Schon seit drei Jahren wachsen die ungarischen Löhne intensiv. Wie lange lässt sich diese Dynamik halten?

Der Lohnanstieg hält in der gesamten Region seit Jahren an, wenn auch in den einzelnen Ländern im unterschiedlichen Maße. Das hat seine Hauptursache in der Absorptionskraft des Arbeitsmarktes der Europäischen Union. Außerdem wächst diese Region zu einem Großteil dank der Fördermittel der EU sehr rasant, was die Nachfrage nach Arbeitskräften am Binnenmarkt intensiviert. Sollten keine schwerere Rezession eintreten und die EU-Gelder nicht versiegen oder aber die EU aus irgendeinem Grund die dort arbeitenden Ungarn nicht nach Hause schicken wollen, lässt sich dieser dynamische Lohnanstieg auch in den nächsten zwei, drei Jahren weiter halten.


Ist dieses „Lohnfieber“ in Ordnung? Viele Experten können sich das nur im Einklang mit steigender Produktivität und Effizienz vorstellen.

Der ungarische Arbeitsmarkt gilt in Europa als integriert. Da müssen die Löhne folgerichtig konvergieren, ich sehe nicht, wie das anders gehen könnte. Selbst wenn das deutsche Lohnniveau heute noch das Dreifache des ungarischen ausmacht, lässt sich bei „offenen Toren“ doch nicht verhindern, dass sich die einheimischen Löhne früher oder später den deutschen Löhnen annähern. Selbstverständlich lässt sich ein solcher Vorgang ohne Produktivitätssteigerungen nur kurze Zeit aufrechterhalten. Wir können jedoch beobachten, dass die Unternehmen endlich damit angefangen haben, die (fehlenden oder verteuerten) Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen. Somit kommt unausweichlich ein Produktivitätsschub in Gang. Im Grunde genommen erleben wir hier einen Prozess, bei dem der Westen einen Teil unserer Arbeitnehmer zu sich locken konnte, woraufhin die Unternehmen hierzulande genötigt sind, zu investieren beziehungsweise ihre Effizienz zu steigern. Diese Entwicklung ist für die Wirtschaft grundsätzlich gesund.


Noch ist der Westen attraktiv; zudem halten viele Ungarn wegen des schwachen Forints weiter zu ihrer Auslandsarbeit. Wie stark müssten die Durchschnittslöhne in Ungarn noch steigen, damit die Leute nicht mehr weg wollen?

Das lässt sich nur sehr schwer abschätzen. Ausgehend vom ungarischen institutionellen Umfeld und dem Entwicklungsstand des Humankapitals halte ich es aber für wenig wahrscheinlich, dass unsere Löhne markant über das griechische oder portugiesische Lohnniveau hinausschießen werden. Ich denke, unterm Strich dürften die Einkommen in den kommenden Jahren realistisch um 20-40 Prozent zunehmen. Das sollte zugleich ausreichen, um die meisten im Land zu halten.


Die in jüngster Zeit vermehrten Streiks haben derweil gezeigt, dass die ungarische Arbeitskraft noch immer billig ist. Lohnt es sich demnach für die Multis, auch weiterhin bei uns zu produzieren und halt schrittweise die Löhne anzuheben?

Die multinationalen Unternehmen haben sich logischerweise deshalb bei uns angesiedelt, weil sich die Beschäftigung billiger Arbeitskräfte für sie lohnt. Nachdem die Multis in den übrigen Visegrád-Staaten (V4) charakteristisch bereits höhere Löhne als in Ungarn zahlen, dürften ihnen Lohnerhöhungen im oben genannten Umfang keine Schwierigkeiten bereiten. Wegen der konzerninternen Kostenverrechnung solcher Großunternehmen – die ihre Gewinne ausgesprochen flexibel in andere Länder transferieren können – lässt sich tatsächlich nur schwer schätzen, bis zu welchem Niveau sie noch mitzugehen bereit sind.


Wie sieht es mit dem KMU-Sektor aus? Experten warnen, diese können die steigenden Löhne mehrheitlich nicht mehr erwirtschaften.

Die aggressiven Lohnerhöhungen bereiten den einheimischen Unternehmen in der Tat Probleme. Im Dienstleistungssektor wird dieser Druck allerdings weitgehend in Form von Preiserhöhungen weitergereicht, was die Inflation anheizt. Industrieunternehmen bleibt nichts anderes übrig, als Investitionen zur Auslösung von Arbeitsplätzen anzugehen. Natürlich wird es auch Firmen geben, die der Herausforderung nicht gewachsen sind und dichtmachen müssen. Die dort freiwerdenden Arbeitskräfte sorgen schließlich für verringerte Spannungen am Arbeitsmarkt. Diese Entwicklung mag auf Mikroebene viele Kopfschmerzen bereiten, aber für die Gesellschaft ist das die Zukunft: So wurde aus Hongkong in fünfzig Jahren ein Zentrum der Finanzwelt und hoher Wertschöpfung; dabei fing alles mit der Produktion von Kunstblumen an.


Was sind die Risiken für die einheimische Lohndynamik?

Ich sehe in diesem Zusammenhang gleich drei enorme Gefahrenquellen. Allgemein bekannt ist, dass die überhitzte Wirtschaft Chinas bei einem Platzen der Blase die gesamte Weltwirtschaft mit sich reißen kann. Der zweite Aspekt ist die Ohnmacht und Impotenz Europas, die eine tiefe Krise herbeiführen kann. Der dritte Punkt hängt freilich von uns selbst ab: Wir sind nämlich wirtschaftlich mittlerweile dermaßen mit der EU verflochten, dass wir uns einfach nicht leisten können, von deren Geldhähnen abgeschnitten zu werden. Diese tiefe Integration erlaubt die Feststellung, dass es kein Leben mehr außerhalb der Gemeinschaft gibt, dass Ungarn ohne die EU ganz sicher ins Chaos stürzen wird. Deshalb wäre es ratsam, sich nicht ernstlich zu überwerfen.

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