Nicht einmal die Regierung in Budapest hatte es für möglich gehalten, dass der Schwung über das erste Halbjahr hinaus reichen wird. Doch vergangene Woche präsentierte das Zentralamt für Statistik (KSH) die erste Schätzung der Wachstumszahlen für das Herbstquartal, in der noch einmal an der magischen Fünf festgehalten wurde. Damit handelt es sich um das achte Quartal in Folge, in dem die ungarische Wirtschaft diese ungewöhnlich hohe Wachstumsdynamik vorweisen kann.


Seit dem IV. Quartal 2017 über 5 Prozent

Im IV. Quartal 2017 geschah es zum ersten Mal seit der Weltwirtschaftskrise, dass zumindest beim saisonal und nach Kalendertagen bereinigten Index eine Fünf vor das Komma rückte. Dieser Volumenindex hielt sich seither konstant oberhalb von fünf Prozent, im Herbstquartal 2018 wurde mit 5,5 Prozent der absolute Höhepunkt erreicht. Es steht außer Frage, dass dieses ausgewogene Wachstum seit der 2013 vollzogenen wirtschaftspolitischen Wende für die ungarische Wirtschaft charakteristisch ist.

Den einzigen Durchhänger brachte das Jahr 2016, als der Fluss der EU-Gelder wegen der Umstellung zwischen zwei Finanzrahmen ins Stocken geriet: Die Fördermittel aus dem früheren EU-Haushalt waren endgültig versiegt, die neuen Ausschreibungen noch nicht in ihre investive Phase getreten. Unter dem Strich ist das ungarische Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 2010 bereits um nahezu ein Drittel gewachsen, und die jüngsten drei Jahre halten daran einen überproportionalen Anteil.


Ist der deutsche Patient verschnupft…

Lange Zeit profitierte die offene ungarische Wirtschaft von der globalen Konjunktur und der beispiellosen Geldschwemme. Der amerikanisch-chinesische Handelskrieg, der endlose Brexit-Prozess und die Reformunfähigkeit des selbstgefälligen Wirtschaftskolosses Deutschland haben jedoch alle Illusionen von einem neuen Goldenen Zeitalter zerstieben lassen. Ungarns Wirtschaft ist über tausend Bande mit der deutschen Wirtschaft verknüpft, weshalb lange Zeit die Lehrbuchweisheit zutraf: Ist der deutsche Patient verschnupft, bekommt der Ungar eine Lungenentzündung.

Unvergessen die Jahre, in denen Wirtschaftsjournalisten und Analysten miteinander wetteifernd als erste den Zeitpunkt der sommerlichen Betriebsferien bei Audi Hungaria in Győr herausfinden wollten, um fundiertere Prognosen abgeben zu können. Denn die dortige Pause brachte den Industriemotor dermaßen ins Stottern, dass sich unter unglücklichen Umständen gleich eine Konjunkturdelle ergab.


Eine Million Arbeitsplätze

Bis heute ist die Automobilindustrie das Flaggschiff der ungarischen Wirtschaft, doch haben die Wirtschaftslenker seit 2010 allerhand getan, um dieser Branche nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. So wurde beispielsweise der Privatverbrauch auf eine markant breitere und stabilere Basis gestellt. Die zweite Orbán-Regierung trat mit dem Versprechen an, eine Million Arbeitsplätze zu schaffen. Daran ging sie anfänglich mit den umstrittenen öffentlichen Arbeitsprogrammen, die mit dem Argument verteidigt wurden: Arbeit statt Sozialhilfe.

Tatsächlich wurden auf diese wenig zimperliche Weise Hunderttausende aufgeweckt, ihren Lebensstil grundlegend zu ändern. Und die Rechnung ging auf, da sich so manche von ihnen bald nicht mehr mit den Almosen für minderwertige Arbeiten abfinden wollten, sondern einen anständigen Job auf dem primären Arbeitsmarkt annahmen. Mittlerweile stehen 4,5 Millionen Menschen in Lohn und Brot, die Beschäftigungsquote bewegt sich längst über dem EU-Durchschnitt, in Sachen Erwerbslosenquote gehört Ungarn sogar zum europäischen Spitzenfeld.


Billige Menschenmassen propagiert

Mehr wirtschaftlich aktive Bürger konsumieren auch mehr – die breitere Basis für einen fortan als Konjunkturmotor fungierenden Privatverbrauch war somit geschaffen. Noch stabiler wurde diese Basis durch die Aufgabe der Wirtschaftspolitik der verlängerten Werkbank, wonach die Ungarn – wie allgemein die Arbeitnehmer in den 2004 in die Europäische Union aufgenommenen ehemaligen Ostblockländern – von den sich hierzulande ansiedelnden Westkonzernen gewöhnlich als Billiglöhner wahrgenommen wurden. Natürlich gab es zu jeder Zeit Investoren, die den wahren Wert von qualifizierten und motivierten Arbeitskräfte erkannten. Es war aber so, dass sich die Regierungen dem Westen mit der Propagierung einer billigen und willigen Menschenmasse regelrecht andienerten.

Dem Dilemma der Abhängigkeit von der Kapitalzufuhr konnte sich auch die Orbán-Regierung nicht wirklich entziehen. Doch setzte sie neue Akzente, sobald die steuerpolitische Wende vollzogen war. Dabei wurden über Sondersteuern jene Konzerne und Branchen zu einer gerechteren Lastenverteilung herangezogen, die seit der Privatisierung und teils noch in der Weltwirtschaftskrise gut verdient hatten. Außerdem wurde der neuen Prämisse Geltung verschafft, Konsum an Stelle von Arbeit zu besteuern. Mit der steuerlichen Entlastung der Arbeit aber konnte an der Lohnschraube gedreht werden. Administrative Hebel besitzt der Staat hier freilich nicht, über die Institution der Sozialpartnerschaft gelang es aber dennoch, eine neuartige Herangehensweise an das Thema Mindestlohn in den Köpfen zu verankern.


Das Thema Mindestlohn

Als die erste Orbán-Regierung 2002 überraschend abgewählt wurde, hatte sie den Mindestlohn gerade in zwei massiven Schritten – binnen zwei Jahren um annähernd die Hälfte – auf 50.000 Forint angehoben. Die nachfolgenden sozialistisch-liberalen Regierungen froren den Mindestlohn zunächst ganz ein, um ihn später dezent zu steigern: Über acht Jahre hinweg kamen dabei weniger als 50 Prozent heraus. (Dabei boomte die ungarische Wirtschaft zumindest bis 2006, als die Kreditblase platzte.) Zurück an der Macht brauchte der Fidesz drei Jahre für die nächsten 50 Prozent Steigerung. Dabei hatte das Land in dieser Zeitspanne gewaltig an den Folgen der schweren Krise zu tragen.

Von 2013 an gerechnet legte der Mindestlohn in sechs Jahren ebenfalls um die Hälfte zu und ist 2019 bei knapp 150.000 Forint angelangt. Nebenbei war Orbán so clever, den früher steuerfrei gestellten Mindestlohn unter die Einkommensteuer zu beordern. Damit erreichte er, dass heute wirklich alle legal Beschäftigten ihren Anteil an den stabilisierten Staatsfinanzen erbringen. Die üppig sprudelnden Einnahmen geben ihm unter anderem die Deckung für eine großzügige Familienförderung.

Die spürbare Anhebung des Mindestlohns sollte dazu beitragen, das Image vom Billiglohnland auszulöschen. Dem diente auch die neue Kategorie des garantierten Lohnminimums für Fachkräfte, die schon bei Vorliegen eines Mittelschul- oder eines Fachabschlusses Anwendung findet. Qualifizierten Arbeitskräften steht also dieser erhöhte Mindestlohn zu, der seit 2016 in nur drei Jahren um die Hälfte auf 195.000 Forint gesteigert wurde.


Plötzlich staute es sich

Tatsächlich sorgten die verschiedenen Weichenstellungen, die natürlich immer fein säuberlich im Einvernehmen der Sozialpartner beschlossen wurden, für einen „Lohn-Stau“ in der ungarischen Wirtschaft. Unproduktiven Firmen, die früher keine Veranlassung zu Lohnerhöhungen sahen und nun gar nicht die Kraft dazu hatten, gingen die Mitarbeiter aus. Bei jenen Unternehmen wiederum, die bisher damit geizten, Mindestlohn zu zahlen, konnten die Gewerkschaften Druck machen, damit die bislang besser gestellten Mitarbeiter nicht etwa mit prozentual geringfügigeren Anhebungen abgespeist wurden.

Im statistischen Durchschnitt sind die Bruttolöhne von knapp 300.000 Forint in 2017 auf 330.000 Forint im vorigen Jahr geklettert, also neuerlich prozentual zweistellig gestiegen. Im laufenden Jahr waren bereits Ende des Sommers nahezu 360.000 Forint erreicht. Von dieser Lohnsumme nehmen die Arbeitnehmer etwa zwei Drittel mit nach Hause. Der Handel profitiert von den wachsenden Einkommen und erzielt seit Jahren weitgehend beständige Volumenzuwächse um fünf Prozent.


„Vor einer schweren Prüfung“

Aber nicht nur der Privatverbrauch wurde durch gezielte Maßnahmen zu einem Wachstumsmotor. Die Orbán-Regierung legte, als sich die Gewitterwolken im Ausland verdichteten, Aktionspläne zum Schutz der Wirtschaft und der Familien auf. Dabei handelt es sich um gezielte Konjunkturprogramme, um dem drohenden Abschwung entgegenzuwirken. Wieder hagelt es Kritik, wenn beispielsweise mit staatlichen Großprojekten eine Bauwirtschaft überhitzt wird, deren Auftragsbücher ohnehin bis zum Bersten gefüllt sind. Zur Investitionsschwemme hat auch die Ungarische Nationalbank (MNB) mit ihrem Programm für Wachstumskredite beigetragen. MNB-Präsident György Matolcsy rechtfertigte sich dieser Tage vor dem Wirtschaftsausschuss des Parlaments, die Volkswirtschaft als Ganzes sei nicht überhitzt, denn in dem Fall ließe sich die Inflation wohl kaum im Zielkorridor um drei Prozent halten.

Natürlich weiß man, dass der Boom der jüngsten Jahre nicht von Dauer sein kann. Der Ministerpräsident formulierte das am Wochenende so: „Wir stehen vor einer schweren Prüfung, denn über die Volkswirtschaften Westeuropas brechen raue Zeiten herein. Wir dürfen uns nicht in Illusionen wiegen, denn natürlich wirkt sich diese Entwicklung auch auf uns in Mitteleuropa aus.“ Dann fügte Viktor Orbán zweckoptimistisch hinzu: „Unsere Hoffnung lautet, dass wir imstande sind, auf den eigenen Beinen zu stehen. Ob das zutrifft, wird sich bald herausstellen.“

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