Digitalisierung des Alltags und der Arbeitswelt

„Die globale digitale Transformation hat einen Epochenwandel eingeleitet. Sie wird – darüber sind sich fast alle einig – unsere Gesellschaft vermutlich stärker verändern, als es die Industrialisierung im 19. Jahrhundert getan hat. Die Digitalisierung durchdringt praktisch alle Lebensbereiche, lässt neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten entstehen, ordnet die Arbeitswelt neu, aber auch unser Privatleben“, so der Jurist Wolfgang Hoffmann-Riem in seinem Buch „Big Data - Regulative Herausforderungen“. Das Rohöl dieser Informationsgesellschaft sind Daten, und die Infrastruktur, das Rückgrat der Weltgesellschaft, ist das Internet. Im Jahr 2013 hat der deutsche Bundesgerichtshof erklärt, dass das Internet zur Lebensgrundlage von Privatpersonen gehört.

Profiling des Einzelnen

Wir sind alle von algorithmenfundierter Technosteuerung betroffen, wenn wir Online-Dienste wie die Suchmaschine Google, die Kommunikationsplattform Facebook oder den Versandhändler Amazon nutzen. Die Datensammelwut, der Datenhunger der genannten und Millionen anderer Datendienstleister ist quantitativ kaum mehr erfassbar. Durch die Geschäftsmodelle der Informationsdienstleister werden unser Handeln, unsere Kommunikation und unser Denken in Echtzeit transparent und durchsuchbar für Software, über die wir wenig wissen. Unsere Mauszeigerbewegungen, Spracheingaben und Orts- und Bewegungsinformationen sind der Input der Berechnung der Menschenprofile.

Wohin lassen wir unsere Aufmerksamkeit lenken, was lesen wir, wo registrieren wir uns als Nutzer und wo nicht, welche benutzergenerierten Inhalte stellen wir wo und wann ins Netz? Damit diese Datenhäppchen gewinnbringend als Rohstoff an Werbetreibende in Echtzeit versteigert werden können, fügen soziale Plattformen und andere Dienstleister E-Mail-Adressen, Telefonnummern, Fotos und soziale Verbindungen hinzu, wenn sie verfügbar sind. Welche Websites wir aufrufen, formt zusätzlich unseren „Clickstream“, der dieses Verhaltensprofil noch verfeinert.

Die Steuerung von Newsfeed bei Facebook, der Einsatz der Auto-Complete-Funktion bei Google oder andere Voreinstellungen beeinflussen häufig das Verhalten der Nutzer, ohne das es diesen bewusst ist. Mithilfe von Algorithmen werden Personenprofile erstellt. Mit deren Hilfe Vorlieben, Werthaltungen, Einstellungen und anderes ermittelt werden, auf deren Grundlage dann Konzepte zur Beeinflussung und Selektion entworfen werden. Es ist künstliche Intelligenz, die entscheidet, was wir online lesen und betrachten sollen. Der Mensch wird vermehrt dazu verleitet „digital unconcsious“ zu werden, eben das Objekt unbewusster Steuerung. Ein Grundprinzip moderner Gesellschaften, die Autonomie im Handeln, ist in Gefahr.

Big Data

Daneben eröffnet die Verarbeitung gigantischer Datenmengen, die durch die automatische Digitalisierung jedweder Informationen immer einfacher wird, neue, bisher ungeahnte Dimensionen.

Durch die Verarbeitung riesiger Datenmengen, kommt es auf Genauigkeit, Herkunft und Charakter und vor allem die Ausgangsfragestellung überhaupt nicht mehr an. Bei „Big Data“ werfen allein mathematische Korrelationen Zusammenhänge und Einblicke aus, die mit traditionellen Mitteln sozialer Forschung (Umfragen, Auswertung repräsentativer Gruppen etc.) schlicht nicht gesehen werden können. Und das ist nicht alles: Mit diesen Techniken können zukünftige Entwicklungen, Trends, ja sogar Verhaltensweisen von Kleingruppen und Individuen verblüffend genau vorhergesagt und instrumentalisiert werden.

Informationelle Selbstbestimmung kontra technischer Wandel

In den gegenwärtigen Diskussionen um uferlose Akkumulation personenbezogener Daten, Big Data und letztlich gerade beim Thema Autonomie des Einzelnen geht es immer um den Schutz personenbezogener Daten. Bei der Frage um die Grenzen des Datenschutzrechts wird entschieden, was technisch zwar möglich aber gesellschaftlich nicht erwünscht ist. Insbesondere die Vereinigten Staaten wollten und wollen das Prinzip des „free flow of data“ durchsetzen, moderne Rechtsordnungen halten diesem überkommenen Verständnis das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ entgegen, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht schon 1983 und, diesem Vorbild folgend, auch das ungarische Verfassungsgericht schon 1991 geurteilt haben. Dieses Prinzip prägt seitdem unser Datenschutzrecht und auch die Datenschutz-Grundverordnung, die 2018 in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – und damit auch in Ungarn – an die Stelle des bisherigen Rechts getreten ist.

In der Präambel der Grundverordnung heisst es unter Ziffer 1 wörtlich: „Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht“. Aber das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht, und die Grundverordnung bringt die Belange auf den Punkt, welche gegeneinander abgewogen werden müssen: „…Entwicklungen erfordern einen soliden, kohärenteren und klar durchsetzbaren Rechtsrahmen im Bereich des Datenschutzes in der Union, da es von großer Wichtigkeit ist, eine Vertrauensbasis zu schaffen, die die digitale Wirtschaft dringend benötigt, um im Binnenmarkt weiter wachsen zu können. Natürliche Personen sollten die Kontrolle über ihre eigenen Daten besitzen. Natürliche Personen, Wirtschaft und Staat sollten in rechtlicher und praktischer Hinsicht über mehr Sicherheit verfügen.“. Der Schlüsselbegriff ist also die „digitale Wirtschaft“.

Digitalisierung weltweit und in Ungarn

Der Begriff Digitalisierung bezeichnet im ursprünglich Sinne das Umwandeln von beliebigen analogen Werten in ein digitales Signal, das elektronisch verarbeitet werden kann. Denkbar ist hierbei die Digitalisierung von Texten, Bildern, Audio- oder Filmdaten, aber auch der Produktionstechnik. Der rein technische Prozess der Digitalisierung hat sich dabei in der Vergangenheit immer mehr beschleunigt. Heute werden immer mehr Daten bereits an ihrer Quelle in Echtzeit digital erhoben und verarbeitet, einer „Umwandlung“ bedarf es gar nicht mehr. Die Verarbeitung Daten wird dadurch schneller, ist weniger fehleranfällig und – angesichts der ungeheuren Menge – deutlich platzsparender. Neben einer Steigerung der Effektivität und Effizienz erhöht sich die Transparenz der Leistungs- und Wertschöpfungsprozesse. Digitale Inhalte verändern zudem die Kostenstruktur. Grenzkosten digitaler Unternehmen tendieren gegen Null. Dabei stehen die Daten jederzeit und gleichzeitig überall auf der Welt zur Verfügung. Im Ergebnis ermöglicht die Digitalisierung eine Effizienzsteigerung und damit eine Verbesserung ihrer Wirtschaftlichkeit in den betrieblichen Abläufen eines Unternehmens.

In Ungarn müssen diese Potentiale der Digitalisierung noch gehoben werden. Nach einer 2018 von McKinsey veröffentlichten Studie habe Ungarn das durchschnittliche Wachstum seit der Finanzkrise 2008 in Höhe von jährlich 3,2 Prozent des Bruttosozialprodukts primär der Erhöhung der Beschäftigung zu verdanken. Nachdem diese Beschäftigung jetzt aber das Niveau der großen europäischen Volkswirtschaften (45 Prozent) erreiche, seien von dieser Seite keine weiteren Wachstumsimpulse zu erwarten. Zumal die demographische Entwicklung in Ungarn negativ ist.

In der nahen Zukunft muss daher der Fokus auf der Verbesserung der Produktivität liegen. Erst recht, da die Leistung pro geleisteter Arbeitsstunde deutlich unter dem Niveau westlicher Länder liegt. Wenn Ungarn – so McKinsey – das Potenzial der Digitalisierung voll nutze, könne bis 2025 das inländische BIP zusätzlich um weitere 9 Milliarden Euro wachsen.

Die zentrale Ursache für die sehr positive Entwicklung der ungarischen Beschäftigung als Hauptmotor des Wirtschaftswachstums der letzten Jahre ist in den Investitionsentscheidungen westeuropäischer und US-amerikanischer Investoren zu suchen, allen voran die deutsche Autoindustrie. Und es ist gerade diese deutsche Autoindustrie, die das strategische Konzept „Industrie 4.0“ maßgeblich mitformuliert und vorantreibt - und Ungarn dabei mehr oder weniger „mitzieht“. Die großen Themen „Datenmanagement und Datenschutz“ folgen begriffsnotwendig.

Az Ipar 4.0 – Nationale Technologie-Plattform in Ungarn

Industrie 4.0 – eine deutsche Wortschöpfung – bezeichnet die intelligente Vernetzung von Maschinen und Abläufen in der Industrie mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie. Technische Grundlage dafür sind intelligente und digital vernetzte Systeme. Mit ihrer Hilfe soll weitestgehend selbstorganisierte Produktion möglich werden: Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren in der Industrie 4.0 direkt miteinander. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen das hohe Nutzenpotenzial von Industrie 4.0 bei Produktionszeitverkürzung, Steigerung der Automatisierung, Produktion von kundenindividuellen Produkten und Einbindung ungenutzter Daten aus der Produktion.

Im Mai 2016 entstand mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums (Nemzetgazdasági Minisztérium), koordiniert durch das Computer and Automation Research Institute der Akademie der Wissenschaften (SZTAKI), die nationale Technologieplattform Industrie 4.0 (NTP). Auf dieser Plattform haben sich etwa 40 Mitgliedsorganisationen, Unternehmen, Forschungsinstitute, Universitäten und Berufsverbände zu einer Allianz zusammengeschlossen – einer ihrer Pioniere war die deutsche Wirtschaft unter Führung der DUIHK.

Als eine der vielen Initiativen der NTP ist 2017 eine umfassende Unternehmensbefragung zur Digitalisierung und zur digitalen Vision, ihren Prioritäten und ihrer Umsetzung durchgeführt worden. Die Befragung ergab unter anderem, je größer ein Unternehmen desto wichtiger wird das Konzept Industrie 4.0 für die Wettbewerbsfähigkeit. Strategische Schwerpunkte sind neben der Produktion selbst, Informatik und Informationssicherheit. Die Bedeutung von „Big Data“ steigt sprunghaft, während lediglich ein kleiner Teil (21 Prozent) mehr als 50 Prozent der von ihnen erhobenen oder gesammelten Daten wirklich nutzen. Es zeigte sich, dass die Bedeutung eines Paradigmenwechsels von der konventionellen zur digitalen Wirtschaft in den Köpfen der ungarischen Unternehmenslenker noch nicht so ganz angekommen ist. Beim Thema „Datenschutz“ ist sogar ein komplettes Umdenken notwendig.

… You are Big Brother

Schon jetzt verarbeiten Unternehmen eine ungeheure Zahl an personenbezogenen Daten. Im Rahmen eines sogenannten Datenaudits sind die Akteure regelmäßig selbst überrascht, wie hoch die Zahl der datenschutzsensiblen Vorgänge sind. Oft ist den Parteien nicht klar, dass auch nicht digitalisierte Sammlungen (wie Namenslisten auf Papier) von der EU-Grundverordnung erfasst werden. Daneben sind Dienstleister und Zulieferer zu betrachten und natürlich die Kunden. Bei B-to-B-Geschäften ist der Kreis der Beteiligten oft kleiner, anders sieht es bei B-to-C aus.

Die immer intensivere Verknüpfung personenbezogener Daten in industrielle Produktionsabläufe steigert das relevante Datenvolumen noch weiter. Der Zugriff von Internetdienstleistern wie WhatsApp oder Facebook auf Mobiltelefone, die ein Arbeitgeber an Mitarbeiter ausgibt, die Veröffentlichung von Fotoaufnahmen von betrieblichen Anlassen auf sozialen Plattformen und schließlich vernetzte Überwachungssysteme unterstreichen wiederum Datenschutzrisiken, welche bei der Überlappung von privaten und beruflichen Aktivitäten entstehen.

Eine Fülle von Daten werden übrigens ohne ersichtlichen Grund gesammelt, nie gelöscht oder unbefugt weitergegeben. Immer größere Verarbeitungskapazitäten, die Digitalisierung und schließlich Industrie 4.0 werden diesen Trend und die damit gewünschten Potentiale genauso exponentiell verstärken wie die damit zwangsläufig einhergehenden Risiken für das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ des Einzelnen. In Orwell‘s Vision 1984 ist „Big Brother is watching you“ ein Synonym für den überwachenden totalitären Staat. Die Digitalisierung lässt auch jedes Unternehmen – ob gewollt oder nicht – zum „Big Brother“ werden. Die Datenschutz-Grundverordnung will diese Entwicklung mit einem rechtlichen Rahmen „domestizieren“. Wie sich zeigen wird, dient dieser Rahmen nicht zuletzt auch den Interessen der Unternehmen selbst.

Der Autor ist deutscher und ungarischer Rechtsanwalt.

marc-tell.madl@mpk-partners.com

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