Der jüdische Friedhof in der Salgótarjáni utca ist menschenleer, er gleicht einem idyllischen Waldpark. Die letzte Beerdigung fand dort um die Jahrtausendwende statt. Heute ziehen meist nur ein Pförtner und seine zwei Katzen ihre Runden. Hebräische, ungarische oder altdeutsche Schriftzüge verzieren die zum Teil 100 Jahre alten Grabsteine. Trümmerteile säumen die Pfade, riesige Mausoleen, von denen einige geplündert wurden, werden restauriert oder durch Holzkonstruktionen vor dem Zusammenbruch bewahrt. Etwas versteckt hinter Bäumen und Efeuranken wurde auf Tausend Quadratmetern ein Denkmal für die Opfer des Budapester Ghettos geschaffen.


Erforschung großer jüdischer Friedhöfe

„Es hat damit begonnen, dass ich diesen verlassenen Friedhof in Budapest besucht habe. Ich dachte mir sofort, damit muss man doch etwas machen“, erzählt Rudolf Klein. Mit diesem Anliegen reiste der Architekturprofessor nach Berlin und leitete gemeinsam mit dem Direktor des Berliner Landesdenkmalamtes einen UNESCO-Antrag in die Wege. Der Internationale Rat für Denkmalpflege, kurz ICOMOS, beauftragte den 63-Jährigen daraufhin mit der Erforschung großer jüdischer Friedhöfe in Europa.

Einfach nur online nach Informationen zu suchen, war Rudolf Klein jedoch nicht genug: „Das muss man schon mit seinen eigenen Augen sehen“, bekräftigt er. So begann seine zweijährige Fotoarbeit, deren Ergebnisse er schließlich in Zusammenarbeit mit dem Landesdenkmalamt Berlin in dem Buch „Metropolitan Jewish Cemeteries“ veröffentlichte.

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In diesem Mausoleum in der Salgótarjáni utca ruhen fünf Familien.


Darin sind 30 Grabstätten unter anderem in Warschau, Bratislava, Berlin, Lodz, Wien, Vilnius, Zagreb und Budapest dokumentiert. Im Gegensatz zum Buch, bei dem es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handle, solle die aktuelle Ausstellung in der Budapester Kunsthalle eher etwas für die Augen sein. In zwei Räumen sind seine besten Fotografien sowie ein Interview und bebilderte Informationstafeln ausgestellt.


Ein Grabstein als Geschichtsbuch

„Das Besondere an den jüdischen Friedhöfen ist, dass man die Geschichte aus ihnen lesen kann wie aus Büchern: Handgeschrieben auf dem Boden, mit Grabsteinen als Buchstaben, Gassen als Hintergrund und von langen Mauern eingerahmt“, erklärt Klein.

Juden glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Toten nach dem Eintreffen des Messias. Daher ist offiziell nur die Erdbestattung erlaubt. Die Unantastbarkeit der Totenruhe, erklärt Klein, führe dazu, dass Gräber und Grabmale über Jahrhunderte erhalten bleiben und über Generationen hinweg „wachsen“. Auf anderen Friedhöfen werden, um Platz zu schaffen, nach Ablauf von Ruhefristen immer wieder einzelne Gräber oder ganze Grabfelder geräumt.

Dem Problem des Platzmangels begegnen jüdische Friedhöfen, indem neue Gräber über älteren entstehen. Die Grabsteine werden dabei jedoch nicht entfernt, was zum Teil in einem eindrucksvollen Meer an Grabsteinen resultiert.

Es gebe Friedhöfe mit Grabmalen, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen und so die Lebensweise der Juden über Epochen widerspiegeln, schildert Klein. Sie erzählen von der Segregation von Männern, Frauen, Kindern, Armen und Reichen. Von Gebildeten und Kriminellen, die ihre eigenen Bereiche zugesprochen bekommen haben. Für Wissenschaftler gibt es sogar Ehrenreihen.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts galten alle Juden im Tode als gleich und auch ihre Ruhestätten waren schlicht. Erst mit ihrer Eingliederung in die Mitte der Gesellschaft begannen sie, ebenso prächtige Denkmäler zu erbauen wie es bei den Christen dieser Zeit üblich war.


Ein Schmelztiegel der Architektur

„Im Judentum gibt es keine eigene Formensprache“, erklärt Klein. „Es ist eine Kultur der Schrift, daher bedient sie sich anderer Architekturstile.“ Die jüdische Begräbniskultur blicke auf eine drei Jahrtausende lange Geschichte zurück, aber als Ergebnis der jüdischen Diaspora und des Bildnisverbotes entstand keine übergreifende Grabsteinkunst.

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Juden glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Toten.


Die jüdischen Gräber entwickelten sich stattdessen in einem ständigen Dialog mit der Bestattungskunst anderen Religionen. Laut Klein kann man an den Kuppeln, Säulen, Arkaden, Obelisken, Rundbögen und Ornamenten der Steine und Mausoleen klar ablesen, welche Kultur zur jeweiligen Zeit den meisten Einfluss hatte. Die griechisch-römische, byzantinische, islamische, mittelalterliche und moderne Stilart hätten ihren Stempel in dieser Denkmalkultur hinterlassen, betont er. Heute seien Friedhöfe daher ein wichtiges Hilfsmittel bei der Erforschung der jüdischen Geschichte.


Vereint mit der Natur

Statt Blumenschmuck ist es im Judentum üblich, kleine Steine als Zeichen des Andenkens auf die Grabsteine zu legen und die Stätten ansonsten mit Efeu, Farnen und Moosen überwachsen zu lassen. Vor allem alte Gräber sind oft vollständig von der Natur vereinnahmt. Diese Besonderheit lässt die Friedhöfe zu Anlagen mit einer großen biologischen Artenvielfalt werden.

Ein Beispiel dafür sei laut der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, kurz DBU, auch der größte jüdische Friedhof Europas in Berlin-Weißensee, den Rudolf Klein ebenfalls fotografiert hat. Seit den 1970er-Jahren stehe dieser unter Denkmalschutz und habe sich inzwischen zu einem wertvollen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten entwickelt. Blütenpflanzen, Vögel, Fledermäuse sowie seltene und gefährdete Gewächse seien hier inzwischen heimisch.

Einer der Gründe, warum jüdische Friedhöfe so schwierig zu erhalten sind, ist laut DBU auch der Konflikt zwischen Naturschutz und Denkmalpflege. Zudem gibt es nicht in allen europäischen Ländern genügend Fördermittel, um die Anlagen ausreichend zu pflegen und für die Nachwelt zu erhalten.


Ein Teil der Gedenkkultur

Für Rudolf Klein ist seine Arbeit sowohl von historischer als auch von privater Bedeutung. Er wurde als Sohn einer jüdischen Mittelschichtfamilie im serbischen Subotica (ehemals Österreich-Ungarn) geboren. Seine Großmutter und andere Verwandte kamen im Konzentrationslager in Auschwitz ums Leben, wieder andere Verwandte überlebten es. Sein Vater habe die Kriegsgefangenschaft überstanden, weil er sich als Übersetzer von Briefen viele Freunde gemacht hat und sich so etwas Speck verdienen konnte. Nach dem Krieg heiratete er eine deutsche Frau. Durch seinen „jüdischen Kopf und den deutschen Fleiß“, wie Klein es selbst bezeichnet, lernte er neben seiner Muttersprache Ungarisch auch fließend Deutsch, Kroatisch, Russisch, Hebräisch und Englisch sowie ein wenig Polnisch.

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Rudolf Klein: „Das Besondere an den jüdischen Friedhöfen ist, dass man die Geschichte aus ihnen lesen kann wie aus Büchern.“


Bereits als Kind habe er sich für Gebäude interessiert und Bücher über Architektur gelesen. Mit 13 habe er seine erste Kamera geschenkt bekommen und zu fotografieren begonnen. Klein studierte Architekturtheorie in Zagreb und arbeitete anschließend sieben Jahre in der Branche. „Ich merkte aber, dass ich kein Talent dafür habe. Meine Häuser waren krumm und schief. Ich wollte nicht länger die Umwelt damit verschmutzen und habe mich deshalb der Wissenschaft zugewandt“, so der heutige Professor für Architekturgeschichte.

In seiner wissenschaftlichen Laufbahn verfasste er zwölf Bücher über das Judentum und Synagogen in Mitteleuropa sowie jüdische Friedhöfe des 19. und 20. Jahrhunderts. Als Professor für Architekturgeschichte lehrte er unter anderem in Budapest, Novi Sad und Tel Aviv, wo er zwölf Jahre lang lebte, sowie als Gastprofessor in Harvard, Braunschweig, Oulu und Tokio.


Ausstellung „Houses of Life - Immortal Jewish Cemeteries“ in der Budapester Kunsthalle (Műcsarnok)

Budapest, XIV. Bezirk, Dózsa György út 37

Bis zum 28. April 2019

Eintritt: 600 Forint

Weitere Informationen finden Sie auf www.mucsarnok.hu

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