Die Autorin vollbringt im Vorwort eine in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Deutschlands eher unübliche Geste: Sie bezeichnet den Umstand, dass sie ihre Kindheit in Budapest verbrachte, als vorteilhaft, da er ihr auf dem Lebensweg in Deutschland neben dem „Blick von außen“ auch einen „von innen“ gesichert habe. Gabriella Schubert verriet zudem bei der Vorstellung ihres Buches im Rahmen der „Regensburger Vorträge zum östlichen Europa“, sie habe bei Beginn der Abfassung ihres Textes nicht damit gerechnet, dass die Berichterstattung über Ungarn bald emotional so stark aufgeladen sein werde. Umso mehr wolle sie nun mit ihrem Doppelblick verstehendes Interesse für Ungarn wecken.


Geistige Westbewegung

Die an der Friedrich-Schiller-Universität Jena emeritierte Professorin für Südslawistik und Südosteuropastudien spürt in zehn Kapiteln und 65 Abschnitten den kulturellen und politischen Selbstzuordnungen Ungarns nach, deren Geschichte zeitgleich mit jener des Stephansreiches begann. Nach der Landnahme im Donau-Karpatenbecken am Ende des 9. Jahrhunderts waren die Außenbeziehungen des ungarischen Volkes nicht mehr mit großräumigen Verschiebungen verbunden.

Die Christianisierung des heidnischen Stammesverbandes und die Begründung der Staatlichkeit um das Jahr 1000 waren vielmehr das Ergebnis einer geistigen Westbewegung. Es ist einer der epochenübergreifenden Grundzüge der ungarischen Geschichte, dass die Träger von Staat, Gesellschaft und Kultur nach der Eingliederung in die Gemeinschaft des westlichen Christentums dennoch nicht aufhörten, ihren Blick immer auch dem Osten zuzuwenden.

Gabriella Schubert sieht in diesem Phänomen das Grundmoment selbstreflektierender Denk- und Geisteshaltungen in einem Land, dessen Sprache sie für das bestimmende Merkmal des ungarischen Selbstbildes hält. Deshalb widmet sie sich einerseits den Selbstpositionierungen zwischen Westeuropa, Mitteleuropa und Ostmitteleuropa, andererseits der Herkunft, der inneren Struktur und den äußeren Kontakten des Ungarischen.

Die Reihe der übrigen inhaltlichen Knotenpunkte reicht von den Abstammungshypothesen, den allerersten Stufen der Integration in Europa während der Landnahme und die anschließende Christianisierung über die Ungarn-Bilder des Auslands einerseits, die Eigenbilder im 20. Jahrhundert andererseits, bis hin zu den nationalen Symbolen und einer mutigen Auswahl an historischen Persönlichkeiten, Schriftstellern und Komponisten.


Von „innen her“ verfasst

Gabriella Schubert betonte in Regensburg, dass sie sich mit ihrem reich bebilderten Buch vor allem an das deutschsprachige Lesepublikum wendet. Auch in ihrem Vortrag am 26. Juni 2019 betrieb sie populäre und informative Wissenschaft in deren bester Tradition: sachbezogen, fundiert und ohne Polemik. Dabei deckte sie auch ihre ungarischen Innensichten wohltuend auf. Aus ihrem Buch seien hierzu beispielsweise die Ausführungen unter dem Untertitel „Platzhalter auf der Ost-West-Achse“ mit Darstellungen der individuellen und sachlichen Gegensatzpaare Großfürst Árpád-König Stephan I., István Graf Széchenyi-Lajos Kossuth und Labanzen-Kuruzen (als Synonyme für kaisertreue beziehungsweise patriotische Verhaltensweisen) empfohlen.

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Autorin Gabriella Schubert wuchs in Budapest auf.


In eben diesem Abschnitt stellt Schubert auch die historische Gestalt vor, „dem der Spagat zwischen Ost und West gelang“: Gyula Graf Andrássy, der nach seiner Teilnahme am antihabsburgischen Freiheitskampf 1848/1849 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1857 aber begnadigt wurde und von 1867 bis 1871 ungarischer Ministerpräsident, schließlich von 1871 bis 1879 gemeinsamer Außenminister der österreichisch-ungarischen Monarchie war.

Gehörig von innen verfasst ist außerdem das Kapitel „Nationale Symbole und deren Narrative“ unter anderem zu umstrittenen geschichtlichen Denkmälern wie jenes auf dem Budapester Freiheitsplatz zur Erinnerung an die Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Vom polemischen Ton der Berichterstattungen lässt sich Schubert auch hier nicht anstecken – eine besonders lobenswürdige Leistung, ist doch die entsprechende Versuchung auf ungarischer wie auf deutscher Seite, also in der Innen- wie auch der Außensicht, seit geraumer Zeit gleichermaßen groß.

Konzeptionelle Gründe sprachen sowohl in der Monografie als auch beim Vortrag dagegen, den Untersuchungshorizont auf die ungarischen Minderheiten auszuweiten. In diesem Zusammenhang sind noch Forschungsaufgaben zu bewältigen, leben doch seit rund 100 Jahren zahlreiche Magyaren auch außerhalb ihres Nationalstaates. So dürfte sich in Rumänien, der Slowakei und in Jugoslawien beziehungsweise Serbien, Kroatien und Slowenien ein beträchtlicher ungarischer Erfahrungs- und Erlebnisschatz angesammelt haben. Es wäre lohnenswert, Abweichungen und Unterschiede, Analogien und Übereinstimmungen zwischen den ungarischen Selbstbildern jenseits und diesseits der besagten Staatsgrenzen aufzudecken.


Ungarn – quo vadis?

Die „Regensburger Vorträge zum östlichen Europa“ stellen im Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa Regensburg eine Kooperationsebene mehrerer Einrichtungen für die außeruniversitäre und universitäre Ost- und Südosteuropaforschung dar. So vernahm der Veranstalter dieses Abends, das Ungarische Institut der Universität Regensburg, den Wunsch des Publikums nach Diskussion von Fragen allgemeineren Interesses.

Das Buch und der Regensburger Vortrag Gabrielle Schuberts haben ja die – nicht nur für Wissenschaftler spannende – Frage aufgeworfen, ob Ungarn mit den östlichen Bindungen seine westliche Grundorientierung ersetzte oder nur ergänzte, und ob es den Osten aus ideellen oder vielmehr nur aus pragmatischen Gründen als Bezugspunkt beibehielt. Waren reiternomadischer Ursprung und finnisch-ugrische Sprachherkunft hinreichend, um das Bewusstsein einer Östlichkeit Jahrhunderte hindurch zu nähren? Oder wurde die Westlichkeit von politischen Notwendigkeiten wie die osmanische Besetzung Mittelungarns während der Dreiteilung im 16. und 17. Jahrhundert oder seine Zwangsintegration in das kommunistische System im 20. Jahrhundert vorübergehend gelockert beziehungsweise aufgehoben?

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Gabriella Schubert betonte in Regensburg, dass sie sich mit ihrem reich bebilderten Buch vor allem an das deutsch-sprachige Lesepublikum wendet.

Auf aktuelle internationale Entwicklungen angesprochen, deutete die Referentin mit dem Hinweis auf eine Art Trotz-Östlichkeit die mögliche Erklärung an. Sie gab dann aber die Frage dem Publikum zurück, aus dem schließlich die Meinung herauszuhören war, dass Budapests heutige Nähe zu Moskau nicht einem geistigen Zugehörigkeitsgefühl entspringe, sondern ein parteipolitisch einsetzbares Element des gesamteuropäischen Machtkampfes sei. Sollte, halten wir nach Analogien Ausschau, etwa dem deutschen Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der Aufsichtsratsvorsitzender eines russischen Mineralölunternehmens ist, unterstellt werden, dass er auf den östlichen Spuren der deutschen Nation wandeln würde? Wohl kaum.


Nationalistisch oder bloß nationalbetont?

In der Abschlussdiskussion kam noch der Aspekt des ungarischen Nationalismus auf den Tisch. Gabriella Schubert umreißt in diesem Teilthema für zwei geschichtliche Epochen zwei gegensätzliche Bilder. Einerseits folgt sie dem international mehrheitlichen Standpunkt über eine Fremdenfreundlichkeit im mittelalterlichen Ungarn, das die Fachliteratur als Gastland zu bezeichnen pflegt. Andererseits beschreibt sie im Zusammenhang mit der gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden ungarischen „Spracherneuerung“ einen ungarischen „Kulturimperialismus“ und eine „Magyarisierungspolitik“ – diese vor allem im Zeitalter des österreichisch-ungarischen Dualismus.

Ihre Feststellung über eine Assimilationswelle gegenüber Nichtungarn ist zutreffend – doch ist sie auch vollständig, deckt sie alle Ausschnitte der erschließbaren historischen Wirklichkeit ab? Aus der Regensburger Zuhörerschaft waren Bedenken zu vernehmen, ob der Fachbegriff Nationalismus aussagekräftig genug wäre, nachdem er in den vergangenen Jahren auf großmedialen Meinungsdruck auch in Deutschland einen Bedeutungswandel erfahren hat? Heutzutage scheinen alle oder die meisten Arten der ethnisch-kulturellen Manifestation als nationalistisch zu gelten. Vor zwei, drei Jahrzehnten war dieses Adjektiv noch Handlungen vorbehalten, die sich gegen eine nationale Seite richten, und mit denen ihre Urheber in Kauf nehmen oder sogar bezwecken, die Rechte eben jener angegriffenen nationalen Seite zu verletzen.

Früher vermieden es auch Journalisten, Versuche zum Schutz eigener Rechte etwa auf sprachlichem Gebiet als nationalistisch zu werten. In der historischen Dimension ist es jedenfalls bedenkenswert, so der Diskussionsbeitrag aus der Regensburger Zuhörerschaft, dass die ungarische Nationalbewegung seit dem späten 18. Jahrhundert beispielsweise in der Sprachenfrage gleich zwei Rollen einnahm, indem sie das Ungarische zwar den Nationalitäten aufzudrängen, zugleich aber, in der Abwehrhaltung gegenüber dem Wiener Hof, aus der Vorherrschaft des Deutschen zu lösen befleißigt war. Insofern waren die ungarischen Eliten sowohl nationalistisch als auch – bloß – nationalbetont, und sie waren beides womöglich über weite Strecken gleichzeitig.

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Ein weiteres Ergebnis der Regensburger Buchpräsentation – wie auch des Buches selbst – verdeutlicht die Notwendigkeit, dem ungarischen Nationalismus auch im österreichisch-ungarischen Dualismus mit größtmöglicher Umsicht auf den Grund zu gehen. Die deutsche Geschichtswissenschaft spricht für die ungarische Gesellschaft von der Ethnisierung des Nationsbegriffs, die sich in einer durchgängigen und eindimensionalen Magyarisierungspolitik manifestiert habe.

Eine andere Interpretationsart unterscheidet die staatlich gesteuerte und geförderte Magyarisierung von der freiwilligen Assimilierung, die viele Bürger nichtungarischer Herkunft unter der anziehenden Wirkung der sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung im Königreich Ungarn vollzogen. Letzterer Befund berührt das internationale, in erster Linie deutsche Ungarn-Bild mit allgemeinen Langzeitwirkungen und sollte deshalb für zukünftige Analysen vertieft aufgearbeitet werden.

Die Autorin des Buches „Was ist ein Ungar?“ gewährt neben den sprachwissenschaftlichen und historiografischen auch ethnologische Einblicke in die Materie, für die Historiker nur dankbar sein können. Solche Werke sind für die interdisziplinäre Regionalwissenschaft, wie sich die Hungarologie außerhalb Ungarns begreift, unentbehrlich, da sie die Leserschaft allgemeinerer Vorbildung ansprechen und sachlich zuverlässig aufklären, während sie das Fachpublikum zum Nachdenken über erledigte und noch anstehende Forschungsfragen anregen.



Gabriella Schubert: Was ist ein Ungar? Selbstverortung im Wandel der Zeiten. Wiesbaden: Harrassowitz 2017. 319 S., 112 farb. u. sch/w Abb., geb. Ausgabe: 39,90 Euro.

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