Wir schreiben das Jahr 1489: Der junge Michelangelo wird von der einflussreichen Medici-Familie in die hauseigene Akademie im italienischen Florenz geholt. Er soll Skulpturen für sie fertigen. Der 16-jährige Lehrling schaut sich die Motive für seine Bildhauerei von antiken Krieger-Sarkophagen ab und meißelt Kampfszenen mit beeindruckender Präzision in Marmorblöcke. Schnell erntet er die Bewunderung seiner Lehrer – ebenso wie den Neid seiner Mitstreiter. In einem Wutanfall bricht ihm einer der Lehrlinge sogar die Nase. Sie wird nie wieder gerade werden, wie auch sein Portrait, das derzeit im Budapester Museum der Schönen Künste ausgestellt wird, beweist.

Doch Michelangelo ist nicht zufrieden, seine Darstellungen sind ihm nicht fein genug. Die Faszination für den menschlichen Körper treibt ihn so weit, dass er Straftaten begeht. Mit Erlaubnis des Priors schleicht er sich in die Kammern der örtlichen Kirche und schaut beim Sezieren von Leichen zu – und seziert sogar selbst. Er dokumentiert seine Entdeckungen über die Muskelstruktur, den Knochenaufbau und die Sehnen der Toten auf Papier.

Von da an betrachtet Michelangelo den menschlichen Körper auf eine völlig neue Art und Weise – das spiegelt sich auch in seinen Zeichnungen wider.


Vom Lehrling zum Pionier

Damit unterscheidet sich das Ausnahmetalent von anderen Künstlern der Renaissance, die bisher wenig plastisch und organisch zeichneten. Gemeinsam mit Leonardo Da Vinci und Raffael, von denen auch einige Zeichnungen in der aktuellen Ausstellung in Budapest zu sehen sind, prägte Michelangelo die Blütezeit der Renaissance (dt.: Wiedergeburt), die den Menschen als ästhetisches und individuelles Geschöpf feierte. Viele seiner Skizzen dienten als Blaupause für seine Fresken und schließlich auch als Inspiration für Generationen von Künstlern.

Das Museum der Schönen Künste präsentiert derzeit 30 Werke Michelangelos, die über sieben Jahrzehnte hinweg entstanden, sowie weitere 50 Werke von Künstlern des 16. Jahrhunderts. Die Ausstellungsstücke stammen aus Privatsammlungen sowie aus den berühmtesten europäischen Museen wie dem Louvre in Paris oder dem British Museum in London. Zu sehen sind unter anderem dynamische Körperstudien von Athleten und Kriegern, aber auch Skizzen verschiedener Gesichtsformen und -ausdrücke, welche mit roter und weißer Kreide oder brauner Tinte gezeichnet wurden. Da bei dem 500 Jahre alten Papier die Gefahr bestehe, auszubleichen, so der Ausstellungskurator Zoltán Kárpáti, werde es nur alle drei Jahre für jeweils drei Monate präsentiert. Illustrierte Biografien in ungarischer und englischer Sprache begleiten die Ausstellung.


Zwischen Genie und Wahnsinn

1501: Ein fünfeinhalb Meter hoher Marmorblock überquert per Schiff das Mittelmeer nach Florenz. Doch er ist beschädigt. Zwei Künstler versuchen an ihm zu meißeln – und scheitern. Er sei ungeeignet, heißt es schließlich. Der Florentiner Dom aber will ihn nicht aufgeben und beauftragt die begabtesten Künstler der Zeit mit dem Projekt, darunter auch Leonardo Da Vinci. Doch nur Michelangelo nimmt den Auftrag an.

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Auch Kreidezeichnungen von Leonardo Da Vinci wie die „Studie eines Kopfes“ sind in der Ausstellung zu sehen.


Aus dem sechs Tonnen schweren Stein soll die biblische Figur des David entstehen. Wie in der Museumsausstellung zu lesen ist, schottet sich der 26-jährige Künstler während seiner Arbeiten an dem Projekt von der Außenwelt ab – andere sollen seine Ideen nicht klauen können. Er arbeitet Tag und Nacht an dem Stein, isst und schläft nicht mehr, heißt es. Trotzdem schafft er es nicht, seinen Vertrag zu erfüllen, denn er braucht länger als gefordert. Drei Jahre lang meißelt er an dem Marmorblock, bis schließlich die bedeutendste Skulptur in der Geschichte der Bildhauerei entsteht: der David von Florenz. Michelangelo wiegt sich in Bescheidenheit: Er habe die Statue nicht geformt, denn jeder Marmorblock trage bereits eine Form in sich. „Ich habe nur entfernt, was nicht David war“, schreibt er in seinen Notizen.


Gegen die Regeln der Kunst

Zwar fertigte er für den David angeblich keine einzige Skizze an, aber seine Studien zeigen ähnliche männliche Figuren, deren Körperspannung und feinste Bewegungen Michelangelo aus etlichen Perspektiven probte. Stolz ist das Budapester Museum der Schönen Künste aber nicht nur auf diese Bilder. Es beherbergt auch die Skizze zu dem Gemälde „Leda und der Schwan“, einer weiblichen Figur aus der griechischen Mythologie. Es ist Michelangelos wohl erotischstes Gemälde, da es die junge Leda unbekleidet zeigt, womit er seiner Zeit voraus war.

Der französische Hof kaufte ihm das Werk zwar ab, ließ es aber nach einiger Zeit wegen der „unmoralischen“ Darstellung verbrennen. Heute existiert nur noch eine Kopie des Bildes sowie Michelangelos Skizzen. „Die Studie mit dem roten Kreidekopf für die Leda ist nicht nur eine der schönsten Zeichnungen von Michelangelo, sondern wird als eine der schönsten Zeichnungen der italienischen Renaissance überhaupt angesehen“, erklärt Kurator Zoltán Kárpáti stolz.

So wie seine Entwürfe seine ursprünglichen Ideen aufzeigen, so dokumentieren sie auch die Entwicklung des Künstlers. Obwohl der Mythos vorherrscht, dass Michelangelo sich alles selbst beigebracht habe, zeigen seine Zeichnungen eine andere Geschichte. Sie erinnern an Werke von Giotto di Bondone und Masaccio, Künstlern der Frührenaissance. Viele seiner Studien, für die er keine Verwendung mehr hatte, verbrannte er, was seine noch vorhandenen Werke besonders wertvoll macht.


Ein Maler, der keiner sein will

1508: Es ist der Papst höchstpersönlich, der den 33-jährigen Michelangelo nach Rom bittet, um die Decke der Sixtinischen Kapelle zu bemalen. Er gilt als der beste Bildhauer seiner Zeit, doch für seine Zeichnungen ist er nicht bekannt. „Ich bin kein Maler“, beteuert Michelangelo und sieht sich der Aufgabe nicht gewachsen. Doch der Papst lässt nicht locker, er sichert ihm vollständige Gestaltungsfreiheit zu. Michelangelo nimmt schließlich an.

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Mit roter und weißer Kreide hebt Michelangelo die Muskelstruktur hervor.


Wie das Museum der Schönen Künste schreibt, schuf er auf 520 Quadratmetern die Schöpfungsgeschichte, darunter die Erschaffung Adams und die Vertreibung aus dem Paradies. Sein Werk ist in Szenen unterteilt, die durch ihre Rundbögen und Rechtecke wie ein architektonisches Gerüst wirken. Seine Helfer dürfen die 105 Figuren zwar ausmalen, Hilfe bei ihrer Gestaltung lässt er aber nicht zu, der Anspruch sei zu hoch.

Obwohl Michelangelo sich als Universalgenie beweist, bereitet ihm die Arbeit keine Freude. „Mein Pinsel ist über meinem Kopf und tropft Farbe auf mein Gesicht. Ich bin gebogen und mein Rücken schmerzt“, hält er in seinen Notizen fest. Vier Jahre dauert es, bis die monumentalen Fresken in der Kapelle vollendet sind. Fast drei Jahrzehnte später soll Michelangelo auch die Altarwand der Kirche gestalten, diesmal mit dem Jüngsten Gericht.

Die Ausstellung widmet den Gemälden der Sixtinischen Kapelle einen ganzen Raum. Rote Kreidestudien zeigen nackte Jugendliche, die sich in den unüberschaubaren Menschenmengen des Jüngsten Gerichts wiederfinden.

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Die Kreidestudie für „Leda mit dem Schwan“.


Auch hier war Michelangelo seiner Zeit voraus. Er zeichnete die meisten der circa 400 Figuren unbekleidet, in liegenden, fallenden und schwebenden Positionen. Viele Kritiker empfanden die Nacktheit der Körper als „empörend“, bis schließlich ein anderer Künstler mit der Verhüllung der Geschlechter beauftragt wurde. Zwar hielt dieser die Veränderungen so minimal wie möglich, das ursprüngliche Aussehen des Gemäldes geht aber heute trotzdem nur noch aus Michelangelos Skizzen hervor.


Fazit

In die Geschichte ist der Künstler vor allem wegen seines bildhauerischen Talents eingegangen. Mit der Ausstellung setzt das Museum der Schönen Künste den Akzent allerdings auf die malerische Karriere des Universalgenies und beleuchtet so seine Vielfältigkeit. Einzig nachteilig ist, dass die Budapester Ausstellung die Werke nicht in chronologischer Reihenfolge präsentiert, was dem Besucher noch besser ermöglicht hätte, Michelangelos Entwicklung nachzuvollziehen. Sie stellt ihn aber in einen Kontext mit anderen Künstlern seiner Zeit und zeigt so seinen Einfluss auf die Maler des 16. Jahrhunderts und wie er die konventionelle Kunst veränderte – ein echtes Jahres-Highlight für Kunstliebhaber und Historiker.

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Falten und Konturen lassen die Zeichnungen lebendig wirken.
Ausstellung „Triumph of the Body – Michelangelo and Sixteenth-century Italian Draughtsmanship“ im Museum der Schönen Künste

Budapest, XIV. Bezirk, Dózsa György út 41

Bis zum 30. Juni 2019

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17.45 Uhr

Eintritt: 3.200 Forint (online 3.000 Forint)

Weitere Informationen finden Sie auf www.mfab.hu

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