Ungarns Oppositionsparteien konnten bei den Kommunalwahlen am Sonntag wider Erwarten die Hauptstadt Budapest erobern und werden zudem künftig 10 der 23 Komitatshauptstädte regieren. Plötzlich hat die Opposition eine echte Machtbasis. Das zeigte sich auch gleich an der Budapester Börse: Die Aktien von Unternehmen „regierungsnaher“ Geschäftsleute verloren bis zu acht Prozent. Wenn die Regierungspartei weniger Städte regiert, dürften auch weniger öffentliche Aufträge an diese Unternehmen gehen, so die Logik der Investoren.


Fidesz verlor verlor viele Städte und Bezirke gestärkt

Nun jubiliert man im Oppositionslager und spricht bereits davon, auch die nächsten Parlamentswahlen 2022 zu gewinnen. Bei der Regierungspartei Fidesz sieht man das anders, mit einigem Recht: Fast überall, auch da wo der Fidesz letztlich verlor, konnte die Partei ihre Ergebnisse von vor vier Jahren verbessern. Der Schlüssel zum Erfolg der Opposition war nicht eine Abkehr der Wähler vom Fidesz, sondern der erstmalige taktische Schulterschluss aller Oppositionsparteien in vielen Städten und Gemeinden.

Wenn dieses Bündnis auch in Zukunft und auch auf nationaler Ebene Bestand hat, dann bedeutet das ein Ende des bisherigen politischen „Geschäftsmodells“ des Fidesz. Das bestand darin, sich als „zentrales Kraftfeld“ zu positionieren, als Kraft der Mitte – Kräfte links und rechts davon konnten als „radikal“ verunglimpft werden. In der Vergangenheit waren das die als „Ex-Kommunisten“ gebrandmarkten Sozialisten, und die als „Rassisten“ bezeichneten Jobbik-Anhänger. Jetzt aber machen sie alle gemeinsame Sache mit einer dynamisch aufstrebenden neuen Partei, auf die kein negatives Etikett passt: die unideologische, aber auf jeden Fall pro-europäische Momentum-Partei. Eine neue, bipolare politische Landschaft entsteht.


Die drei großen Probleme des Fidesz

Abgesehen davon hat die Regierungspartei drei große Probleme, die alle zum relativen Erfolg der Opposition beitrugen. Sie hat ein Städte-Problem: Großstadtwähler sind weniger empfänglich für Ministerpräsident Orbáns patriotische Sprüche als die Landbevölkerung. Außerdem hat der Fidesz ein generationelles Problem: Junge Wähler sind immer weniger angetan von der alternden Garde der Fidesz-Oberen mit Bauchansatz und Predigten von Gott, Familie, Vaterland.

Und Fidesz hat ein sehr großes Borkai-Problem. Zsolt Borkai ist einstiger Olympionike und Bürgermeister der zweitreichsten Stadt Ungarns, Győr. Er ist aber auch Hauptdarsteller in einem heimlich gefilmten Video, das ihn beim Sex mit Prostituierten auf einer Luxusjacht in der Adria zeigt. Mit dabei: Ein schwer reicher Rechtsanwalt und Geschäftspartner. Der Skandal dürfte der Grund sein, warum Borkais Wahlergebnis sechs Prozentpunkte niedriger ausfiel als vor fünf Jahren. Immerhin schaffte er es trotzdem, knapp wiedergewählt zu werden, trat aber kurz danach aus der Regierungspartei aus. Er wolle sie nicht mit der Affäre belasten, sagte er. Ein Schelm, wer dabei denkt, dass er und der Fidesz hinter den Kulissen sehr wohl weiterhin eng zusammenarbeiten werden.


Ein Geflecht von Geld, Politik und Zynismus

Der Fall beleuchtet das Geflecht von Geld, Politik und Zynismus in Győr, und wirft Kritikern zufolge ein Licht auf ähnliche Zustände im ganzen Land. Die Borkai-Affäre dürfte an mehreren Orten entscheidend gewesen sein für die Niederlage der Regierung. Selbst die als Regierungsorgan geltende Tageszeitung Magyar Nemzet schrieb, dass der Skandal die Fidesz-Ergebnisse im ganzen Land beeinflusst haben dürfte. Konkret nennt die Zeitung die Orte Eger, Szombathely und Tatabánya, wo die Regierungskandidaten mit jeweils weniger als einem Prozent Stimmendifferenz verloren und ohne den Borkai-Skandal vielleicht gewonnen hätten.

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Budapests neuer OB Gergely Karácsony kurz nach seinem Wahlsieg. (Foto: MTI Mónus Márton)

Weniger gewiss ist das für Budapest, wo die Differenz zwischen dem Sieger Gergely Karácsony und dem amtierenden Bürgermeister István Tarlós fast sieben Prozent betrug (50,8 zu 44 Prozent), obwohl Tarlós selbst weitgehend Respekt genießt und nicht als korrupt galt. Vor dem Borkai-Skandal sahen alle Umfragen Tarlós in Führung, aber in den zwei Wochen vor der Wahl, in denen der Skandal die Nachrichten dominierte, konnte Karácsony aufschließen.


Tolerierte Korruption vs. nicht toleriertes Borkai-Syndrom

Umfragen zeigen übrigens, dass die Ungarn Korruption hinnehmen, solange sie den Eindruck haben, dass einigermaßen kompetent regiert wird. Was sie aber nicht ausstehen können, sind neureiche Attitüden der Mächtigen. „Propagandaminister“ Antal Rogán, der sich im Hubschrauber zu einer Party fliegen ließ, der mysteriöse, inoffizielle Spin-Doktor Árpád Habony mit seiner Vorliebe für teure Schicki-Micki-Mode, Zsolt Semjén, Chef des kleinen Koalitionspartners KDNP, der vom Helikopter aus Rentiere in Lappland abknallte, der frühere Kanzleramtsminister János Lázár mit seiner Neigung zum Landadeligen-Stil (nur ohne Adel) – das alles sind Beispiele für das „Borkai-Syndrom“. Da muss es gar nicht um Drogen oder Prostituierte gehen. Nur um einen Verlust der Tuchfühlung mit der Lebenswelt normaler ungarischer Bürger.

Orbán selbst pflegt einen einfachen Lebensstil und gibt sich gern volkstümlich. Es ist vielleicht kein Zufall, dass alle oben Genannten in den letzten zwei Jahren immer weniger in der Öffentlichkeit erschienen. Vielleicht hat Orbán das Problem erkannt.


Regierungswechsel derzeit nicht wahrscheinlich

Es ist trotz allem derzeit nicht wahrscheinlich, dass er die nächste Parlamentswahl verlieren wird. Bei näherem Hinsehen gewann die Opposition zwar Budapest, verlor aber landesweit im Vergleich zu den Europawahlen im vergangenen Mai 260.000 Stimmen, während der Fidesz eine absolute Mehrheit einfuhr, mit 40.000 Stimmen mehr als im Mai. Es gab noch einen großen Gewinner: Die relative junge, urbane Momentum-Partei. Dort, wo die Oppositionsparteien trotz ihres vereinten Auftretens in den Städten mit eigenen Listen antraten – bei den Wahlen zu den Regionalräten – erhielt Momentum mehr Stimmen als jede andere Oppositionspartei. Dabei war sie in vier Komitaten gar nicht angetreten.

Es ist bereits klar, wie die Regierungspartei das Vordringen der Opposition in den Städten konterkarieren will. Durch eine noch umfassendere Mobilisierung auf dem Land. Das scheint bei diesen Kommunalwahlen bereits gut gelungen zu sein. Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut Nézöpont rechnete aus, dass die Fidesz-Stimmen (fast) für eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament ausgereicht hätten, wäre es denn eine Parlamentswahl gewesen. Klar ist: Ohne die ländlichen Gebiete wird keine Partei Ungarn regieren können.

Die Opposition ist hingegen ein buntes Sammelsurium von ganz rechts bis ganz links. Werden sie ihre Einheitsfront bis zu den nächsten Wahlen halten können? Und nach den Wahlen? Letztere Frage wird viele Wähler beschäftigen, denen „Stabilität“ wichtiger ist als sich kurzfristig daran zu ergötzen, einen politischen Gegner abzustrafen.

Wer ist Gergely Karácsony?


Gergely Karácsony entriss der Regierungspartei Fidesz Ungarns Hauptstadt Budapest. Er ist so beliebt wie Ministerpräsident Orbán, und sein größter Gegner. Wer ist dieser Mann?


Hochgewachsen, blaue Augen, intensiver Blick - Gergely Karácsony dominiert den Raum, sobald er ihn betritt. Der 44jährige macht erst seit neun Jahren Politik und führt eine Mini-Partei. Und doch war er bereits Spitzenkandidat der linken Opposition bei den Parlamentswahlen 2018, und entriss jetzt der ungarischen Regierungspartei Fidesz die Hauptstadt Budapest, mit immerhin 50,6 Prozent der Stimmen. Dabei kommt seine eigene Partei namens „Párbeszéd“ (dt.: „Dialog“) landesweit auf kaum ein Prozent der Stimmen.


Sprungbrett Budapest?

Sie definiert sich als grün-links-liberal-feministisch. Im konservativen Ungarn von Ministerpräsident Viktor Orbán klingt das nach einem Rezept für politischen Selbstmord. Aber Karácsony ist dennoch zum einflussreichsten Politiker Ungarns neben Orbán geworden, und nun sein größter Rivale. Mit Budapest als Machtbasis hat er ein ideales Sprungbrett. Und er hat Zeit. Er ist noch jung.

Bei den Parlamentswahlen 2018 scheiterte er an der Zerstrittenheit der damals noch nicht vereint auftretenden Opposition. Die lernte daraufhin ihre Lektion und raufte sich für die Bürgermeisterwahl zusammen.

Dass aber Karácsony ihr Kandidat wurde, obwohl jede der anderen Oppositionsparteien stärker ist als seine, das liegt nur an ihm. Seine einzige bisherige Erfahrung als Politiker: Er war seit 2014 Bürgermeister des Budapester Stadtteils Zugló. Seine Leistungsbilanz in dieser Funktion ist bescheiden.


Ein grüner Orbán

Und doch mögen ihn viele Bürger. Warum? Er ist jung und sieht gut aus. Selbst seine Gegner bescheinigen ihm, „sauber“ zu sein, also nicht korrupt. Er ist „grün“, und „grün“ hat derzeit Konjunktur, zumindest in den großen Städten Europas – auch in Budapest. Und: Er ist in gewisser Weise ein grüner Orbán. Er spricht Sätze wie diesen: „Die Ungarn sind ein Volk von Revolutionären, und ich möchte eine Revolution.“ Das ist ein lupenreines Orbán-Zitat, aber Karácsony übernimmt es ohne mit der Wimper zu zucken. Wo Orbán von einem „christlichen und freien Ungarn“ spricht, sagt Karácsony: „Budapest wird grün sein und frei“. Die rhetorische Grundformel ist dieselbe.

Wie Orbán wuchs Karácsony auf dem Land auf, allerdings in Nordostungarn, wie Orbán studierte er in Budapest. Seine Eltern (der Vater starb früh) studierten Gärtnerei. Dass er sich für grüne Politik stark macht, führt Karácsony darauf zurück.


Viele (teils leere) Versprechen

Im Wahlkampf machte er jede Menge teilweise leere Versprechen: Den Gesundheitssektor verbessern (staatliche Kompetenz), keine Fußballstadien mehr bauen lassen (hatte in Budapest eh niemand vor). Karácsony versprach den „Klima-Notstand“ auszurufen und einen „Obergärtner“ zu bestellen. Kritiker nennen das populistisch, aber Karácsony scheint die Vorzüge einfacher, inhaltloser Slogans erkannt zu haben. Das heißt nicht, dass er keine Ideen hat: Sein Vorschlag einer Steuer auf leerstehenden Wohnraum könnte helfen, den Mieten-Schwarzmarkt zu verringern.

Karácsony stand lange im Ruf, naiv und idealistisch zu sein. Er hat aber gezeigt, dass er kämpfen und siegen kann. Eigentlich prägte diese Fähigkeit schon seinen Einstieg in die Politik im Jahr 2010. Da wurde er aus dem Nichts heraus Wahlkampfleiter der grünen LMP-Partei (das Kürzel steht für „Politik kann anders sein“). Es war die Wahl, die Orbán an die Macht brachte, aber auch die LMP schaffte unter Karácsony ihr bis dahin bestes Ergebnis: 7,5 Prozent.

Im jetzigen Wahlkampf überließ er nichts dem Zufall. Bevor es richtig losging, suchte er Rat bei den Bürgermeistern von Warschau und Istanbul. Zwei Städte, in denen eine linksliberale Opposition gegen eine dezidiert nationalkonservative Regierung siegen konnte.


Wofür steht er wirklich?

Abgesehen von seinem „grünen“ Programm spricht Karácsony sich für eine „soziale Demokratie“ aus, mit klassisch linken Forderungen: subventionierte Mieten und Mindesteinkommen für alle.

Karácsonys Achillesferse: Wenn er spricht, spricht er oft zu viel und zu schnell, zu intellektuell, zu kompliziert. Über die Jahre ist das allerdings besser geworden, wohl aus Erfahrung und dank Kommunikationstraining. Er hat keine eigene, starke Partei hinter sich. Er muss ein Parteienbündnis zusammenhalten, das von der christlich-rechten Jobbik-Partei über die liberale „Momentum“ bis zur atheistisch-linken DK reicht. Karácsony ist verbündet mit der Sozialistischen Partei (MSZP), über die Karácsony in einem heimlich mitgeschnittenen Gespräch sagte, es gehe den Sozialisten nur um Macht und Geld.

All diese Gegebenheiten machen eine effektive Machtausübung schwer. Sollte er es dennoch schaffen, dann wäre er er ein wenig wie Orbán, als der zur Wendezeit in die Politik ging: Ein junger Mann mit dem gewissen Etwas, der im Alleingang Ungarns Politik umkrempelt.

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