Es ist eine Kommunalwahl wie keine zuvor. Erstmals haben sich die meisten Oppositionsparteien in den meisten größeren Städten auf gemeinsame Kandidaten geeinigt. Das bedeutet, dass die bisher fast überall dominierende Regierungspartei Fidesz mehrere Städte verlieren könnte.


Wer Budapest hat …

Besonders in Budapest geht es um viel. Wer die ungarische Hauptstadt hat, hat eine echte Machtbasis auch in der nationalen Politik. Der Kandidat der Opposition, Gergely Karácsony, wurde in aufreibenden Vorwahlen der Oppositionsparteien gekürt. Er ist ein ungewöhnlicher Politiker, dessen Bedeutung nicht in seiner links-grün-liberal-feministischen Splitterpartei „Párbeszéd“ („Dialog“) liegt – deren Wählerschaft ist so gering, dass sie kaum messbar ist. Er ist persönlich so beliebt in der Hauptstadt, dass die Sozialistische Partei (MSZP) bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr ein Parteienbündnis mit Párbeszéd bildete und Karácsony gar zum Spitzenkandidaten machte.

Dabei ist er nur Bezirksbürgermeister des Stadtteils Zugló. Er ist aber dennoch der einzige Oppositionspolitiker im Land, dessen Beliebtheitswerte mit denen von Ministerpräsident Viktor Orbán vergleichbar sind. Dass persönliche Beliebtheitswerte aber nicht dasselbe sind wie Wählerstimmen, das zeigte dann die Parlamentswahl, wo sein Parteienbündnis weniger als 12 Prozent erreichte.


Populärer als der Fidesz

Budapest Oberbürgermeister ist seit 2010 der parteilose, aber von der Regierungspartei Fidesz unterstützte István Tarlós. Er genießt größeren Rückhalt bei den Bürgern der Hauptstadt als der ihn unterstützende Fidesz und erzielte bei vergangenen Wahlen mehr Stimmen als die Partei. Obwohl – oder gerade weil – er oft mit der Regierung feilschte und haderte.

Seine Beliebtheit hängt also, wie bei Karácsony, mehr von seiner Person ab als von seiner Partei. Sie haben auch noch etwas gemeinsam: Beide haben einander in Interviews bescheinigt, dass sie einander für „sauber“ halten, also für nicht korrupt.

Weil Orbán weiss, das Tarlós in Budapest mehr Gewicht hat als das engere Wählerpotential der Regierungspartei, machte er Tarlós erhebliche Zugeständnisse, um ihn dazu zu bewegen, trotz seines relativ hohen Alters (71 Jahre) wieder zu kandidieren. Tarlós hatte eine schriftliche Vereinbarung zur Bedingung gemacht, und bekam sie. Er verlangte eine Garantie dafür, dass die direkten Bürgermeisterwahlen auch in Zukunft beibehalten werden – es war gemunkelt worden, dass die Regierung das abzuschaffen plane. In 15 Punkten kam ihm Orbán entgegen. Tarlós konnte dennoch nicht alle seine Forderungen durchsetzen, beispielsweise, eine zentralisierte Parkgebührenordnung.


Karácsony hat theoretisch eine Chance

Theoretisch hat Karácsony eine Chance, die Wahl zu gewinnen. Der Fidesz ist in Budapest schwächer als im Rest des Landes. Dass er in den vergangenen Jahren dennoch die stärkste Kraft in Budapest war, lag nicht zuletzt an der Zerstrittenheit der Oppositionsparteien. Deren jetziger Zusammenschluss löst dieses Problem. Allerdings nicht restlos. Zum einen ist das Oppositionsbündnis in mehreren Bezirken recht brüchig. Zum anderen tritt neben Tarlós und Karácsony auch der unabhängige Publizist Róbert Puzsér an und zwar mit einem „grünen“ Programm, das den Umfragen zufolge vier bis sieben Prozent der „sicheren“ Wähler anzieht. Er will die komplette Innenstadt zu einer Fußgängerzone machen.

Diese vier bis sieben Prozent sind gerade genug, um einen ansonsten durchaus denkbaren Wahlsieg der Opposition zu torpedieren. Entsprechend sehen alle Umfragen Tarlós in Führung.

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Durch die immer neuen, pikanten Veröffentlichungen dürfte Zsolt Borkai (unten links) langsam das Lächeln vergangen sein. (Foto: BZT / Jan Mainka)


Wie groß sein Vorsprung ist, das hängt von der „politischen Farbe“ der jeweiligen Meinungsforschungsinstitute ab. Medián – dort war Karácsony einst Leiter –, das links tendierende „Publicus“ und „Iránytű“, welches der einst rechten und heute aber eher profillosen Jobbik-Partei nahesteht, haben in den letzten Tagen alle Umfragen veröffentlicht, in denen Karácsony seinen Rückstand auf Tarlós zuletzt verringern konnte. Bei den regierungsnahen Instituten Századvég und Nézöpont hingegen liegt Tarlós bis zu 18 Prozent vor Karácsony. Alle diese Institute achten natürlich auch auf ihren guten Ruf als seriöse Meinungsforscher, aber die Prognosen liegen so weit auseinander, dass einige dieser Firmen nach der Wahl sehr schlecht aussehen werden – egal wie sie ausgeht.


Brutaler Wahlkampf

Weil die Kommunalwahl wegen der erstmals relativ vereint auftretenden Opposition eine echte politische Bedeutung hat, wird der Wahlkampf entsprechend brutal geführt. Der oppositionelle Bürgermeister des Budapester Vororts Budaörs, Tamás Wittinghoff, wurde heimlich beim Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten gefilmt, und dieser Film ins Internet gestellt.

Der sozialistische Bürgermeister des Budapester Stadtteils Kispest, Péter Gajda und der ebenfalls sozialistische Gemeinderat Csaba Lackner wurden heimlich dabei aufgenommen, wie sie über Details von Kickbacks (Schmiergeldern) sprechen.

Vom linken Spitzenkandidaten Gergely Karácsony wurde eine Tonaufnahme publik, in der er über die mit ihm verbündeten Sozialisten als machtbesessen und korrupt herzieht. Auch der amtierende Bürgermeister Tarlós gab in einem Interview an, mit der Veröffentlichung früherer Begebenheiten bedroht worden zu sein. Da geht es um einen Unfall vor 25 Jahren, bei dem er ein plötzlich vor sein Auto springendes Kind überfuhr. Er wurde aber für unschuldig befunden.


„Des Teufels Anwalt“ enthüllt

Besonders spektakulär ist eine weitere heimliche Aufnahme: Darauf ist der Bürgermeister von Győr, Zsolt Borkai (Fidesz), beim Geschlechtsverkehr mit einer Frau zu sehen, die nicht seine Ehefrau ist.

Genau 14 Tage vor der Kommunalwahl, am 30. September, begann ein kurz zuvor geschaffener anonymer Blog mit dem Namen „Az ördög ügyvédje“ (dt.: „Des Teufels Anwalt“) Enthüllungen anzukündigen. „Zunächst“ über Borkai, aber, so steht dort, letztlich über „die alles infizierende Korruption, deren Teil ich selbst leider auch war. Vielleicht beginnt nun ein unaufhaltsamer Prozess.“ Borkai sei nur der Anfang.

Anspruch, Form und potentieller Impact gleichen also dem berüchtigten „Ibiza-Video“, dass in Österreich FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und die Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ zu Fall brachte: Ein rechter Politiker in so kompromittierender Lage gefilmt, dass es keine Ausreden geben kann und eine merkwürdig späte Veröffentlichung des Materials, getaktet um maximalen Impact auf eine bevorstehende Wahl zu entfalten. Dem Blog zufolge stammen die Aufnahmen vom Mai vergangenen Jahres. Borkai selbst nannte die Aufnahmen gar „mehrere Jahre alt“. Er gab zu, seine Frau betrogen zu haben. Er habe aber nie – wie im Blog behauptet – Drogen konsumiert und „keine Gesetze gebrochen“. Der Blog-Verfasser hat angekündigt, Borkai demnächst der Korruption überführen zu wollen.


Unerwarteter politischer Nebeneffekt

In Győr geht es deswegen um viel, weil es die reichste Stadt Ungarns nach Budapest ist – letztlich auch, weil dort der deutsche Autokonzern Audi eine große Fabrik hat.

Borkai gibt seine Kandidatur aber nicht auf. Der unmittelbare politische Effekt in Győr ist zunächst unerwartet: Die örtliche Jobbik-Gliederung kündigte das Bündnis mit den anderen Oppositionsparteien auf und beschuldigte die linke „Demokratische Koalition“, hinter dem Borkai-Video zu stecken. Jobbiks zentrale Führung in Budapest ist entsetzt und hat ihre Győrer Niederlassung aufgelöst. Es ist also alles andere als sicher, dass die Enthüllungen zu einer Niederlage Borkais führen werden. Allerdings decken regierungskritische Medien nun eine bedenkliche Geschäftsbeziehung nach der anderen auf zwischen Borkais Familienmitgliedern und seinem Rechtsanwalt, Casinobesitzer Zoltán Rákosfalvy sowie anderen Persönlichkeiten der örtlichen Geldelite.

Die Affäre beleuchtet, was die Opposition und regierungskritische Medien von den Wahlen erhoffen: Eine Zeitenwende, die über die Gemeindeverwaltungen hinaus einen Sturz Orbáns bei den nächsten Parlamentswahlen vorbereiten soll.

Das ist eher zweifelhaft. Fidesz wird allen Prognosen zufolge sowohl auf dem Land als auch in den Regionalverwaltungen unangefochten bleiben. Aber in den größeren Städten dürfte die Opposition einige Erfolge verbuchen.

Gegenwärtig regiert sie nur in vier größeren Städten und sechs Budapester Bezirken. Experten wie Gábor Győri vom Think Tank Policy Solutions oder der unabhängige Politologe Gábor Török halten es für möglich, dass diesmal Oppositionsvertreter zehn Budapester Bezirke erringen können, und mindestens sechs bis zehn größere Städte. Das Ergebnis wäre ein gleichgewichtigeres Kräfteverhältnis zwischen Opposition und Regierungspartei auf der kommunalen Ebene.

Was danach kommt, hängt davon ab, ob die Opposition weiter vereint auftreten kann, oder nach den Wahlen wieder zerfällt.

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