„Wo liberal ein Schimpfwort ist“, lautete der Titel eines Artikels in der politischen Wochenzeitung DIE ZEIT (1), in welchem Gero von Randow die Idee der „illiberalen Demokratie“ des ungarischen Ministerprӓsidenten Viktor Orbán aufgriff und sich darüber beschwerte, dass in Ungarn die Grundwerte der Freiheit schweren Anfechtungen ausgesetzt seien. Die illiberalen Strömungen seien auf Vormarsch, so erklӓrte er, der Rechtspopulismus, der nicht nur nationalistisch, sondern sogar völkisch sei, schleiche sich in die Köpfe der Menschen ein. Gero von Randow ist nicht der einzige, der sich über die Liberalismus-Kritik empört, die da laut und deutlich aus Mittelosteuropa gen Westen tönt, erst aus Ungarn, dann aus Polen und schließlich sogar aus Tschechien. Die politischen Vertreter der EU denken öffentlich über diese besorgniserregende Entwicklung nach. Man fordert Sanktionen und große Begriffe wie rechtspopulistisch, faschistisch, kosmopolitisch und liberal fliegen wie Tennisbӓlle über den Ost-Westgrenzen hin- und her, mal als Vorwurf, mal als Lob. Doch irgendwie scheint mit diesen Zuordnungen etwas nicht zu stimmen.

Widersprüchlichkeiten

Sicherlich ist es Teil des demokratischen Spiels, in der Politik immer alles kritisch zu hinterfragen, doch Antisemitismus kann man der aktuell sehr israelfreundlichen Regierung Ungarns sicherlich nicht vorwerfen. Und auch die Tatsache, dass die so linksliberale demokratische Opposition seit Wochen Seite an Seite mit der rechtsradikalen Partei Jobbik gegen das „Regime Orban“ demonstriert, ist nicht ganz damit in Einklang zu bringen, dass sie gleichzeitig lauthals vor Rechtspopulismus und Rassismus warnt und dabei auch noch von denselben westeuropӓischen Intellektuellen unterstützt wird, die der Fidesz-Regierung völkisches Denken vorwerfen. Wobei sich Widersprüchlichkeiten dieser Art keineswegs nur im Osten Europas abspielen. Eröffnete da nicht jüngst der angeblich konservative Prӓsident der Europӓischen Kommission, Jean-Claude Juncker, eine Karl Marx Ausstellung? In seiner Festrede erklӓrte er dabei sogar, dass Marx für die Vergehen der kommunistischen Regimes keineswegs verantwortlich sei.

Seit Jahren tummeln sich die großen Parteien Westeuropas in der sogenannten „politischen Mitte“, einem bedeutungslosen „No man’s land“ und haben darum weitgehend an Profil verloren. Hartz IV, das mit seinen Sanktionen immer mehr Menschen in die Armut treibt, war das Werk der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die grenzenlose Masseneinwanderung illegaler Wirtschaftsflüchtlinge ist das Ergebnis der angeblich christdemokratisch konservativen Politik von Angela Merkel. Und die Konsequenz eines solchen konzeptlosen politischen Durcheinanders: Immer weniger Menschen gehen zu den Wahlen, die alten Demokratien des Westens leiden unter der Politikverdrossenheit ihrer Bürger, auch in Deutschland. (2)

Begriffschaos

Die konfuse Verwendung der einst so eindeutigen politischen Konzepte wie liberal, sozialistisch, konservativ, faschistisch oder völkisch ist dabei erst der Anfang eines sich abzeichnenden politischen Chaos. Denn viele dieser Konzepte sind zu Schlagworten verkommen, zu Worten, die meist nur zum Selbstlob oder zum Erschlagen des jeweils Andersdenkenden verwendet werden. Den Marketingabteilungen der verschiedenen Parteien geht es schon lange nicht mehr um eine fundierte Kritik an irgendeiner konkreten Politik. Das ist zu anstrengend und wird auch von den Medien abgelehnt.

Dort beschränkt man sich auf „Fakten“, auf „das Wesentliche“, das heißt auf die für „den Leser“, den „Zuschauer“ oder „den Hörer“ leicht zu verstehende „heruntergebrochene“ Nachricht, bei der die wesentlichen Unterschiede zwischen gleichlautenden politischen Bezeichnungen nicht mehr erklӓrt werden können. Dabei verfolgen die sogenannten konservativen, liberalen oder sozialistischen Krӓfte je nach Herkunftsland vollkommen unterschiedliche Ziele. In Mittelosteuropa sehen die konservativen Krӓfte ihre Aufgabe darin, wieder an alte Traditionen anzuknüpfen. Der kulturelle Wiederaufbau der jungen Demokratien soll die jahrzehntelang verschollenen Traditionen wiederaufleben lassen und sie mit der aktuellen Modernisierung der Wirtschaft verbinden.

Durch die Aufweichung von politischen Bedeutungsinhalten wird jedoch die Kluft in der Kommunikation zwischen Ost-und Westeuropa immer größer. Die Kritik des Westens an Ungarn und an Mittelosteuropa bleibt im Negativmodus hӓngen. Der Westen steht vor dem Spiegel und spricht mit sich selbst, weil die politischen Konzepte, die er für sich benutzt, in Mittel- und Osteuropa eine vollkommen andere Bedeutung haben. Im Westen sind beispielsweise die Werte des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus auf allen Ebenen zur Leitvorstellung aufgestiegen, in Mittelosteuropa dagegen nicht. Deshalb kann man sagen: Ja, Herr von Randow, es mag sein, dass der Begriff „liberal“ in Ungarn nicht den gleichen Wert besitzt wie im Westen, aber das hängt damit zusammen, dass er in Mittelosteuropa eine andere Geschichte durchlaufen hat.

Andere liberale Wurzeln

In den 1830ger Jahren begannen die ersten ungarischen Liberalen, die meist wie Lajos Kossuth aus dem mittleren und höheren Adel stammten, mit der Umgestaltung des Landes. Sie strebten nach einem modernen und liberalen Nationalstaat, ganz nach französischem Modell. Sie versuchten Siebenbürgen an Ungarn zu binden und durch die Magyarisierung der kleineren Nationen den bis dahin existierenden feudalen Partikularismus zu überwinden. Doch ihr Vorhaben scheiterte an den Pariser Vorstadtverträgen von 1919 und an der Zerstückelung Ungarns.

Seither steht der Begriff Liberalismus in Ungarn für das politische Versagen der liberalen Kräfte vor dem Ersten Weltkrieg und ist mit einem bitteren Nachgeschmack verbunden. Die Liberalen, die sich dann nach der politischen Wende 1990 neu formierten, haben sich durch zu eilige Regierungskoalitionen mit den Altkommunisten ebenfalls schnell diskreditiert. Heute treten sie in verschiedenen kleineren Parteien wieder auf, wie der LMP oder der Párbeszéd, doch politisch sind sie unbedeutend. Dem Liberalismus in Ungarn fehlt es an ideologischer Kraft und es fehlt ihm ein handfestes politisches Konzept.

Jener Liberalismus, der dann nach 1990 unter dem Zeichen einer neuen Freiheit in Mittelosteuropa vom Westen her Einzug hielt, erscheint den hier lebenden Menschen aber auch nicht vielversprechender. Um das zu verstehen, sollte man sich mit den Theoretikern auseinandersetzen, die sich ausserhalb von Europa kritisch mit den westlichen liberalen Ideen auseinandersetzen.

Imperialer Liberalismus

Einer von ihnen ist der indische Historiker Rudrangshu Mukherjee, der in seinem 2018 veröffentlichten Buch „Liberalismus im Zwielicht“ (3) dem westlichen Liberalismus durchaus zugesteht, die Ideale von Freiheit und Gleichheit in die Welt getragen zu haben, dann aber ganz klar und deutlich sagt, dass diese Freiheit den nicht westlichen Völkern seit jeher vorenthalten bleibt. Und das ist ebenfalls ein Aspekt, der in Ungarn und in Mittelosteuropa eine Rolle spielt.

Westliche Investoren verlagern ihre Produktionsstӓtten hierher, doch der Mittelosteuropӓer steht immer noch mindestens vier Gehaltsklassen unter seinen westlichen Kollegen. Westliche Universitäten werden gegründet, westliche Schulsysteme ziehen ein und dies alles unter dem wiederkehrenden Motto „Wir bieten die bessere Bildung an! Eure ist nicht so gut und nicht so international wie die unsere.“ Darum gilt auch hier, was Rudrangshu Mukherjee grundsätzlich formuliert: „(…) eine Gruppe erlesener, aufgeklӓrter Menschen könnte das Leben für Millionen Menschen organisieren, die erst noch aufgeklӓrt werden müssten. Derartige Vorhaben verwickeln den Liberalismus mit der imperialen Herrschaft und anderen Versuchen eine bessere Gesellschaft zu errichten (…).“

Hinterfragt werden darf der politische Liberalismus derweil nicht, denn er hat den westlichen Ländern in den letzten zweihundert Jahren viel Gutes gebracht und es scheint, dass es zu ihm zurzeit auch keine wirkliche Alternative gibt: Individualismus, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Demokratie. An all dem kann nichts falsch sein, solange man nicht ins Detail geht. Wer aber von Gleichberechtigung spricht und damit nur Frauen, Kinder und Minderheiten meint und nicht auch das gleiche Recht einzelner Staaten auf Selbstbestimmung, der hat den Liberalismus verfehlt, den er selbst predigt.

So darf ein Land durchaus eine andere Migrations - und Familienpolitik verfolgen, als die westlichen Politiker es sich vorstellen. Das ist im Grunde Teil des liberalen Pakets von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Wagen es die mittelosteuropӓischen Staaten jedoch, auch nur ein Jota von den gepredigten Ideen der westlich geprägten EU-Politik abzuweichen, dann werden sie von den „liberalen“ Krӓften sofort an den Pranger gestellt und als Rechtspopulisten diffamiert.

Den Willen der eigenen Bevölkerung im Blick

Das ist dann in den Augen der Mittelosteuropäer wiederum die Rückkehr altbekannter Muster aus den dunklen Tagen des Kommunismus, an die sich viele heute noch sehr gut erinnern. Wer unter den Kommunisten nicht parteitreu war, galt als Faschist. Noch heute klingt er vielen in den Ohren, der Satz vom „imperialistisch faschistischen Westen“, den nicht nur Erich Honecker auf allen Parteitagen in die Welt hinausposaunte.

Insofern wird der westliche Vorwurf ein „Rechtspopulist“ zu sein, in Mittelosteuropa und erst recht in Ungarn nur mit einem müden Lächeln quittiert, denn es ist in diesen Regionen, in denen 41 Jahre lang der Kommunismus Terror und Angst verbreitete, keine Sünde „rechts“ zu stehen und die Politik ganz pragmatisch an die unmittelbaren Bedürfnisse der Bürger im Lande anzupassen. Dies, so sehen es die Vertreter Mittelosteuropas, entspricht dem demokratischen Grundprinzip des Gesellschaftsvertrags des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).

Für ihn war der allgemeine Willen einer Staatsgemeinschaft die einzig legitime Form von Macht, da dieser immer auf das Gemeinwohl einer Gesellschaft abzielt. Lange genug hat der Totalitarismus über die Köpfe der Menschen hinweg einen sterilen Internationalismus gepredigt. Jetzt ist es endlich an der Zeit, dass man sich nach innen ausrichtet und sich um die Interessen der eigenen Bevölkerung kümmert. Das ist Teil des Systemwechsels.

Vor diesem Hintergrund ist es somit nicht weiter verwunderlich, wenn der ungarische Ministerprӓsident Viktor Orbán die „liberalen Demokratien“ in Frage stellt und den sicherlich nicht sehr geglückten Begriff der „illiberalen Demokratie“ prӓgt. Hier liegt zugleich auch der Grund dafür, dass die Anschwӓrzungen aus dem Westen der jetzigen ungarischen Regierung nicht wirklich etwas anhaben können. Sie treffen nicht das Wesentliche. Natürlich ist Kritik immer legitim, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich nicht auf bedeutungslose Worthülsen und Allgemeinplätze stützt, sondern den Anderen in seinem Anderssein erst einmal zu verstehen versucht.


Die Autorin publiziert Artikel und produziert Radiosendungen zu politischen Themen und religionshistorischen Debatten in Europa und Israel. Sie wuchs in Heidelberg auf, studierte in Paris Philosophie und Religionsgeschichte und lebt seit 1990 abwechselnd in Bukarest, Paris und Budapest.


1 Die Zeit, cf : https://www.zeit.de/2016/17/ungarn-viktor-orban-ko...


2 https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/...


3 Twilight falls on liberalism : https://scroll.in/article/878025/can-liberalism-ov...

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