopischen Kosten von 50.000 Mrd. Forint (150 Mrd. Euro) bis 2050. Das wären also über drei Jahrzehnte hinweg sage und schreibe fünf Milliarden Euro, die das Land jährlich für das edle Ziel der Menschheitsrettung abzweigen müsste.


In der Rolle der Grünen

Dabei glaubt Ministerpräsident Viktor Orbán eindeutig an den Ansatz, Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit ließen sich miteinander verknüpfen. Demnach sei es kein Widerspruch, die Wirtschaftsleistung weiter zu forcieren und immer neue, möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, weil sich die Armut anders nicht liquidieren lasse. Die Opposition nimmt dem Ministerpräsidenten derweil nur ab, die Interessen der Wirtschaftslobby zu vertreten – weder die Bedürftigen noch die Umwelt interessierten ihn wirklich. Schließlich hätten führende Fidesz-Politiker die Tatsache des Klimawandels an sich bis zuletzt bestritten. Womöglich habe die Niederlage bei den Kommunalwahlen im Oktober die Augen des Premiers geöffnet, der nun versuche, auf den fahrenden Zug der neuen Umweltsensibilität aufzuspringen.

Die grün-alternative LMP formulierte in Reaktion auf eine Pressekonferenz Orbáns besonders scharf: „Erst die Abwahl des Ministerpräsidenten, der sich plötzlich in der Rolle des grünsten Politikers Europas gefällt, wird eine echte Wende in der Klimapolitik Ungarns herbeiführen.“ Orbán wollte mit seinem gewohnt selbstbewussten Auftreten vor internationalen Journalisten zu Jahresbeginn wohl den Eindruck erwecken, er habe das Problem des Klimawandels nicht nur erkannt, sondern – quasi während der Festtage zum Jahresende – gleich noch die Lösung für Ungarn gefunden. Tatsache sei jedoch, dass eben seine Regierung in zehn Jahren die Institutionen des Natur- und Umweltschutzes zerschlagen, erneuerbare Energien mit Sondersteuern belegt und in ihrer Wirtschaftspolitik die Interessen der deutschen Industrie über die Nachhaltigkeit gestellt habe, schrieb die Oppositionspartei.


Sind Windanlagen Luxus?

Auf besagter Pressekonferenz kündigte Orbán erste konkrete Maßnahmen im Rahmen eines demnächst zu lancierenden Aktionsplans zum Schutz des Klimas und der Umwelt an. So dürfen ab 2022 ausschließlich Busse mit Elektroantrieb für den städtischen Nahverkehr angeboten werden, sollen sämtliche illegalen Deponien im Lande binnen zwei Jahren (!) beseitigt, Plastik als Verpackungsmaterial verdrängt und die Flüsse von der Schwemme an PET-Flaschen befreit werden. Zur bevorstehenden Energiewende erklärte der Ministerpräsident: „Wir werden keine Genehmigungen für weitere Windkraftwerke erteilen, denn wir sind kein reiches Land. Also konzentrieren wir uns lieber auf die Nuklear- und die Solarenergie.“ Das entrüstete die Grünen, die dem Fidesz vorhalten, lieber eine unbestimmte Summe von vielen tausend Milliarden Forint für das Projekt AKW Paks 2. aufzuopfern. (Allein der russische Rahmenkreditvertrag ist auf 10 Mrd. Euro veranschlagt, womit aber längst nicht alle Kosten des Gigaprojekts gedeckt sind.)

„Angeblich kann sich Ungarn Windanlagen nicht leisten, finanziert also stattdessen ein überteuertes, von vornherein technologisch veraltetes, gefährliches und überflüssiges Atomkraftwerk, das vermeintlich den Schlüssel zur Klimaneutralität bietet”, lautete der zynische Kommentar der LMP. Die ungarischen Grünen befürchten, die Klimapläne der Orbán-Regierung sollen die Erweiterung des einzigen Atomkraftwerks im Lande legitimieren, indem den Menschen eingeredet werde, die Nuklearenergie sei klimaneutral, preiswert und sicher. Was das Land wirklich brauche, sei ein neuartiges Spitzenministerium, das gestützt auf die Prinzipien der Nachhaltigkeit auf die Tätigkeit der übrigen Ministerien Einfluss nehmen würde, mit umfassenden Vorschlägen, die strukturelle Veränderungen in der Wirtschafts-, Agrar- und Gesellschaftspolitik herbeiführen. Auch bei der Umstellung der Energieversorgung nach „grünen“ Gesichtspunkten könne Ungarn ruhig für Ideen beim Nachbarn Österreich Ausschau halten.


Die Liga der Klima-Champions

Soweit die frommen Wünsche der Opposition. Näher an der Realität sind zweifellos jene Schritte, die Orbán verkündet, denn seit einem Jahrzehnt legitimiert sich sein Fidesz mit einer Zweidrittelmehrheit. Der Ministerpräsident lässt seinen Innovationsminister Energie- und Klimapolitik miteinander verknüpfen, weil „diese beiden Fragen nur gemeinsam einen Sinn machen“. Zur bevorstehenden Klimakatastrophe hält sich in Regierungskreisen die Ansicht, das Leben der Ungarn im Karpatenbecken lasse sich selbst noch beim Eintreten des ungünstigsten Szenarios aufrechterhalten. Was es dazu brauche, sei eine fein säuberlich und in aller Ruhe durchdachte Anpassung an den Klimawandel. Mit entsprechender Planung werde diese Region nämlich imstande sein, sich ausreichend mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser zu versorgen sowie eine saubere Umwelt zu erhalten. Was die Anpassungsfähigkeit anbelange, sei Ungarn bestens aufgestellt.

Orbán spricht geradeheraus von einem „Klima-Champion“. Es gebe nämlich genau 21 Länder auf der Welt, die den Ausstoß an Kohlendioxid mindern konnten, während sie ein Wirtschaftswachstum vorlegten. Sein Ausgangspunkt ist das Wendejahr 1990; seither habe Ungarn seine Kohlendioxidemissionen um 32 Prozent, den Energieverbrauch um 15 Prozent reduziert. „Wir gehören zum Spitzenfeld der Klima-Weltmeisterschaft. Ich weiß, dass es ungewohnt klingen mag für die Ungarn, aber beim Klimaschutz liegen wir vor Ländern wie Deutschland oder Österreich.“ Zwar untermauerte der Ministerpräsident diese Aussage nicht mit konkreten Zahlen, verwies aber auf die mit dokumentierten Konzepten unterlegte Zielstellung, die Energieerzeugung bis 2030 zu 90 Prozent klimaneutral zu gestalten. Für die vollständige Klimaneutralität bis 2050, also für die verbleibenden zehn Prozent, sei aber so viel Geld vonnöten, dass es lange Diskussionen in ganz Europa geben werde, woher dieses Geld kommen soll und ob sich das denn auch lohne.


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Innovationsminister László Palkovics sitzt am Steuer, wenn es gilt,Energie- und Klimapolitik miteinander zu verknüpfen. (Foto: Ministerpräsidentenamt/ Árpád Földházi)


Mit Zahlen ist es freilich so eine Sache. Jeder setzt den Vergleich nach eigenem Gutdünken an. Der aktuelle, ungefähr seit 2014 anhaltende Aufschwung der ungarischen Wirtschaft hat die Kohlendioxidemissionen sehr wohl wieder steigen lassen, und zwar um mehrere Prozentpunkte jährlich. Mit Dänemark vergleicht sich der „Klima-Champion“ Ungarn besser nicht. Während Ungarn laut Energiestaatssekretär Péter Kaderják den Ausstoß an Treibhausgasen gegenüber 1990 bis 2030 um mindestens 40 Prozent reduzieren will, drücken die Dänen das Niveau von 1990 auch ohne Systemwechsel auf 30 Prozent. Ungarn will den Anteil der erneuerbaren Energien von heute 14 auf mindestens 21 Prozent steigern, Dänemark deckte allein aus Windenergie im vergangenen Jahr einen Rekordanteil des Energiebedarfs von 47 Prozent ab. Immerhin setzt sich Ungarn das redliche Ziel, seinen Energiebedarf selbst bei einem dynamischen Wachstum der Wirtschaft nicht mehr zu erhöhen – allerdings gegenüber dem Stand von 2005.


Ungereimtheiten um die Kohle

Für die bessere Planbarkeit seiner Volkswirtschaft setzt Orbán praktisch in allen Bereichen auf Zentralisierung. An das Primat des freien Marktes glaubt er schon gar nicht. In der Energiepolitik schlägt sich dies beispielsweise in amtlich festgezurrten Tarifen für die Bevölkerung und einer staatlichen Hegemonie im Segment der Energieversorgungsunternehmen nieder. Selbst die Konzeption von zwei neuen Reaktorblöcken in Paks macht aus diesem Blickwinkel Sinn. Bringt diese doch in Wirklichkeit nicht den Ausbau der Nuklearenergiekapazitäten mit sich, sondern bewahrt ganz schlicht das Atom-Modul über die 2030er Jahre hinaus für den ungarischen Energiemix. Einen ähnlichen Ansatz der zentral gesteuerten Energiepolitik könnte man im Umgang mit dem Mátra-Kraftwerk erkennen. Gestützt auf gigantische Braunkohlelagerstätten ist es das einzige verbliebene Kohlekraftwerk des Landes und neben Paks der zweite starke Pfeiler in der Grundlastversorgung.

Weil die Umweltkosten beim Kohleabbau immer mehr in den Vordergrund rücken, überlegten die deutschen Betreiber des Mátra-Kraftwerks schon früher gemeinsam mit ihrem staatlichen Juniorpartner MVM an Alternativen. Das Konsortium RWE-EnBW brachte durchaus Projekte wie die Einrichtungen von Solarparks auf dem Gelände von Abraumhalden und die zunehmende Verwertung von Biomasse auf den Weg, bevor man sich endgültig aus Ungarn zurückzog. Doch nicht die staatliche Energieholding MVM trat als Käufer in Erscheinung, sondern die Opus-Gruppe von Orbán-Freund Lőrinc Mészáros. Mészáros, der nichts gegen Vergleiche mit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg einzuwenden hat, gilt nicht nur für die Opposition als Strohmann, auch Freidenker in der Wirtschaft sehen ihn als Marionette.

Orbán verbreitet in seiner Polemik – an die Adresse des ungarischen Wählers gerichtet – immer wieder das Bild von den profitgierigen Auslandsinvestoren. Er schickte also Opus als Flaggschiff des Mészáros-Imperiums ins Rennen, eine mittlerweile an der Budapester Börse notierte Holdinggesellschaft, die somit als Retter tausender Arbeitsplätze in Erscheinung treten durfte. Kaum dass sich die neuen Herren beim Mátra-Kraftwerk eingerichtet hatten, kam es jedoch am Jahresende 2019 zu einer unverhofften Wendung: Von Überlegungen der Versorgungssicherheit, der Bewahrung von Arbeitsplätzen und des Klimaschutzes angetrieben wird MVM Opus das Kohlekraftwerk abkaufen.

Innovationsminister Palkovics rechtfertigte diese Kehrtwende kurz vor Weihnachten tatsächlich mit den Worten, die Stilllegung zu verhindern. Opus wollte nämlich – nach Entnahme einer zweistelligen Milliardendividende, die angeblich dem Kaufpreis entsprach – den Aktionären nicht länger zumuten, die wegen immer teurerer Verschmutzungsrechte in Zukunft erwarteten Verluste zu tragen. Für die Zertifikate im Handel mit Kohlendioxidemissionen werden heute wieder Preise wie vor der Weltwirtschaftskrise gezahlt – für das Mátra-Kraftwerk ist dies schon aktuell die größte Kostengröße. Die MVM-Gruppe entschied sich also zur Übernahme eines potenziellen Milliardengrabs, ohne den Kaufpreis zu fixieren. Während sich die Ungereimtheiten häufen, spricht die Opus-Gruppe in ihrer Börsenmitteilung nicht länger von einem „gegenseitig vorteilhaften Geschäft auf rationaler Basis“.


Brüssel in die Pflicht nehmen

Es ist in jedem Fall der Staat, der nun auch formell das Mátra-Kraftwerk an sich zieht, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die restlichen, vorerst unbestimmten zehn Prozent im Energiemix handelt. Um jene zehn Prozent, die auch bis 2030 nicht als klimaneutrale Energieerzeugung durchgehen werden. Heute deckt dieses Kraftwerk mit seiner Braunkohle ein Sechstel des ungarischen Energiebedarfs, während der Importanteil immer häufiger über 30 Prozent steigt. Mit einer Modernisierung und Neuausrichtung will die Orbán-Regierung den Standort im Mátra-Gebirge zu einem Garanten der wachsenden Energieunabhängigkeit des Landes machen. Neben der Zielstellung, den Anteil der Energieimporte unter 20 Prozent zu drücken, spielen auch industriepolitische Aspekte eine gewichtige Rolle.

Die gut 2.000 Arbeitsplätze im Kraftwerk sollen unter anderem durch die Umstellung auf einen Gasturbinenbetrieb und die Verbrennung von Haushaltsmüll bewahrt werden. Die technologische Lebensdauer der Kohleblöcke geht 2029 zu Ende. Ein Block soll anschließend in Bereitschaft gehalten werden, weil die auf mehr als 2,5 Milliarden Tonnen geschätzten Braunkohlevorkommen als strategische Reserve eingestuft wurden, die dem Land in einer Notfallsituation zur Verfügung stehen. Die Positionierung Ungarns bei der Lancierung des „Green Deal“ der neuen Europäischen Kommission hat deutlich gemacht, dass die Orbán-Regierung Brüssel bei der technologischen Umstellung des Mátra-Kraftwerks im klimafreundlichen Geiste kräftig in die Pflicht nehmen will. So fügt sich das große Kohleprojekt in eine Reihe strategischer Weichenstellungen, wie einst dem Rückkauf des russischen Aktienpakets am nationalen Mineralölkonzern MOL oder der Rücknahme der E.ON-Gassparte.

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