Ende September, zwei Wochen vor den Kommunalwahlen am 13. Oktober, begann ein bis heute unbekannter Blog-Schreiber, dem amtierenden Oberbürgermeister von Győr, Zsolt Borkai, mit Enthüllungen zu drohen. Der Rest ist jedem Ungarn bekannt: Fotos und Videos von Borkai beim Sex mit Prostituierten auf einer Luxusjacht in Kroatien wurden veröffentlicht, verbunden mit unheilvollen Andeutungen über Korruption, Geldwäsche und Drogenkonsum. Dafür wurden aber keine Belege geliefert. Bewiesen wurde nur der außereheliche Sex eines Bürgermeisters, der für die Regierungspartei in den Wahlkampf gezogen war mit einer Botschaft christlicher, familienzentrierter Politik. Die dann durch die Sex-Videos Lügen gestraft wurde.


Wahlergebnis beeinflusst

Wer mochte dahinter stecken? Viele verdächtigten Kreise im Umfeld der Oppositionspartei „Demokratische Koalition“ (DK). Die Polizei ermittelt gegen mehrere Personen wegen versuchter Erpressung. Mittlerweile wurde bekannt, dass ein Ex-Profifußballer namens Póczik (der früher als DK-Anhänger für den Stadtrat kandidierte) Borkai Abzüge der Sex-Fotos übergab. Er will dafür kein Geld verlangt haben, aber in einem mitgeschnittenen Gespräch Pócziks mit einem anderen Ex-Fußballer namens Puska – das vom TV-Sender RTL Klub veröffentlicht wurde – ist die Rede von zehn Millionen Forint, die Borkai zahlen soll. Diese Forderung, so ist dem Gespräch zu entnehmen, stammt aber von einer dritten Person, also weder von Póczik noch von Puska. Fortsetzung folgt…

Borkai gewann die Wahl knapp, trotz Skandals. Der Schaden für das Ansehen der Regierungspartei Fidesz war aber enorm und dürfte das Wahlergebnis in mehreren Städten beeinflusst haben. Der Skandal bleibt darüber hinaus politisch radioaktiv und wird der Regierung vermutlich auch langfristig noch Sorgen bereiten.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Publicus gleich nach der Wahl hatten 74 Prozent der Befragten von der Affäre gehört, und von diesen wiederum drei Prozent beschlossen, dass sie entgegen ihrer früheren Absicht doch wählen gehen. Die linke Tageszeitung Népszava extrapolierte diese Zahl und folgerte, dass 180.000 Menschen ausdrücklich wegen dieser Affäre zu den Urnen gingen. Vermutlich waren das also 180.000 zusätzliche Stimmen für die Oppositionsparteien.

Der Umfrage zufolge blieben zudem ein Prozent jener, die von der Sache gehört hatten, deswegen zu Hause, statt wählen zu gehen. Das wären extrapoliert also etwa 60.000 verlorene Stimmen, vermutlich von potentiellen Fidesz-Wählern. Ein Gesamteffekt von 240.000 Stimmen. Ministerpräsident Viktor Orbán selbst gibt zu, der Skandal habe sich negativ auf das Wahlergebnis ausgewirkt.


Staatsanwaltschaft ermittelt

Kein Wunder, dass man bei der Regierungspartei hofft, die Sache sei jetzt vorbei. Borkai ist „freiwillig“ aus dem Fidesz ausgetreten und trat nach der knapp gewonnenen Wahl auch als Oberbürgermeister zurück. Er wartete gerade lang genug, um die Stadt zunächst für den Fidesz zu halten, und auch um Neuwahlen zum Stadtrat unnötig zu machen. Ein neuer Oberbürgermeister muss aber gewählt werden. Der Termin ist für den 26. Januar angesetzt.

Balázs Orbán, Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, sagte auf einer Podiumsdiskussion im Danube Institute am 25. November, die Borkai-Affäre habe zunächst sehr übel ausgesehen, da es um Sex, Drogenkonsum und Korruption zu gehen schien. Inzwischen habe sich aber herausgestellt, dass es „nur“ ein Sex-Skandal sei. Er formulierte damit die Hoffnung der Regierungsseite, dass die Sache vorbei sei und außer der unappetitlichen Sex-Geschichte keine weiteren brisanten Informationen generieren werde.

Das stimmt nur insofern, als der fragwürdige Blog, über den die Enthüllungen verbreitet wurden, zwar Belege für Korruption und Drogenkonsum Borkais angekündigt hatte, diese aber nicht lieferte. Das wirkt so, als seien es leere Drohungen gewesen, ohne wirkliche Insider-Informationen.

In Wirklichkeit aber ist die Borkai-Affäre, die nun bereits seit zwei Monaten andauert, noch lange nicht vorbei. Und inzwischen geht es überhaupt nicht mehr um Sex, auch nicht um Drogen – sondern nur noch um Verdacht auf Korruption und Geldwäsche.

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Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Zsolt Borkai vom soliden Fidesz-Statthalter zum riesigen Problemfall für die Partei.


Insgesamt wurden seit den Enthüllungen sechs Anzeigen gegen Borkai erstattet. Vier bezogen sich auf Korruptionsverdacht, eine auf Geldwäsche, und eine auf Verdacht des Drogenkonsums und der Nötigung zu Sex. Letztere wurde abgewiesen. Auch eine der vier Korruptionsanzeigen wurde „in Ermangelung einer Straftat“ abgelehnt.

Drei andere aber wurden von der Staatsanwaltschaft akzeptiert, zu einem gemeinsamen Dossier vereint, und nun wird in der Sache ermittelt. Hinzu kommt ein Ermittlungserfahren zu dem Vorwurf, Borkai habe auf einer „Urlaubsreise” auf die Malediven dort in Wirklichkeit Geld aus korruptionsverdächtigen Geschäften gewaschen beziehungsweise offshore in Sicherheit gebracht. Mit anderen Worten, eine längere Dauer der Affäre ist garantiert, mit einem potentiell wesentlich gefährlicheren Impakt für die Regierung.


Sagenhafte Wertsteigerung eines Grundstücks

Inhaltlich geht es bei den drei Korruptions-Anzeigen um ein Grundstücksgeschäft, das schon vor Jahren Gegenstand medialer Verdächtigungen war. Wie ein Magnet der Begehrlichkeiten steht der deutsche Audi-Konzern im Mittelpunkt dieser Geschichte. Demnach kaufte eine 2010 in Luxemburg gegründete Firma vier Jahre lang Agrarflächen im Gesamtwert von insgesamt etwa 1,3 Milliarden Forint auf, um sie dann auf einen Schlag im Jahre 2014 für rund 7 Milliarden Forint zu verkaufen. Grund der Wertsteigerung: Die Stadtverwaltung (geführt von Borkai) hatte die Felder neu ausgewiesen als Industrie-Grundstücke, und sie lagen „zufälligerweise” genau dort, wo der deutsche Audi-Konzern dann sein Logistikzentrum bauen wollte. Indirekt, so berichteten Investigativ-Medien schon damals und jetzt wieder, wurde die Luxemburger Firma vom Győrer Rechtsanwalt Zoltán Rákosfalvy kontrolliert.

Der Verdacht auf unlauteres Geschäftsgebaren liegt dann nahe, wenn man nachweisen kann, dass es in Wirklichkeit ein zwischen Borkai und Rákosfalvy abgekartetes Spiel war. Die beiden standen einander sehr nahe – so nahe, dass sie beide auf der ominösen kroatischen Luxusjacht gemeinsam Gruppensex mit besagten Damen hatten. Die meisten Menschen würden daraus folgern, dass zwei so prominente und damit erpressbare Männer – der bekannte Politiker und im Falle von Rákosfalvy einer der reichsten Anwälte im Land – sich gemeinsam nur dann auf eine solche Situation einlassen würden, wenn sie dem anderen blind vertrauen können.

Juristisch aber reichen solche Annahmen nicht, es muss nachgewiesen werden, dass es konkret eine Absprache gab, die zu einem unlauteren Geschäftsvorteil für Rákosfalvy führte, und zu einem geldwerten Vorteil für Borkai. Wenn das gerichtlich nicht nachgewiesen werden kann, liegt keine Straftat vor.


Politisches Risiko bleibt

Aber selbst im Falle eines Freispruches, oder wenn die Ermittlungen ergeben, dass kein schwerer Tatverdacht vorliegt und es gar nicht zu einer Anklage kommt, bleibt das politische Risiko dieser Affäre enorm. Investigative Medien werden sich fieberhaft auf den Fall konzentrieren, beziehungsweise tun das bereits seit Wochen. Und da führen diverse Fäden von Rákosfalvy und seinen Geschäftspartnern zur Regierungspartei. Angefangen bei seiner Zeit als Rechtsberater der Fidesz-Parlamentsfraktion 2011/12. Damals war János Lázár Fraktionschef, bevor er dann Kanzleramtsminister wurde (2014-2018).

Dann sind da die Casino-Konzessionen (Rákosfalvy ist der zweitgrößte Casino-Besitzer des Landes nach den Erben des verstorbenen Orbán-Freundes und Filmproduzenten Andy Vajna, und böse Zungen behaupten, solche Konzessionen bekomme man in Ungarn nicht ohne sehr gute politische Verbindungen). Medienberichten zufolge gibt oder gab es überdies zumindest indirekt geschäftliche Verflechtungen zwischen Rákosfalvy’s Geschäftspartnern Gábor Kacsóh, Atilla Paár und János Somogyi einerseits und Viktor Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz sowie dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Zsolt Semjén andererseits. Angeblich sei Semjéns – in den ungarischen Medien ungnädig aufgenommene – Lapplandreise zur Rentierjagd vom Hubschrauber aus indirekt aus diesem Kreis finanziert worden.


Wie ein loser Faden

All das ist Hörensagen und vor Gericht ohne schlüssige Belege nichts wert. Aber wenn der Borkai-Skandal noch Monate oder gar Jahre in den Schlagzeilen bleibt, mit jeweils neuen Informationen aus – oder Mutmaßungen zu – den Ermittlungen, dann kann das dem Image der Regierung in der Öffentlichkeit nicht guttun. Nicht Monate oder Jahre, sondern wohl nur Tage oder Wochen wird man warten müssen, um Genaueres zu erfahren über Borkai’s Vermögensverhältnisse. Die Győrer Stadtverwaltung hatte bisher, einzigartig in Ungarn, eine Einsicht von Medienvertretern in diese gesetzlich obligatorischen Vermögenserklärungen nur persönlich und nach Verabredung erlaubt. Nun urteilte ein Győrer Gericht rechtskräftig, dass die Stadt einem Antragssteller – dem Enthüllungsportal átlátszó.hu – das Dokument per Email zukommen lassen müsse.

Die Opposition hofft nun natürlich, dass die Borkai-Affäre am Ende so wirkt, wie ein loser Faden, an dem man nur ziehen muss, damit der ganze Pullover sich auflöst und das vermeintliche oder tatsächliche „Orbán-System” zerbricht. Aber selbst wenn es nicht zu dermaßen extremen Auswirkungen kommt, wird die Angelegenheit auf längere Sicht hinaus politisch „radioaktiv” bleiben.

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