Bereits vor zwei Wochen nahmen wir uns an dieser Stelle des Themas an, wonach ab 2019 im Zuge einer einschneidenden Änderung des Arbeitsgesetzbuchs (AGB) bis zu 400 Überstunden im Jahr und eine Abrechnung in einem dreijährigen Zeitrahmen möglich werden (Budapester Zeitung vom 6. Dezember: „Fidesz: Ihr dürft gerne mehr arbeiten“). Seither wurde unter dem Druck der Gewerkschaften eine breite gesellschaftliche Debatte losgetreten, in der sich Ministerpräsident Viktor Orbán erst an diesem Dienstag – nur Stunden vor der Schlussabstimmung des Gesetzentwurfs im Parlament – zu Wort meldete.

Regierung gibt vor, Arbeitnehmer zu schützen

„Das Gesetz über die freiwillige Änderung der Arbeitszeiteinteilung dient den Interessen der Arbeitnehmer“, erklärte Orbán dem privaten Nachrichtenfernsehen ATV gegenüber im Parlamentsgebäude. „Ich achte auf die Gewerkschaften und respektiere sie, aber sie haben in dieser Sache Unrecht.“ Wie andere Fidesz-Politiker sprach auch er von einem freiwilligen Charakter der Überstundenleistungen und einer Lösung für jene, die mehr arbeiten und verdienen wollten, ohne deshalb auf bürokratische Barrieren zu stoßen. „Das mag nicht im Interesse der Gewerkschaften liegen, dient aber auf jeden Fall den Interessen der Arbeitnehmer, auf deren Seite die Regierung steht“, hielt der Premier zu der umstrittenen Vorlage fest, die nach seiner Ansicht die Arbeitnehmer schütze.

Dabei entkräftete er mit dem Hinweis auf die aktuelle Arbeitsmarktlage jene grundlegende Kritik, wonach die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zu Überstunden zwingen könnten, weil ansonsten der Rauswurf drohe. Wo ein Mangel an Arbeitskräften herrsche, würden die Arbeitnehmer am besten durch eine Wirtschaftspolitik geschützt, die für eine intensivere Nachfrage nach Arbeitskräften sorgt. „Ich arbeite daran, dass die Arbeitnehmer zwischen möglichst vielen Alternativen wählen können, denn so können sie am besten für ihre Interessen eintreten“, erklärte Orbán, für den das neue AGB insbesondere die Mitarbeiter der Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) begünstige, die heute durch „dumme bürokratische Hindernisse an Mehrarbeit gehindert“ werden.

Statistik mit Haken

Glaubt man den offiziellen Zahlen von Eurostat, waren in der EU im vergangenen Jahr in der Tat nicht die Ungarn das „fleißigste“ Volk: Wurden in der EU (und in Deutschland) im Wochenschnitt mehr als 41 Arbeitsstunden erbracht, waren es hierzulande – ähnlich wie in Frankreich oder in Rumänien – statistisch nur 40,5 Stunden. „Europameister“ sind übrigens Griechen, Österreicher und Briten mit bis zu 44 Arbeitsstunden pro Woche. Hinsichtlich der jährlich erbrachten Überstunden ergibt sich ein EU-Durchschnitt von 165 Stunden bei heftiger Streuung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Briten und Franzosen arbeiten demnach im Durchschnitt mehr als 250 Stunden zusätzlich im Jahr, die Österreicher bringen es auf gut 200 Stunden und die Deutschen auf 180 Stunden. Am anderen Ende der Skala finden sich das Baltikum und Rumänien, wo es praktisch keine Überstunden zu geben scheint, und gleich davor Ungarn mit jährlich im Schnitt nur 30 Stunden.

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Parlamentsdebatte vor leeren Sitzen – der Fidesz will denMenschen 400 Überstunden zumuten, ohne selbst auch nur die normale Arbeitszeit im Parlament wahrzunehmen. (Foto: MTI / Lajos Soós)


Eurostat präsentiert aber auch eine andere Statistik, in der die jährliche Arbeitszeit auf Stunden aufgeschlüsselt erscheint. Hier liegen Polen, Ungarn und Rumänen mit knapp 1.850 Arbeitsstunden vorne, Österreicher mit weniger als 1.750 Stunden im Mittelfeld und die Deutschen mit nochmals einhundert abgearbeiteten Stunden weniger beinahe an der Spitze. Die führende Position in der EU nehmen mit großem Abstand die Franzosen ein, die nahezu dreihundert Stunden weniger Arbeit im Jahr verrichten müssen, als die Ungarn. Der Grund: In Frankreich gilt nicht wie hierzulande eine 40-Stunden-Woche, dort wird offiziell nur noch 35 Stunden gearbeitet. Während die Ungarn mit 20 Urlaubstagen ins Arbeitsleben starten, erhalten die Franzosen sogleich 30 Urlaubstage und liegen auch bei den Feiertagen noch knapp vorn. Mit all ihren statistisch erfassten Überstunden schuften die Franzosen somit auch heute nicht so intensiv, wie es die Ungarn bereits ohne jede Überstunde tun.

Ein weiterer Haken an der ungarischen Statistik ist die Schwarzarbeit, die nicht für die Multis zutrifft, wohl aber für viele kleinere Firmen ab der zweiten und dritten Reihe. Neben dem verarbeitenden Gewerbe trifft dies den Einzelhandel besonders intensiv, wo der allgemeine Arbeitskräftemangel die Arbeitgeber im Einvernehmen mit den Arbeitnehmern schon heute zu allen möglichen und unmöglichen Tricks greifen lässt, weil selbst der mit Zustimmung der Gewerkschaft ausgehandelte Arbeitszeitrahmen von 300 Überstunden häufig bereits im Herbst erschöpft ist. Was die Firmen heute als Bonus oder anderweitige Zuschläge verrechnen, wird mit dem flexibler ausgelegten AGB ab 2019 sehr wahrscheinlich als das in der Statistik aufscheinen, was es schon bisher war, nämlich als geleistete Überstunden.

„In dieser Form ganz sicher nicht“

Während die Debatte um das „Sklavengesetz“ von den Gewerkschaften angefacht wurde, die in ihrem Ringen mit der Orbán-Regierung auf die Unterstützung der kompletten Opposition im Parlament rechnen dürfen, ging eine Stellungnahme der Arbeitgeberverbände ziemlich unter. Diese hatten noch Ende November im Rahmen des Ständigen Konsultationsforums der Wettbewerbssphäre und der Regierung vorgeschlagen, die Anhebung von Überstunden und Arbeitszeitrahmen im neuen AGB nur als Möglichkeit, nicht als allgemeine Regel zu definieren. In den einzelnen Unternehmen müssten dann die Details im jeweiligen Kollektivvertrag festgezurrt werden. Die Gesetzesänderung helfe nur einer schmalen Unternehmerschicht beim Umgang mit dem Arbeitskräftemangel. Die allgemeingültige Einführung eines Überstundenrahmens von 400 Stunden im Jahr können die Verbände der Arbeitgeberseite nicht unterstützen, weil dies eine enorme Arbeitsbelastung heraufbeschwöre und gesundheitsschädigend sei.

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Mit halbseitigen Straßensperren ... (Fotos: Facebook)


„In dieser Form haben die deutschen Unternehmen ganz sicher nicht um die Modifizierung der Überstundenregeln gebeten“, bezog denn auch die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) auf Anfrage der sozialistischen Tageszeitung „Népszava“ Stellung. Kommunikationsleiter Dirk Wölfer verwies auf den Umstand, dass der ungarische Arbeitsmarkt hinsichtlich der Arbeitszeiten schon heute weitaus flexibler als der deutsche sei. Der Wirtschaftsexperte sieht die Gefahr, dass jenen Firmen, die das Potenzial des neuen AGB auszuschöpfen versuchten, die Arbeitnehmer abhandenkommen könnten. „Es liegt nicht im Interesse der Unternehmen, die Arbeitnehmer wie Sklaven zu halten, denn diese können leicht den Arbeitgeber wechseln“, erläuterte Wölfer, der keine Motivation auf Unternehmensseite sieht, die Überstunden zu forcieren, weil das die Arbeitskosten unnötig verteuern würde.

Man könnte sich individuell einigen

Dabei haben die Gewerkschaften längst aufgezeigt, dass der Fidesz mit seinem Vorstoß unter anderem die Voraussetzungen schafft, damit die Arbeitgeber letztlich weniger Überstunden als solche vergüten müssen. Diese Ansicht wird durch Stellungnahmen von Arbeitsrechtsexperten untermauert, wonach im Gesetz Tür und Tor für eine Manipulierung der Arbeitszeitverrechnung geöffnet werden. Was aber wäre der Sinn dessen, wenn die Arbeitnehmer – sobald sie den Betrug bemerken – kündigen, weil es ja angeblich Alternativen in Hülle und Fülle gibt? Dafür gibt es nicht nur eine Erklärung. So finden sich unter den angelernten Kräften in der Industrie nicht wenige funktionelle Analphabeten, die mit ihrer monatlichen Lohnabrechnung kaum etwas anfangen können. Diese Arbeitnehmer sind ihrem Arbeitgeber tatsächlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

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... geht der Protest weiter.
Hinzu kommt der schwache Organisationsgrad der Arbeiter, die abgesehen von der Praxis bei den regeltreuen Multis nur selten ein Kollektivvertrag schützt. Der Fidesz meint reichlich blauäugig, die Arbeitnehmer könnten sich im Streitfall individuell mit ihrem Arbeitgeber einigen. Eine Gewerkschaft brauche es dazu nicht – ergo wurden deren Positionen im neuen AGB weiter geschwächt. Dabei konnten die Gewerkschafter nicht einmal gegen die Gesetzesänderung entschlossen vorgehen, weil Streik- und Versammlungsrecht längst dermaßen restriktiv gestaltet sind, dass jede Protestaktion überhaupt nur einvernehmlich mit den Behörden organisiert werden kann. Die seit dieser Woche als Druckmittel eingesetzten halbseitigen Straßensperren müssen an jedem Ort gesondert angemeldet werden; die Sympathien der Anwohner mögen die Arbeitnehmer zwar haben, ein Land lässt sich auf diese Weise aber sicher nicht lahmlegen.

Wie einst die türkischen Gastarbeiter

Ungeachtet der prekären Arbeitsmarktlage haben sich die Unternehmer die hohe Fluktuation in den einfacheren Arbeitsbereichen bislang zunutze gemacht, um ausgefallene Arbeitskräfte immer wieder schnell zu ersetzen. Womöglich hat der Fidesz dies erkannt und schiebt wenigstens von Seiten der Vermittler von Leiharbeitskräften einen Riegel vor, denn dort wird künftig eine Mindestgebühr zur Pflicht, um das Lohndumping einzudämmen. Derweil werden immer mehr Arbeitserlaubnisse an Ausländer erteilt. Bis Ende September waren es 45.000, und damit 150 Prozent mehr, als 2017 zur gleichen Zeit!

Neben Rumänen werden mittlerweile im großen Stil Ukrainer ins Land geholt, die insbesondere im Norden und Nordosten Ungarns an die Stelle von Ungarn und Slowaken rücken. Dabei handelt es sich längst nicht mehr um Angehörige der ungarischen Minderheiten, die für bessere Arbeits- und Lohnverhältnisse das Mutterland aufsuchen. Gerade im Falle der aus dem Konfliktherd Ostukraine stammenden Arbeitnehmer erscheint die „unbürokratische“ Überstundenregelung der Orbán-Regierung plötzlich in einem ganz anderen Licht. Denn diese Leute bar jeglicher Sprachkenntnisse haben seit Jahren nur Bürgerkrieg und gewiss keinerlei EU-Mindeststandards erlebt; für sie wäre Ungarn vermutlich selbst im Falle von Siebentage-Arbeitswochen noch höchst attraktiv.

Den Status eines Deutschlands für die türkischen Gastarbeiter in den 1960er Jahren wird Ungarn vermutlich nie erreichen, zumal Polen weitaus früher beim Nachbarn die Werbetrommeln rührte und laut Schätzungen bis zu eine Million Ukrainer ins Land geholt haben soll. Wenn man jedoch die Rekordzahl von 87.700 unbesetzten Stellen heranzieht, die das Statistische Amt im dritten Quartal auswies, und der realistische Arbeitskräftebedarf im Verständnis von Arbeitgebern und Arbeitsmarktexperten auf 200.-300.000 Personen angesetzt wird, bieten sich die Ukrainer wie einst die Türken als nachrückende (billige und willige) Arbeitsmarktreserve geradezu an. Auf einem anderen Blatt Papier steht, ob die Einheimischen ihre Chance zur Qualifikation nutzen, um jene anspruchsvolleren 150.-200.000 Stellen zu besetzen, die in den Betrieben wegen des Mangels an Fachkräften gegenwärtig vakant sind.

Nein danke

An der großen Demonstration der Gewerkschaften vom Wochenende beteiligte sich aus gutem Grund auch die Unabhängige Gewerkschaft der Audi Hungaria (AHFSZ). Seit 2012 lässt der Gesetzgeber einen Zeitrahmen von einem Jahr für die Verrechnung von Überstunden zu, als eines der wenigen Unternehmen im Lande macht Audi Hungaria seither von dieser Möglichkeit Gebrauch. Mit Überstundenzuschlägen können die Arbeitnehmer dort kaum noch kalkulieren, weil das Arbeitszeitkonto in den Betriebsferien im Sommer und zum Jahreswechsel oder bei Auftragsflaute systematisch abgebaut wird. Jede Überstunde konnte mit einem angemeldeten temporären Verzicht auf Arbeitskräfte schon bislang über 52 Wochen ausgeglichen werden, zu einem dreijährigen Verrechnungszeitraum sagen die Audianer deshalb rundheraus Nein.

Die dortige Gewerkschaft weiß aus Erfahrung, dass die Arbeitnehmer die Übersicht verlieren und im Falle einer Kündigung unter Umständen noch zur Kasse gebeten werden. Dabei sprechen wir von einem Unternehmen, das weit über dem branchenüblichen Tarif zahlt und ein enormes Paket an Sozialleistungen bietet, wovon die Arbeitnehmer bei einheimischen KMU nur träumen können. Laut AHFSZ ist jedoch nicht einmal bei Audi in Győr selbstverständlich, dass die Arbeitnehmer monatlich wenigstens über ein freies Wochenende verfügen können. Deshalb wirkt auch das Argument der Regierung fadenscheinig, die Arbeitnehmer wünschten mehr Überstunden, um mehr Geld zu verdienen. Laut Gewerkschaftsangaben wird nämlich dort am meisten zusätzlich gearbeitet, wo die Arbeit ohnehin besser bezahlt ist.

Auf die Verabschiedung des „Sklavengesetzes“ wollen die Gewerkschaften neben Straßensperrungen eventuell auch mit Blockaden von Industrieparks und mit Warnstreiks antworten. Laut Umfragen haben sie die Sympathie von vier Fünfteln der Bevölkerung. Die Opposition wendet sich an das Verfassungsgericht und drängt auf eine Volksbefragung. Wenn die Betroffenen aber nicht aus ihrer Lethargie erwachen, finden sie sich demnächst in einer Arbeitswelt nach dem Geschmack des Fidesz wieder. Wenn immer weniger Ungarn immer mehr arbeiten, mag das Bruttoinlandsprodukt weiter steigen, glücklicher wird die Gesellschaft deshalb aber wohl nicht.

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