Als wir vergangene Woche vom Auftakt des Wirtschaftsjahres der Ungarischen Industrie- und Handelskammer berichteten, wollten wir nicht ganz unbewusst den Eindruck vermitteln, die dort von Seiten der Ungarischen Nationalbank und des Finanzministeriums vorgestellten Konzeptionen seien keineswegs deckungsgleich. Es gibt keinen Streit über den grundlegenden Kurs, eher Diskrepanzen bei der Wahl der Mittel. Der fachliche Stab beider Institutionen steuert die gleichen großen Ziele an, nur gewisse Stellschrauben werden anders gehandhabt.

Auffällig ist, wie die Notenbank auf der einstelligen Einkommensteuer beharrt, weil ihre Experten darin den Quell steigender Realeinkommen sehen. Das Finanzressort fürchtet um das Gleichgewicht des Staatshaushalts – zu groß wäre der Aderlass, zu viele Gebiete liegen brach, die mit angemessenen Finanzspritzen ihrerseits dem großen Ziel dienen könnten. In ähnlicher Weise verfolgt die Notenbank ein anderes Konzept bei der Rollenverteilung staatlicher versus privater Versicherungsleistungen. Naturgemäß betrachten die Bankiers das Kreditwesen als Dreh- und Angelpunkt der Modernisierung. Ihre in der Tat tiefschürfende Analyse mit mittlerweile 330 Punkten verdiente durchaus eine nähere Betrachtung.

Der Ministerpräsident räumte beim Jahresauftakt selbst ein, er müsse beim Umgang mit den Konzepten des Realisten Mihály Varga und des Visionärs György Matolcsy in den Spagat gehen. Während es die Aufgabe von Viktor Orbán ist, diese beiden Anschauungen klug zu kombinieren, konzentrieren wir uns nachfolgend allein auf die Darlegungen des Finanzministers. Welche Thesen propagiert ein Mann, der nach den Worten Orbáns mit beiden Füßen auf dem Boden steht?


Üppige Ernte nach fünf Jahren

Um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes kontinuierlich zu erhöhen, muss die Steuerbelastung auf das Niveau der Visegrád-Staaten (V4) gesenkt werden. Die drei politischen Partner Polen, Tschechien und die Slowakei sind zugleich wirtschaftliche Konkurrenten; ihr Entwicklungsstand eignet sich optimal als Benchmark. Wenn es um sinkende Belastungen geht, sollten nach Ansicht des Finanzministeriums die Steuern und Abgaben auf Arbeit sowie die Investitionshemmnisse im Mittelpunkt stehen. Den Wohlstand der ungarischen Bürger können nachhaltig nur die einheimischen Unternehmen verbürgen. Deshalb verspricht die Regierung insbesondere den Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) im ungarischen Eigentum weitere Steuervergünstigungen sowie eine vereinfachte Administration. Allein mit Steuerbelangen müssen sich ungarische Firmen 277 Stunden im Jahr befassen – bei EU-Spitzenreiter Estland sind diese Angelegenheiten nach 50 Stunden vom Tisch!

Die Schattenwirtschaft soll auch weiterhin systematisch zurückgedrängt werden. Diese These erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, hat das Land doch gerade auf diesem Gebiet zuletzt enorme Fortschritte gemacht und die Mehreinnahmen des Fiskus überwiegend diesem erfolgreichen Kampf gegen illegale und halblegale wirtschaftliche Aktivitäten zugeschrieben. Gemessen am EU-Durchschnitt bleibe aber Nachholbedarf, etwa beim behördlichen Umgang mit Echtzeit-Informationen oder aber bei einer strengeren Beaufsichtigung des Bauwesens.

Ein herausragendes strategisches Ziel stellt die Entwicklung der digitalen Wirtschaft dar. Bei den Unternehmen soll mit Hilfe positiver wie negativer Stimuli ein laufend höherer Grad der Digitalisierung erreicht werden. Das schönste an dem Programm des Finanzressorts dürfte aus der Sicht der Orbán-Regierung sein, dass es kaum Geld kostet. Das für den fünfjährigen Zeitraum bis 2023 ausgelegte Programm würde den Staatshaushalt selbst in seinem kostenintensivsten Zeitabschnitt nur um rund ein Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zusätzlich belasten. Rechnet man jedoch den Wachstumseffekt gegen, den die Maßnahmen des Finanzministeriums nach bestem Wissen und Gewissen generieren sollen, würde sich über fünf Jahre ein kumulierter Effekt von drei Prozentpunkten ergeben. Anders ausgedrückt hofft Varga nach vier schmaleren Jahren schon 2023 auf eine üppige Ernte. Die Reformschritte würden sich demnach bereits mittelfristig auszahlen.


Vom Spitzenreiter zum Schlusslicht

Aber warum eigentlich braucht das Land laufend Reformen, wo doch die vergangenen Jahre von nichts anderem handelten? Um diese Notwendigkeit zu verstehen, hat sich das Finanzressort den bereits seit Jahren von der Notenbank verfolgten Ansatz zu eigen gemacht, wie Ungarn der sogenannten Falle der mittleren Einkommen („middle income trap“) entgehen könne. Allerdings weicht das Schema der Analyse wieder ab. Die ungarische Wirtschaft erzielte auf der Grundlage der Kaufkraftparität im Jahre 1995 ein Pro-Kopf-BIP von 58 Prozent des EU-Durchschnitts, 2017 waren es bereits 71,5 Prozent. Demnach wuchs die einheimische Wirtschaft über die zwei Jahrzehnte markant schneller, als dies innerhalb der Gemeinschaft gewöhnlich war. Tatsächlich zeigte dieser Prozess aber alles andere als einen glatten Verlauf.

Die Transformationskrise des Systemwechsels von 1989/90 konnte das Land 1996 hinter sich lassen. Darauf folgte bis 2006 ein Jahrzehnt, in dem Ungarn seinen Entwicklungsrückstand gegenüber der EU jährlich um einen Prozentpunkt verringern konnte. Das ab 2002 besonders eindrucksvolle Wachstum war jedoch nicht nachhaltig, die Überhitzung sorgte noch deutlich vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise für eine ungarnspezifische Krise. In den Jahren 2009/10 wurde das Gleichgewicht wiederhergestellt und auf der Basis einer stabilisierten Volkswirtschaft 2013 die Wachstumswende eingeleitet. Ungefähr seit 2016/17 nimmt die Realkonvergenz an Fahrt auf.

Erst in den letzten fünf Jahren konnte Ungarn hinsichtlich der Wachstumsdynamik wieder das durchschnittliche Tempo der V4-Gruppe erreichen. Dabei war das Land zwischen 1998 und 2002 der Spitzenreiter in der Region, das sich zwischen 2006 und 2012 in das Schlusslicht verwandelte. Beim Finanzressort unter Leitung von Mihály Varga weiß man die schwer erstrittene Position zu schätzen. Um die Realkonvergenz zu bewahren und konkret ein Wachstum zwei Prozentpunkte über dem EU-Standard zu verwirklichen, muss das Land heute weiter daran arbeiten, die Staatsquote zu senken, die Investitionen zu stimulieren, ein berechenbares Investitionsumfeld zu schaffen und die letzten Arbeitsmarktreserven auszuschöpfen.


Vorbilder Irland, Indien und Malaysia

Ein dauerhaft hohes Wachstum konnten über längere Zeiträume nur wenige Länder realisieren. Gestützt auf die globalen Langzeitstatistiken der Weltbank nimmt sich das ungarische Finanzministerium ein gutes Dutzend solcher Musterländer als Beispiel. Darunter befinden sich aus der EU Irland, Zypern und Malta. Diese wuchsen in unterschiedlichen Zeiträumen, aber jeweils über ein langes Jahrzehnt hinweg um beeindruckende sechs Prozent im Jahr, Irland als Rekordhalter sogar um 7,4 Prozent im Durchschnitt der Jahre 1994 bis 2006! Noch rasanter wuchsen nur die berühmten asiatischen Tigerstaaten, unter denen Singapur über einen fünfzehnjährigen Zeitraum bis 1984 und Südkorea über eine ähnlich lange Zeit bis 1995 ihre Wirtschaftsleistung jährlich um mehr als neun Prozent aufstockten. Ungarn nimmt sich mit seinen durchschnittlich 3,2 Prozent Wachstum zwischen 2013 und 2017 sehr bescheiden aus, hat aber derzeit Kanada und Japan unter den Weltbesten im Visier, die in den 1970er und 1980er Jahren zu Wachstumsraten von 4-4,5 Prozent im Jahr imstande waren.

In der Weltbankstatistik interessierte sich das Budapester Finanzressort bewusst nicht für die arabischen Ölstaaten und jene Länder, die ihr Wachstum teuer erkauften, indem sie ihr Gleichgewicht aufgaben. Die wichtigste Gemeinsamkeit der Vorbilder von Irland bis Japan lautet, dass die Investitionsquote überwiegend 25-30 Prozent erreichte, in Singapur sogar 38 Prozent! Ungarn hat die eigene Investitionsquote von einem historischen Tief um 19 Prozent zuletzt immerhin über 20 Prozent anheben können und steuert derzeit auf 25 Prozent zu.

Zweitens wurde das Wachstum nicht durch staatliche Ausgaben angetrieben – die Quote lag im Schnitt bei nur 10-15 Prozent, im Vergleich zu jenen 20 Prozent, die Ungarn in seinen bislang besten Jahren vorlegte. Drittens zeigt sich eine gewaltige Streuung bei den Staatsschulden. Ein hoher Schuldenstand konnte Indien und Malaysia nicht an der Umsetzung des ehrgeizigen Wachstumsprogramms hindern. In Japan, Singapur und auf Malta nahmen die Schulden in der extensiven Wachstumsphase extrem zu. Das Wachstum mit einem Schuldenabbau zu kombinieren gelang Irland und Chile am besten.

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Deutsche doppelt so produktiv

Viertens trug der Arbeitsmarkt charakteristisch zur Konjunktur bei, mit wachsenden Beschäftigungsquoten (Irland, Singapur) und niedrigen Erwerbslosenquoten (Thailand, Japan). Hier hat Ungarn bereits Spitzenleistungen gezeigt, das seine Beschäftigungsquote um 2,7 Prozentpunkte steigern und die Erwerbslosenquote doppelt so schnell reduzieren konnte. Den Löwenanteil am Wachstum verdankten besagte Länder freilich ihren Produktivitätssteigerungen – hierzulande ist genau das ein extrem kritischer Punkt. Erwirtschaftete ein ungarischer Arbeitnehmer 2017 nach OECD-Angaben 32 Dollar pro Stunde, brachte es ein Deutscher im Schnitt auf 60 Dollar. Dort lag die Produktivität je Beschäftigten nahezu doppelt so hoch, die Löhne erreichten ungefähr das Vierfache des ungarischen Niveaus. Fünftens blieb die Inflation in den Musterländern stabil, ja diese fiel während der intensiven Wachstumsphase häufig noch unter das Ausgangsniveau.

Die vorrangigste Lehre für Ungarn lautet nach Ansicht des Finanzministeriums, dass hierzulande eine komplexe Problemstellung gegeben ist, die für ein nachhaltig hohes Wachstumstempo bewältigt sein will. Zwischen 2013 und 2017 waren das durchschnittliche Wachstum und die Investitionsquote niedriger als in den Ländern, von denen man lernen will. Derweil gab der ungarische Staat weitaus mehr Geld aus, und die Staatsschulden liegen noch immer viel höher, als in den meisten Benchmark-Ländern. Die Beschäftigung konnte durchaus ausgeweitet werden, aber nicht einmal diese Dynamik ist im Teilnehmerfeld der Weltbesten außergewöhnlich. Günstig stelle sich die Lage Ungarns in Sachen Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanz dar. Letztere sichere dem Land eine Finanzierungsposition zu, die gewissermaßen als Reserve herhalten könnte, um die Investitionsquote zu steigern.


Neue und alte Herausforderungen

Ungarn konnte seit 2006 binnen eines Jahrzehnts das Budgetdefizit von neun auf zwei Prozent am BIP, die Staatsquote immerhin von 51 auf 47 Prozent verringern. Die fiskalische Disziplin entspricht mittlerweile weitgehend den Standards in der Region (allerdings weisen Balten und Tschechen längst Budgetüberschüsse auf), die Staatsausgaben liegen aber noch immer deutlich höher, als in der Region. Mit seiner hohen Quote vereitelt der Staat ein optimales Niveau an Investitionen des Wettbewerbssektors. Fehlende Kapazitätsausweitungen halten das Wachstumspotenzial niedrig.

Obendrein können die Strukturen der Staatsausgaben nicht zufriedenstellen. Gemessen am BIP gibt Ungarn noch etwas weniger für produktive Ausgaben wie Humankapital, Infrastruktur und Grundlagenforschung als Deutschland aus. Bei den indirekten Ausgaben liegt die einheimische Quote aber gleich um ein Zehntel höher als die deutsche und um ein Fünftel höher als die slowakische!

Produktivitätssteigerungen erhofft sich das Finanzressort auf dem Wege der Stimulierung von Investitionen, um den Kapitalstock auszuweiten. Eine Investitionsquote um 25 Prozent gilt als Voraussetzung für ein nachhaltig über vier Prozent angesiedeltes Wirtschaftswachstum. Seit der Krise wurde der Tiefpunkt zwar überwunden, die Struktur ist aber nicht ideal: Dank der intensiven Verwendung von EU-Fördermitteln hält der Staat einen stabil hohen Anteil, während die Unternehmen noch immer nicht das Investitionsniveau aus der Zeit nach der Jahrtausendwende erreicht haben.

Die Auslandsinvestitionen erreichen einen Anteil von 65 Prozent am BIP. Damit rangiert Ungarn hinter Tschechien auf Platz 2 in der Region und profitiert somit überdurchschnittlich von den positiven Effekten (technologische Modernisierung, Exportkapazitäten, Arbeitsplätze etc.). Die Wachstumseffekte der Auslandsinvestitionen liegen auf der Hand, dennoch muss sich Ungarn verschiedenen Herausforderungen stellen. Das Klischee von der verlängerten Werkbank ist abzulösen durch Tätigkeiten, die in der globalen Wertschöpfungskette auf einer höheren Ebene angesiedelt sind. Heute findet sich jeder fünfte investierte Euro in der Automobilindustrie; es bedarf einer Diversifizierung. Dazu will die Wirtschaftspolitik künftig Unternehmen in Branchen fördern, die bisher eine Außenseiterrolle spielten. Eine unveränderte Forderung seit Jahrzehnten lautet, die Gebiete östlich und südlich der modernen Zentren von Transdanubien und dem Großraum Budapest zu erschließen.


Aktionsplan M9

Das Finanzministerium setzt die Aufzählung der Herausforderungen in dem neuen Programm für mehr Wettbewerbsfähigkeit noch über lange Seiten fort. Stellvertretend soll hier nur stehen, dass bei aktuell knapp 4,5 Mio. Beschäftigten noch immer eine Arbeitsmarktreserve von 200.-700.000 Personen verbleibt. Ohne demographische Wende wird die Zahl der Ungarn im Arbeitsalter (15 bis 64 Jahre) bis 2030 um rund 400.000 Personen sinken. Der Mangel an Arbeitskräften wird zunehmend zu einem Hemmschuh für mehr Wachstum. Freilich zwingt der Anpassungsdruck die Unternehmen, Produktivität und Effizienz mittels intensiveren Kapitaleinsatzes zu steigern.

Zahlreiche Aktionspläne sollen die Strategie in den kommenden Jahren mit Leben erfüllen. Darunter findet sich das Projekt der Autobahn M9, einer neu durchdachten Verkehrsader von Kőszeg an der Grenze zu Österreich über Szombathely, Zalaegerszeg und Kaposvár bis Szekszárd. Diese soll nunmehr bis 2027 unter Einbindung der südungarischen Metropole Pécs verwirklicht werden, weil mit dieser Route das Arbeitskräftepotenzial der Region optimal ausgeschöpft werden könnte. Die Experten rechnen allein im Zuge der ausgebauten Verkehrsinfrastruktur mit 22.-44.000 neuen Arbeitsplätzen und zusätzlichen Einnahmen des Fiskus von 50-100 Mrd. Forint im Jahr. Die Region Süd-Transdanubien soll dank der M9 eine vergleichbare Entwicklung erfahren, wie diese bis heute längs der Autobahn M1 zu beobachten ist. Ein schönes Beispiel für ein Programm auf dem Boden der Realität.

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