„Zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, schreibt Mária Schmidt, „wurden jene Mächte, die an der Aufrechterhaltung der Aufteilung der Welt in ihren damaligen Strukturen interessiert waren, mit dem Anspruch jener Länder konfrontiert, die sich nun im Recht und in der Lage sahen, neue Märkte und Kolonien zu erobern. Die Briten hatten sich längst daran gewöhnt, dem Rest der Welt zu diktieren und alle anderen zu ‚zivilisieren‘. Großbritannien repräsentierte die alte Welt, das Deutsche Kaiserreich die aufstrebende und machthungrige neue Welt.“

Insofern fochten habgierige Imperien und habgierige Nationalstaaten miteinander, die nahezu ausnahmslos expandieren wollten. „Ihre Raffgier“, so Schmidt, „verbargen sie hinter einem vorgeschobenen nationalen Interesse und hinter dem Aufruf, sich für die Heimat aufzuopfern, wofür sie sich der breiten Unterstützung ihrer Nationen gewiss sein konnten.“


Ungarn blühte auf

Ungarn dagegen sei von keinem solchen Expansionswillen erfüllt gewesen. Im Gegenteil, die damaligen Ungarn hätten sich sogar dagegen gesträubt, einen Krieg führen zu müssen, der nicht der ihre gewesen sei. „Schlimm genug, dass wir uns nicht heraushalten konnten“, schreibt die Autorin.

Es sei noch gar nicht lange her gewesen, dass die Ungarn – nach dem Ausgleich von 1867 – zum Partner in der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie aufgestiegen waren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hätten die Ungarn jene Möglichkeiten genutzt, die ihnen die Donau-Monarchie geboten habe, bestrebt, die sich öffnenden Freiräume restlos auszufüllen. In dem neuen Staat sei Ungarn dann regelrecht aufgeblüht. „Selbstverständlich waren wir auf keine Niederlage vorbereitet“, fügt sie hinzu, „denn wir rüsteten uns ja gar nicht für den Krieg.“


Der Herausforderer

Die Deutschen seien, während die Bevölkerungszahl vor dem Weltkrieg auf nahezu 70 Millionen Menschen angewachsen war, zum Motor der europäischen und insbesondere der mitteleuropäischen Wirtschaft avanciert. Schmidt stellt fest, dass der Aufschwung der deutschen Wirtschaft für die Volkswirtschaften Großbritanniens und Frankreichs eine ebenso große Herausforderung dargestellt habe, wie auch für die aufstrebenden USA. Auf der anderen Seite hätten sich die Deutschen selbst zuzuschreiben, dass sie „ohne Freunde und Gönner“ geblieben seien: „Denn sie waren überheblich, schroff und protzig.“


Die „Friedensverträge“

Im Anschluss an das große mechanisierte Gemetzel sollten die Pariser Vorortverträge der Welt den langersehnten Frieden bringen. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker seien alte Imperien zerschlagen und die Landkarte Europas neu gezeichnet worden. Schmidt jedoch entlarvt das Ganze als Heuchelei: „Die wahren Ziele und die dafür gewählten Mittel waren weit weniger idealistisch.“ Vielmehr sollten die besiegten Mittelmächte weiter geschwächt werden. „Um entsprechend mit ihnen verfahren zu können“, seien sie gedemütigt und als Kriegsverbrecher abgestempelt worden. Tatsächlich habe das Hauptanliegen der Siegermächte darin bestanden, Deutschland zu entwaffnen und seine Wirtschaftskraft zu brechen.

Dabei sei das von Präsident Wilson propagierte Nationalitätenprinzip nur selektiv angewendet worden und habe letztlich dazu gedient, den Nationalstolz der unterlegenen Nationen zu brechen. „Mitteleuropa“, schreibt Schmidt, „wurde vorsätzlich geschwächt und politisch zerstückelt, was seit Richelieu als erstrangiges französisches Interesse galt.“ So wurde rund ein Fünftel der deutschsprachigen Bevölkerung Europas – nahezu 13 Millionen Menschen – zu Minderheiten. Zudem wurde die Vereinigung zwischen Deutschland und Österreich untersagt, die Wien ebenso angestrebt hatte wie Berlin. Zwischen 1919 und 1923 sei Deutschland dann schnell in einen Zustand zwischen Krieg und Frieden gesunken.

Aus Österreich wurde im Zuge der Gebietsverluste ein Kleinstaat mit sechseinhalb Millionen Einwohnern. „Das in eine Legitimationskrise gestürzte, ob seiner Identität verunsicherte, aus Zwang eigenständige Österreich stolperte bis zu dem 1938 durch Hitler vollzogenen Anschluss von einer politischen Krise zur nächsten, und war außerstande, seinen Bürgern Ordnung und Stabilität zu sichern.“

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Beim Friedensdiktat von Trianon wurde das Selbstbestimmungsrecht der Nationen von den Siegermächten mit Füßen getreten. (Foto: István Gyarmati)


Was Ungarn angeht, so habe es vor dem Krieg keine eigenständige Außenpolitik verfolgt, es habe keine eigene Armee, nicht einmal Außenvertretungen besessen. „Gelähmt und hilflos“, schreibt Schmidt, „ließen wir uns treiben und erduldeten, dass die Dinge mit uns geschehen. Da wir versäumten, für uns einzustehen, wurden wir von allen Seiten von jenen überfallen, die unsere Lähmung ausnutzten und uns alles nahmen, was irgendwie zu holen war: vom Norden die Tschechen, vom Süden die Serben, vom Osten die Rumänen. Wie hätten wir, da wir nicht einmal für uns selbst eintraten, von anderen erwarten können, für uns zu streiten?“


Bolschewismus

Inzwischen, so Schmidt, hätten in Russland die „gottlosen Bolschewiken“ die Bühne betreten und bedrohten nun Mitteleuropa. Mit einem erfolgreichen Putsch hatte Lenin die Macht erobert, er „überwand die Demokratie der Bourgeoisie, brachte den Frieden, verteilte Land und erklärte die Ausbeutung für beendet“. Lenin habe dabei eine als modern und progressiv deklarierte Gesellschaft durchgesetzt: eine auf Terror basierende totalitäre Diktatur. Unter seiner Führung habe der bolschewistische Putsch vom November 1917 seine Legitimation auf Terror und eine alle Lebensbereiche durchdringende totalitäre kommunistische Ideologie begründet.

Hier nun habe sich nach Schmidt eine der folgenschweren Grundtendenzen der „neuen Welt“ gebildet – die Zerschlagung der Welt, insbesondere Mitteleuropas, in zwei antagonistische Hälften, jener dualistische Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der die Welt an den Rand einer nuklearen Selbstauslöschung führen sollte.


Miklós Horthy

Anarchie und innere Zerrissenheit, feindlich gesinnte Nachbarn und schließlich die im Namen der Arbeiterklasse errichtete Diktatur des Proletariats hätten Ungarn bis an den Abgrund geführt. In dieser besonders kritischen Zeit habe dann Miklós Horthy, letzter Befehlshaber der k.u.k. Kriegsmarine und Verteidigungsminister der konservativen Gegenregierung, im Kampf gegen die Räte-Regierung, am 16. November 1919 die Führung des Landes übernommen. Das mit seinem Namen verbundene System, erklärt die Autorin, habe auf der Bewahrung der christlich-konservativen Werte und der Achtung der Traditionen beruht. Vor allem aber, betont sie, habe es dem Erhalt der Nation gedient.

Es sei darum gegangen, den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben zu neuer Blüte zu verhelfen. Dazu habe zunächst Ruhe, Ordnung und Berechenbarkeit einkehren müssen. So sei das Horthy-Regime zwar keine Demokratie gewesen, die in anderen Ländern mit großen Legitimationsproblemen zu kämpfen hatte, man könne jedoch auch nicht von einer faschistischen Diktatur sprechen – vielmehr sei es eine Art „Monarchie ohne König“ gewesen, wobei Horthy selbst die Funktion eines „Reichsverwesers“ innehatte habe.

Zunächst auf der Seite Hitlerdeutschlands versuchte Horthy, der in den westlichen Medien äußert kritisch beurteilt wird, Jahre später mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand abzuschließen. Daraufhin erzwang das zuvor mit Ungarn verbündete Deutsche Reich am 16. Oktober 1944 seinen Rücktritt und verhaftete ihn anschließend.


Ein böses Erwachen

„Das verfehlte Friedenswerk im Anschluss an den Ersten Weltkrieg“, schreibt Schmidt, „hatte unter Berufung auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung eine Reihe eigenständiger Staaten ins Leben gerufen. Es wurden Imperien aufgeteilt und zur Auflösung verurteilt, die über Jahrhunderte hinweg allen Proben standgehalten hatten.“ Mit Ende des Kalten Krieges habe sich nun – unter Einbeziehung der zuvor von der Sowjetunion kontrollierten Gebiete – die „Amerikanisierung Europas“ fortgesetzt.

Trotz der großen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, bemerkt Schmidt, seien die in Trianon gezogenen Grenzen jedoch nicht in Frage gestellt worden. Geändert habe sich allerdings die heutige Einstellung der einstigen Siegermächte bezüglich der Nationalstaaten: Während sie sich einst auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung berufen hätten, machten sie nun „die Nationalstaaten verantwortlich für die schrecklichen Kriege des 20. Jahrhunderts“. „In diesen Kreisen“, schreibt Schmidt, „hat man die nationale Souveränität, also den ‚Nationalismus‘, zum größten Krebsgeschwür unserer Zeit erklärt.“

So arbeite man nun daran, die „nationale Souveränität auszulöschen“, und tue das mit dem gleichen, sich auf die liberale Demokratie berufenden Interventionismus, mit dem vor hundert Jahren noch für die Gewährung der nationalen Souveränität argumentiert worden sei. Dabei seien es weniger die Nationalstaaten als vielmehr die Imperien, so die Autorin, die im Laufe der Geschichte mehr Kriege zur Gebietseroberung und Rohstoffsicherung vom Zaun gebrochen und geführt hätten. Es entbehre somit jeder Grundlage, die Nationalstaaten selbst als „Kriegsverbrecher“ abzustempeln.

Nach einem Jahr der Besatzung durch Nazi-Deutschland und einem nahezu halben Jahrhundert der sowjetischen Besatzung sei den Ungarn die nationale Souveränität als Ausdruck von Freiheit und Demokratie besonders wichtig. Nun müssten sie allerdings erleben, dass inzwischen die nationale Souveränität für die den Westen Europas lenkende Elite zu einem Hindernis geworden sei.

Dabei hatten die Sieger des Ersten Weltkrieges die alte Ordnung Europas doch unter Berufung auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung zerstört! Nun aber würden sie – wobei sie weiter dieselben Ziele verfolgten – die Souveränität von Nationen, die über eine jahrhundertelange Geschichte verfügen, über den Haufen werfen wollen.


Zu neuer Blüte

„So sehr wir uns auch bemühten, den Ambitionen der Sieger, den Interessen der liberalen Welt und der diese repräsentierenden Amerikaner zu entsprechen“, schreibt Schmidt, „konnten wir doch nichts daran ändern, dass uns die einstigen Sieger auch weiterhin als Verlierer behandelten. Es ist nämlich so, dass die westliche Welt ihre Legitimierung noch immer auf die Siege im Ersten und Zweiten Weltkrieg stützt. Es vergeht kein Tag, an dem die Kriegsschuld der Verlierer nicht erwähnt wird.“

Damit solle sichergestellt werden, dass Deutschland nicht jene Räume besetze, „die dem Land aufgrund seiner demographischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Gegebenheiten zustünden“. Wenngleich Deutschland am Ausgang des 20. Jahrhunderts wiedervereint worden sei, um so zum Wirtschaftsmotor Europas und zum Gegengewicht Russlands zu avancieren, stehe seine „politische Gleichberechtigung“ noch aus. „Ebenso wie die unsere“, fügt die Autorin mit Blick auf Ungarn hinzu. Dabei habe mit dem 21. Jahrhundert eine von Grund auf andere Epoche der Weltpolitik ihren Anfang genommen. Deutschland und Russland seien heute wieder Europas führende Mächte, deren wirtschaftliche Beziehungen kontinuierlich erstarken würden.

Ihren Essay, der eine außergewöhnliche Betrachtung, eine für westliche Leser sicherlich sehr ungewohnte, vielleicht auch verstörende Sicht der Dinge präsentiert und eine ganz wunderbare Ergänzung zur Ausstellung darstellt, beendet Schmidt mit folgenden Worten: „Innerhalb von einhundert Jahren standen wir in drei großen Kriegen auf der Verliererseite! Aber wir haben all das überlebt, blieben erhalten und konnten endlich auf der Seite der Gewinner in das 21. Jahrhundert eintreten. Als Gewinner, weil wir nun frei und unabhängig sind. Endlich wieder.“

Auf diese Weise zeugt Mária Schmidt von der Vitalität und dem Lebenswillen einer mitteleuropäischen Zivilisation, die sich heute womöglich anschickt, genau dort wieder anzuknüpfen, wo sie durch den großen Bruder- und Bürgerkrieg gezwungenermaßen aufhören musste – als würde dieses Mitteleuropa einem inwendigen Impuls folgend zu neuem Leben erwachen und sich darauf vorbereiten, wieder aufzublühen.


„Geburt einer neuen Welt – 1918-1923“

Aus dem Ungarischen von
BZ-Autor Rainer Ackermann

2.700 Ft.

Das reich illustrierte und anspruchsvoll gebundene Werk ist unter anderem
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Lira (www.lira.hu) erhältlich.

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