Das Jahr 2019 verabschiedet sich mit einer Erinnerung daran, dass das Leben immer voller Überraschungen ist. Ungarns Innen- und Außenpolitik war in den letzten 12 Monaten voll davon. Nachdem sich die Regierung als Folge ihres souveränen Wahlsieges 2018 wohl etwas zu stark fühlte und den Bogen öfter überspannte, etwa mit der folgenreichen Anti-Soros-Kampagne gegen die EU oder Angriffen gegen die Justiz (man erinnere sich an Ministerpräsident Orbáns Worte, das Oberste Gericht (Kúria) sei „seiner Aufgabe intellektuell nicht gewachsen“, als es eine unliebsame Entscheidung traf), wurde 2019 zum Jahr der Einsicht, dass man neben der Brechstange auch andere Werkzeuge in der Politik braucht.

Orbán Ende 2018 war einer, der in Brüssel den Ursprung finsterer Verschwörungen gegen Ungarn sah, die gesamte EU-Politik sowie die christdemokratische Parteienfamilie EVP nach rechts rücken wollte, und in der Innenpolitik „Soros-Söldner“ am Werk wähnte.

Orbán Ende 2019 ist einer, der die neue EU-Kommission über den grünen Klee lobt, kein schlechtes Wort mehr über die EVP verliert, diese auch nicht mehr nach rechts bewegen will, und sich als „Partner“ für die Opposition anbietet, die mittlerweile bei den Kommunalwahlen am 13. Oktober Budapest und mehrere andere Städte eroberte. Sie verfügt damit über eine neue, breitere Machtbasis.

Orbán 2018 war der Fels, an dem alles bricht. Orbán 2019 war wie Bambus – das biegt sich, aber bricht nicht im Wind.


Innenpolitik: Parlamentswahlen 2022 plötzlich spannend

Das wichtigste Ereignis war natürlich die Kommunalwahl am 13. Oktober. Nachdem es zunächst noch so aussah, als würde die Opposition sich in Vorwahlen für ihren Oberbürgermeisterkandidaten in Budapest selbst zerfleischen, gewann Gergely Karácsony (MSZP/Párbeszéd) die Wahl dann doch souverän. Die erstmals vereint auftretende Opposition konnte zudem auch die Mehrheit der Budapester Bezirke und eine Mehrheit im Stadtrat erringen, sowie mehrere andere Städte erobern. Das macht die nächsten Parlamentswahlen 2022 plötzlich spannend.

Allerdings ist Karácsony das einzige Gesicht der Opposition mit Ausstrahlungskraft, und der muss erstmal in Budapest zeigen, ob er führen kann – ohne eigene Hausmacht. Allein schon die Besetzung von Schlüsselposten in Budapest zeigte, dass weniger sein Wille zählt als der seiner „Freunde“ in den Parteien des Oppositionsbündnisses. Die ersten Entwicklungen zeigen aber, dass sowohl Regierung als auch die neue Budapester Führung pragmatisch agieren und zu Kompromissen bereit sind. Etwa bei der Vorbereitung der von der Regierung angestossenen Athletik-WM, für die im Stadtteil Csepel ein großes Stadion entstehen soll.

Auf jeden Fall brechen innenpolitisch neue Zeiten an. Eine bipolare Parteienlandschaft entsteht: Fidesz und das Oppositionsbündnis sind dabei, die beiden großen Lager, mit jeweils 40 bis 50 Prozent Rückhalt in der Bevölkerung. Die Zeiten, da der Fidesz groß und alle anderen klein und zerstritten waren, sind wahltechnisch offenbar vorbei. Als neue stärkste Kraft im Bündnis der Opposition schälte sich gegen Jahresende die liberale „Momentum“ heraus. Dieser Prozess dürfte sich 2020 fortsetzen, allein schon deswegen weil es die einzige Partei ist, gegen die der Fidesz noch kein probates Mittel gefunden hat. Gegen sie verfängt bisher kein „negatives“ Etikett.


Gesellschaftspolitik: Alles für eine Demographiewende

Ministerpräsident Viktor Orbán hat 2018 eine Demographiewende zum überragenden strategischen Ziel für die Zeit bis 2030 erklärt. Die Umsetzung dieses ambitionierten Programms begann im Juli 2019. Familien werden fortan mit noch mehr Geld gefördert als bisher – Baukindergeld, Kredite für junge Ehepaare, Zuschüsse beim Kauf von Großraumwagen für Familien. Außerdem übernimmt die Regierung die Schulden aus Studentenkrediten junger Mütter. In der Bevölkerung trifft all das auf große Zustimmung. Nur stellt sich bislang – auch nach all den familienfreundlichen Maßnahmen der Vorjahre – noch immer keine verbesserte Geburtenrate ein. Im ersten Halbjahr 2019, als die neuen Leistungen noch nicht galten, wurden sogar deutlich weniger Kinder geboren als im Vorjahreszeitraum – vielleicht weil Familien ihren Kinderwunsch genau wegen der zu erwartenden neuen Subventionen hinausschoben.

Seither ist Stillstand eingetreten. Im Juli, als die neuen Familienförderungen in Kraft traten, wurden immerhin 55 Kinder mehr geboren als im Vorjahresmonat, im August gab es 43 Babys weniger als im selben Monat des Vorjahres, und im September 2019 waren es drei Kinder weniger als im September 2018. Das Ergebnis der ersten drei Monate von Juli bis September beläuft sich auf also auf genau 9 zusätzliche Babys.

Erst 2020 wird man also die Auswirkungen der neuen, noch intensiveren Familienpolitik belastbar quantifizieren können. Vorerst ist die Zahl der „lebend geborenen“ Kinder für Januar-September 2019 aufgrund der schlechten Zahlen im ersten Halbjahr und trotz der leichten Verbesserung seit Juli im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 1,6 Prozent gesunken, die Geburtenrate sank damit von 1,49 auf 1,48.


EU: Druck auf Ungarn verliert an Kraft

Ungarns Wahlkampf im Vorfeld der EU-Parlamentswahlen vom 26. Mai mutete streckenweise an als sei es ein Wahlkampf gegen die EU selbst. Und gegen die eigene Parteienfamilie EVP, mit außerordentlich scharfen Angriffen gegen den scheidenden EU-Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker, der zur EVP gehört, und zum Schluß sogar gegen den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber, dessen Kandidatur letztlich maßgeblich an Ungarns Widerstand scheiterte.

Die EVP-Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei Fidesz wurde im Lichte all dessen suspendiert. Das verstärkte auch den Druck auf Ungarn im Disziplinarverfahren gegen das Land laut Art. 7 des EU-Vertrages wegen „systematischer Gefährdung demokratischer Grundwerte“. Dieses Verfahren war im September 2018 vom Europaparlament angestoßen worden.

An all diesen Fronten trat nach der Europawahl (aus der der Fidesz als glänzender Sieger hervorging) jedoch eine spürbare Änderung im Tonfall ein.

Im EVP-Verfahren sollten „drei Weise“ untersuchen, ob der Fidesz noch eine EVP-kompatible Politik betreibt. Damit war der Konflikt erstmal eingehegt. In der Folge vereinbarte man, nur solche Themen untersuchen zu wollen, die nicht bereits Gegenstand irgendeines EU-Verfahrens waren oder sind. Das grenzte das Feld erheblich ein – ein gutes Zeichen für den Fidesz. Im Wesentlichen konnte es da eigentlich nur noch um die geplante Einführung neuer Verwaltungsgerichte gehen, aber der Fidesz verzichtete letztlich ganz auf diese Reform, wohl auch um keine weitere Angriffsfläche im Art. 7-Verfahren zu bieten. In dessen Rahmen fand im September eine erste und am 10. Dezember die zweite förmliche „Anhörung“ in Brüssel statt.

Für beide Verfahren gilt aber, dass sie schwer zu beenden sind. Eine Entlastung Ungarns beziehungsweise der Regierungspartei würde jene Kräfte, die das befürworten, starkem politischem Druck aussetzen. Aber eine Verurteilung würde das Gewebe der EU beziehungsweise der EVP einer starken Zerreissprobe aussetzen. Kein Wunder, dass der ursprünglich für Oktober versprochene Bericht der „Drei Weisen“ auf Ende Dezember verschoben wurde, und eine Entscheidung von November 2019 auf Februar 2020.

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Kanzlerin Angela Merkel im August in Sopron zusammen mit Premier Viktor Orbán. (Foto: MTI / Szilárd Koszticsák)


Außenpolitisch war 2019 das erfolgreichste Jahr der Orbán-Ära.

Wann und wie das Art. 7-Verfahren enden könnte, ist gar nicht abzusehen. Die finnische Ratspräsidentschaft hat die Sache aktiv vorangetrieben, mit der ersten Anhörung im September und einer zweiten am 10. Dezember. Die Kritiker Ungarns hoffen auf eine „Bewertung“ der Mitgliedsstaaten noch im Januar, aber dann übernimmt bereits Kroatien die turnusmäßige Ratspräsidentschaft. Linke und Liberale fürchten, dass Kroatien nicht den „Willen“ aufbringt, das Verfahren voranzutreiben. Deutschland hofft seinerseits , dass die Sache vor Beginn seiner Ratspräsidentschaft im Sommer 2020 vom Tisch sein wird, alle anderen hoffen umgekehrt, dass Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft stark genug sein wird, die Angelegenheit zum Abschluss zu bringen.

So oder so erfordert letztendlich eine Sanktionierung Ungarns im EU-Rat der Regierungschefs Einstimmigkeit. Ungarn und Polen, gegen das auch ein Art. 7-Verfahren läuft (angestoßen von der EU-Kommission) schützen sich da jedoch gegenseitig. Selbst eine Vier-Fünftel-Mehrheit im Rat ist fraglich – die wäre nötig, um auch nur eine „schwerwiegende Gefährdung der Grundwerte“ in Ungarn feststellen zu lassen.

Ungarns Strategie wurde in der zweiten Anhörung im Dezember deutlich: Die Regierung bietet de facto an, die Pläne der neuen EU-Kommission zu unterstützen und einen permanenten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus einzuführen, der für alles Länder gelten würde, statt nur punktuell einzelne Mitgliedsstaaten zu überprüfen. Im Gegenzug soll das Art. 7-Verfahren fallengelassen werden. Darum wird es wohl im nächsten Jahr viel Streit geben.


Außenpolitik: Erfolgreichstes Jahr der Orbán-Ära

Außenpolitisch war 2019 das erfolgreichste Jahr der Orbán-Ära überhaupt. Nicht nur seit seinem Amtsantritt 2010, sondern einschließlich seiner ersten Regierungszeit 1998-2002. Erstmals wurde er nach Washington geladen, um den US-Präsidenten zu besuchen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Russlands Präsident Wladimir Putin, der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan kamen nach Budapest, und Orbán reiste zu einem Gespräch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach Paris. In der EU hat Ungarn sein Gewicht deutlich erhöht: Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wäre ohne Orbán nicht an ihr Amt gekommen, und dank der von Ungarn forcierten Kooperation der Mitteleuropäer im Rahmen der Visegrád-Gruppe haben diese Länder kollektiv ihren Einfluss in der EU deutlich gestärkt.

Die Folge: Deutschland und Frankreich bemühen sich neuerdings abwechselnd und teilweise rivalisierend um die Gunst der Visegráder, die sich so aussuchen können, bei welchem Thema sie mit welchem der beiden EU-Schwergewichte gemeinsame Sache machen wollen. Klassisches Beispiel war das Tauziehen um die Vergabe des EU-Kommissionsvorsitzes nach der Europawahl. Gemeinsam mit Macron ließen die Visegráder Manfred Weber und damit das Prinzip des „Spitzenkandidaten“ fallen, gemeinsam mit Deutschland verhalfen sie hingegen der deutschen Ursula von der Leyen zum Durchbruch.

Auch die USA unter Donald Trump haben beschlossen, den Visegrád-Block aufzuwerten und zu stärken, Russland, China und die Türkei sehen Ungarn als ihren besten Ansprechpartner in der Region. Das ist nicht jedem lieb, aber realpolitisch und strategisch ist es ein Vorteil.

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