Andreas Rödder begann mit einem Zitat von Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, dass man „überall in Europa konservativ sein könne, ohne als rechtsextrem zu gelten – außer in Deutschland.“ Würde diese Aussage wirklich zutreffen, müsste man wohl in Deutschland einen eklatanten Mangel an differenziertem Denken konstatieren. Diesen Vorwurf wird man jedenfalls nicht dem Vortragenden selbst machen können, da wir es bei Andreas Rödder mit einem Historiker zu tun haben, der sich nicht nur auf die Deutung der unmittelbaren Gegenwart versteht, sondern mit einem Denker, der sorgfältig und differenziert an die von ihm verwendeten Begriffe herangeht.


Was ist konservativ?

Andreas Rödder setzt den Konservatismus in Beziehung zum historischen Wandel: Ohne die Französische Revolution würde es die Bewegung des Konservatismus gar nicht geben. Konservativ zu sein, bedeutet jedoch nicht, dass man sich dem Wandel widersetzt. „Eine konservative Regierung“, so Rödder „ist auch keine Regierung des Stillstandes.“ Vielmehr würde sie einen ständigen und beständigen Fortschritt anstreben, eine behutsame Anpassung an die Anforderungen der Gegenwart sowie eine Verzögerung des Wandels, bis er harmlos geworden sei. Konservative Politik, so Rödder, gehe es darum, den Wandel so zu gestalten, sodass er für die Menschen verträglich wird. Mit anderen Worten: Der Konservatismus ist eine menschliche Haltung zum Wandel.

Im Vergleich dazu wolle eine traditionalistische Politik, dass sich rein gar nichts ändere. Das halte der Konservatismus für illusorisch. Eine reaktionäre Politik wolle darüber hinaus das Rad der Geschichte gleich ganz zurückdrehen und in ein vermeintlich „goldenes Zeitalter“ zurückkehren. Der Konservative wisse jedoch, dass ein solches Zeitalter nie existiert hat.

Des Weiteren unterscheidet Rödder zwischen einem liberalen und einen illiberalen Konservatismus: der liberale geht auf die britische Tradition des 19. Jahrhunderts zurück. Er sei parlamentarisch und reformorientiert gewesen und habe zu einer Demokratisierung des Landes beigetragen; der illiberale Konservatismus habe seinen Ursprung in der „Konservativen Revolution“, die sich in der Weimarer Republik entwickelte. Die deutsche Bewegung der „Konservativen Revolution“ habe nicht den Wandel gestalten wollen, sondern „Dinge erschaffen, die es sich dann zu bewahren lohnt“: eigentlich das Gegenteil einer konservativen Haltung.

Was Konservative heutzutage auszeichne, sei eine positive Einstellung gegenüber den Menschenrechten, dem Rechtsstaat, der Toleranz sowie gegenüber einer offenen und pluralistischen Gesellschaft. Ansonsten sei es äußerst schwierig, konservative Werte zu benennen. Sie seien immer auch relativ zur jeweiligen nationalen Tradition und Zeit.


Keine Ideologie – eine anspruchsvolle Denkform

Rödder ist der Meinung, dass es zwar konservative Werte gebe, sie seien jedoch nicht überzeitlich. Umgekehrt gebe es überzeitliche Werte, wie sie beispielsweise im 5. Gebot zum Ausdruck kämen, diese seien jedoch nicht konservativ – ebenso wenig wie Anstand, Freiheit oder Nächstenliebe.

Konservative würden sogar immer wieder Werte vertreten, die sie „gestern noch bekämpft“ hätten. Das beruhe darauf, dass konservatives Denken die Einsicht verinnerlicht habe, „dass uns das, was wir heute für richtig halten, morgen als völlig falsch erscheinen kann“.

Konservatives Denken sei ausgeprägt menschenfreundlich, es vermeide Dogmatismus ebenso wie die Fixierung auf die Inhalte einer Ideologie. Es definiert sich also nicht aus bestimmten Inhalten, es ist vielmehr eine „intellektuell anspruchsvolle Denkform mit bestimmten Grundannahmen“, womit es dem Ideal der Demokratie sehr nahe kommt. In einer Demokratie müsse man seine Argumente begründen, auf dass sich das bessere durchsetzen möge.


Ein individualistisches Menschenbild

Das konservative Denken beruhe Rödder zufolge auf vier Grundlagen. Zunächst gehe es davon aus, dass Bestehendes einen gewissen Sinn und es durchaus seine Existenzberechtigung habe. Insofern liege die Beweislast für eine Veränderung stets bei denjenigen, die das Bestehende verändern wollen.

Das von Rödder vertretene konservative Menschenbild leitet sich vom humanistischen Menschenbild ab. Es glaubt an die Würde des Menschen, an die Person im christlichen Sinne, an das sich selbst bestimmende Individuum. Insofern sei die konservative Denkweise die eigentliche Erbin der Aufklärung.

Die Menschen seien zwar alle gleichwertig, aber in ihren individuellen Voraussetzungen verschieden. Insofern akzeptiert der Konservatismus auch Ungleichheit; nur ihre Begründung sei entscheidend. Prinzipiell müsse es gesellschaftlich und institutionell die gleichen Chancen geben, doch würden diese zu ungleichen Ergebnissen führen.

Eine weitere Facette des Menschenbildes bestehe in der individuellen Unvollkommenheit, was wiederum Ordnung und Institutionen notwendig mache. Aus der menschlichen Fehlbarkeit leite sich zudem eine „gelassene Skepsis“ gegenüber Moden und Eindeutigkeiten ab – eine Skepsis, die ebenso den großen Ideologien gilt wie auch dem „moralisierenden kosmopolitischen Multikulturalismus“.

Der liberale Konservatismus gebe der Gesellschaft den Vorrang gegenüber dem Staat. Der Staat habe lediglich den Ordnungsrahmen zu setzen, er müsse auch seine Grenzen schützen können. Aber der Staat ist keine „Agentur zur Erziehung der Gesellschaft“. Hier hätten eindeutig die Familien, die Kirchen und generell die Bürgergesellschaft den Vorrang.

Schließlich befürworte das konservative Denken das „christdemokratische Prinzip der Subsidiarität“: also die „Selbstverantwortung des Einzelnen“. Erst wenn der Einzelne nicht dazu fähig wäre, solle die „Solidarität der Gemeinschaft“ eingreifen.


Behutsam in die Zukunft

Anstelle ideologischer Extreme zeichne das konservative Denken eine „Haltung der Behutsamkeit“ aus: ein Denken, das die Umstände zwar kontinuierlich verbessern wolle, aber lediglich auf „reversible Verbesserungen“ setze und nicht auf die irreversible Schaffung „einer neuen Welt“ oder gar eines „neuen Menschen“.

Bezogen auf die „deutsche Frage in Europa“ sprach Rödder davon, dass es ein Problem der Balance sei: das heisst, man dürfe keine Führung ausüben, ohne Rücksicht auf die anderen zu nehmen; genauso müsse man aber auch das andere Extrem vermeiden, bei dem man sosehr Rücksicht auf andere nimmt, dass man gar nicht mehr in der Lage sei, Führung zu übernehmen. Deutschland solle also die Mitte finden zwischen einer rücksichtslosen Führung und einer führungslosen Rücksicht.

An die europäischen Länder richtet Rödder den Appel, dass sie auf ihre jeweiligen Opfergeschichten verzichten mögen. Stattdessen sollten sie lieber Empathie füreinander entwickeln, indem sie besser zuhören, sich in die Lage des anderen hineinversetzen und gegenseitig klar machen sollten, was die eigentliche Perspektive des anderen sei. Als Negativbeispiel erwähnte er Alt-Kanzler Gerhard Schröder, der einmal davon sprach, dass es für Europa – wenn Deutsche und Russen sich gut verstanden hätten – „immer gut gewesen sei“. Rödder gab zu bedenken, wie ein solcher Satz wohl in Polen oder den baltischen Staaten ankommen sei.

An die europäischen Partner Deutschlands wandte er sich mit der Bitte, „Doppelstandards“ zu vermeiden: Man solle von Deutschland nicht verlangen, wozu man selbst nicht bereit sei – zum Beispiel die europäischen Interessen über die eigenen zu stellen. Genauso wenig solle man von Deutschland die Lösung der eigenen Probleme erwarten.

Andererseits erwartet Rödder mehr Rücksicht seitens der deutschen Politik gegenüber den europäischen Partnern. Einen „Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge durch Mehrheitsbeschlüsse im europäischen Rat zu verlangen“ sei ein gutes Beispiel deutscher Rücksichtslosigkeit. Stattdessen solle Deutschland lieber mehr in die europäische Ordnung und Infrastruktur investieren, damit sämtliche Mitglieder und Teilnehmer von der EU profitieren könnten. Das könne durch eine Vertiefung der Europäischen Union erfolgen, es könne jedoch auch durch den Ausbau bilateraler beziehungsweise multilateraler Kooperationen erreicht werden.


Europa und seine Nationalstaaten

Die deutsche Frage, so Rödder, könne heute nicht mehr außerhalb der europäische Integration gedacht werden. Generell sollte man jedoch nicht auf eine immer weiter zunehmende Vertiefung setzen. Viel besser wäre es dagegen, auf eine „flexible Europäische Union“ zu setzen: Man solle „vertiefen, wo es sinnvoll ist“, aber auch „zurückzubauen, wo es nötig ist“.

Denn man dürfe nicht vergessen: Europa sei mehr als die Europäische Union. Aus diesem Grunde plädiert Andreas Rödder für ein Europa, „das die europäische Integration nicht gegen die Nationalstaaten ausspielt“. Hier dürfe es kein Entweder-oder geben. Letztlich könne Europa seine internationale Kraft nur dann ausschöpfen, wenn es aus seinen eigentlichen Kraftquellen schöpfe. „Diese Kraftquellen aber sind und bleiben seine großen Nationalstaaten.“

Lesen Sie hier unser BZ-Interview mit Prof. Dr. Andreas Rödder.

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