Die 29. Sommerakademie der Regierungspartei Fidesz war ein Fest der Konzepte. Brüssel wird sich darauf einstellen müssen, die neuen konservativen Ideen kommen aus Mittelosteuropa, in erster Linie aus den V4-Ländern, den so genannten Visegrád-Staaten, zu denen Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn zählen. Der Fidesz und seine intellektuellen Vertreter, zu denen die Historikerin Mária Schmidt ebenso zählt, wie der stellvertretende Premierminister Zsolt Semjén oder der reformierte Pastor und EP-Abgeordnete László Tőkés, zeigten in Tusnádfürdő wie weit verzweigt ihr politisches und intellektuelles Netzwerk bereits ist.

Es reicht über Mittel- und Osteuropa, Westeuropa bis in die USA hinein. Es war darum sehr spannend, auf die rumänischen, polnischen, slowakischen, slowenischen und bosnischen Repräsentanten zu treffen, mit denen die ungarischen Regierungsvertreter neue Projekte für ein Europa der Nationen ausarbeiten. Zu den Stars dieser Vertreter zählte sicherlich der polnische Historiker Marek Jan Chodakiewicz, der seit 2003 Geschichtsprofessor am Institute for World Politics in Washington D.C. ist.

Weitgefächertes Programm

Die Projekte waren weit gefächert. Es ging um Fragen der Sicherheit, um die kulturelle Zusammenarbeit aller Minderheiten innerhalb der EU. Es ging um die ungarisch-rumänische Kooperation zur Entwicklung von Tourismus und Ökologie im Széklerland, um eine gemeinsam getragene Energiepolitik, um Bildungspolitik und um die Verbesserung des Verkehrs- und Gesundheitswesens in den Ländern Mittelosteuropas.

Eine ganze Region besinnt sich auf sich selbst und sucht nicht mehr die Anerkennung des Westens. Das zeigten die Programme wie jenes zur „Entwicklung der grenzüberschreitenden nationalen Einheit 2014-2020“ oder auch das „Grenzüberschreitende Donau-Projekt“ ganz deutlich. Von den 2,7 Millionen Euro für letzteres werden dabei ganze 85 Prozent von der EU mitfinanziert, aus deren Reihen doch angeblich nur Kritisches zu hören ist.

Das Projekt zur „Entwicklung der grenzüberschreitenden nationalen Einheit 2014-2020“ wurde von György Molnár, dem Leiter der Netzwerkentwicklung des Budapester Instituts für nationale Strategien (Nemzetstrategiai Kutatóintezet) vorgestellt. Es besteht im Wesentlichen darin, Kooperationen in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen zwischen allen Ungarn jenseits der Landesgrenzen zu fördern, nicht nur in Hinsicht auf das politische Zentrum in der Hauptstadt, sondern auch zwischen den verschiedenen Regionen selbst. Erkrankt zum Beispiel ein Ungar in einer rumänischen Stadt, so soll er bald nicht nur aus Budapest Hilfe bekommen können, sondern vielleicht auch von einer ungarischen Stiftung aus dem Norden Serbiens.

Vernetzung der nationalen Minderheiten

Ein solches Netzwerk soll jedoch nicht nur für die ungarische Minderheit entstehen, sondern auch für andere Volksgruppen, etwa für die Slowaken jenseits der Slowakei, für die Rumänen jenseits der rumänischen Grenzen oder für die Ukrainer jenseits der Landesgrenzen der Ukraine. Das Problem dabei: Nicht alle Volksgruppen fühlen sich auf die gleiche Weise miteinander verbunden wie die Ungarn.

Die rumänische Minderheit in Ungarn identifiziert sich nicht unbedingt mit Bukarest und die Kroaten haben bislang noch kein Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch sie seit der Teilung Jugoslawiens so etwas wie kroatische Minderheiten in den anliegenden neuen Staaten haben. Trotzdem will die ungarische Regierung hier gemeinsam mit ihren Nachbarn das kulturelle Bewusstsein und die Zusammenarbeit der Nationalitäten mit- und untereinander im Karpatenbecken fördern.

Dazu gehört eine gemeinsam getragene Finanzierung für Renovierungen alter Kirchen, Schlösser und Kulturzentren, wie zum Beispiel der kleinen Kirche in Vistea/Magyarvista, die im 13. Jahrhundert erbaut wurde, an deren Wänden noch Fresken aus dieser Zeit zu finden sind und die noch eine uralte Glocke besitzt, welche der ungarische König Matthias Corvinus höchstpersönlich gestiftet hat. Ein anderes von Ungarn geplantes Projekt ist die Mitfinanzierung von Autobahnen zwischen Rumänien und Ungarn und auch die Erweiterung des Schienennetzes. Die Verkehrsanbindung dieser Region soll einen ersten Grundstein für die Entwicklung neuer, interessanter Wirtschaftsstandorte im gesamten Karpatenbecken legen.

All das hat auch die Aufgabe, der massiven Auswanderung vieler junger Menschen entgegenzuwirken. Vereinzelt ziehen sie ja bereits wieder zurück, die vielen Studierenden, die es mit EU-Stipendien ins westliche Ausland gezogen hat. Heute gründen sie eigene kleine Firmen, gerade im Bereich Kommunikation und Computerwesen und arbeiten länderübergreifend für Firmen in aller Welt. Die Gefahr jedoch, dass weiterhin zu viele Fachkräfte auswandern, bleibt bestehen, von daher ist dieses Projekt für die Zukunft zumindest vielversprechend.

„Pseudo-multikulturellen Parallelgesellschaften des Westens“ als Warnung

Wenn es um die „Multi-Kulti-Gesellschaft” des Westens geht, bleiben die Vertreter des Fidesz eisern. Mittel- und Osteuropa, so betonen sie, ist schon seit Jahrtausenden multikulturell und möchte das nicht gegen die pseudo-multikulturellen Parallelgesellschaften des Westens eintauschen. Die westeuropäische Erfahrung mit den Parallelgesellschaften ist für Mittelosteuropa eine Warnung, es dem Westen nicht gleich zu tun, erklärte auch Zsolt Szilágyi, der Vorsitzende der ungarischen Siebenbürgischen Volkspartei.

Csaba Sógor, der Brüsseler Abgeordnete der Fraktion der europäischen Volkspartei, EPP, meinte, die EU habe bislang drei tiefe Krisen durchlaufen. Die erste Krise war der Jugoslawien-Krieg, der von 1991 bis 1999 dauerte. Dann kam 2008 die Wirtschaftskrise und seit 2015 stecke die EU in einer tiefen Migrations- und Identitätskrise. „Nicht die Migranten, die zu Tausenden nach Europa strömen, sind für diese Krise verantwortlich”, so Csaba Sógor, „sondern wir selbst, weil wir uns gegen diese Invasion nicht wehren. Das ist unser größter Fehler.”

Der zu weit getriebene gesellschaftliche Liberalismus hat jegliches Werte-Bewusstsein in Europa ausgelöscht. Alle Kulturen gelten als gleichwertig, jede Art sich zu kleiden, ist korrekt, jede Information ist bereits Wissen, jeder Mensch ist ein potentieller neuer Bürger, dem geholfen werden muss. Diese Geisteshaltung war in den 70er Jahren sicherlich angemessen, sie wird aber zur Falle, wenn eine Gesellschaft überrannt und von einem neuen Fundamentalismus bedroht wird.

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Obwohl inhaltliche Angebote das Programm dominierten, kam bei der Sommeruniversität auch die Unterhaltung nicht zu kurz. (Foto: MTI / Nándor Veres)

Europa muss zu den eigenen Werten zurückfinden und sie verteidigen. Zu diesen zählt in erster Linie das jüdisch-christliche Erbe, aber auch die Antike, das heißt, das griechische Erbe des rationalen Denkens und das römische Erbe der Rechtsstaatlichkeit. Diese Selbstbesinnung steht für die ungarische Regierung im Zeichen einer neuen christlich-demokratischen Bewegung, die Religionsfreiheit garantiere, aber eine grundlegende Akzeptanz aller christlichen Werte verlange. Ohne diese neue konservative Selbstbesinnung wird es bald kein Europa mehr geben, denn ein Europa der offenen Türen und der Wertelosigkeit wird in Zukunft mit chaotischen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu kämpfen haben.

Mária Schmidt: „Die europäische Krise ist hausgemacht“

Die europäische Krise sei hausgemacht, erklärte auch die Historikerin Mária Schmidt. Die EU selbst war ein Konstrukt des Kalten Krieges und bei der Erweiterung hat niemand darüber nachgedacht, dass ein Europa mit 28 Mitgliedsstaaten auf jeden Fall anders funktionieren muss, als ein Europa unter amerikanischer Vorherrschaft. Bestimmte Konzepte hätten schon längst überarbeitet werden müssen, das wurde versäumt und soll nun nachgeholt werden. Die Staaten Mittel- und Osteuropas werden diesbezüglich eine wichtige Rolle spielen. Der Fidesz und seine Verbündeten hoffen, dass die EU-Wahlen 2019 dafür die politische Zäsur dafür einleiten werden.

Ein ganz neuer Ton wurde jedoch angeschlagen, als es um die NATO ging. Viktor Orban, der mit russischen Investitionen das Atomkraftwerk Paks 2 realisieren will, verwies in diesem Jahr erstmals auf eine „russische Gefahr”, die eine engere Zusammenarbeit mit der NATO erforderlich mache. Eigens dazu eingeladen waren der Historiker Marek Chodakiewicz vom Washingtoner Institute of World Politics und der in Großbritannien geborene Politologe Marek Matraszek vom Warschauer Institut CEC Government Relations.

Beide verteidigten unter dem Titel „Trump und wir” die neue NATO-Politik des amerikanischen Präsidenten. Europa, so meinten sie, muss sich entscheiden, welchem Lager es angehören will. Bislang galt die „Pax Americana”, doch die EU und vor allem Deutschland, das mit Russland zusammen eigene energiepolitische Wege geht, seien auf Abwegen. In der aktuellen geopolitischen Konstellation, in der Russland und China wichtige Positionen einnehmen, sei es wichtig, sich einer neuen russischen Expansionspolitik entgegenzustellen. Vor allem Polen und die Baltischen Staaten könnten bald wie Georgien und die Ukraine von Russland überrollt werden. Darum müssen die NATO-Mitgliedsstaaten wieder aufrüsten und neue Strategien entwickeln, wie sie mit ihren eigenen Truppen und mit den mobilen NATO-Truppen zusammen eine effektive Verteidigung Mittel- und Osteuropas garantieren können.

Aber auch vor China solle man sich in Acht nehmen, so Marek Chodakiewicz, denn diese neue Großmacht instrumentalisiert seine Verbündeten vor allem für seine eigenen Interessen. Rund 300.000 chinesische Studenten leben zurzeit in den USA, Experten gehen davon aus, dass mindestens 50.000 davon für den chinesischen Nachrichtendienst arbeiten.

Fazit

Alles in allem war es in diesem Jahr in Tusnádfürdő klar, dass es der amtierenden Fidesz-Regierung um eine umfassende Erneuerung Europas geht und um eine feste Verankerung in der Sicherheits-politik der NATO. Es liegt jedoch auf der Hand, dass dabei vielerlei Widersprüche überwunden werden müssen. Seien es die seit 100 Jahren sehr angespannten Beziehungen zu den Nachbarstaaten Rumänien oder Slowakei, die mit Argusaugen darüber wachen, dass die Ungarn auf ihren Territorien nicht zu autonom werden oder seien es die Beziehungen zu Deutschland, das nicht ohne Grund einer Konfrontation mit Russland ausweichen will. An Konzepten mangelte es in Tusnádfürdő nicht, nun bleibt jedoch abzuwarten, was davon umgesetzt werden kann.

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(Foto: MTI / Nándor Veres)

Orbán auf der Tusványos-Sommeruniversität

„Ende der ungarischen Einsamkeit“

„Das Ungarntum im Karpatenbecken hat eine psychologische Schwelle überschritten, denn mittlerweile eine Million Auslandsungarn haben die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten“, betonte Ministerpräsident Viktor Orbán am Samstag auf der Sommeruniversität im siebenbürgischen Tusnádfürdő. Seine Regierung habe im April die Chance erhalten, „ein neues Zeitalter“ einzuläuten.

Im Prozess der Vereinigung der ungarischen Nation wurde im April die Generalprobe abgehalten. Nachdem die Wahlen 2010 ein ungarisches Wirtschaftsmodell und eine verfassungsgebende Ordnung auf nationalen und christlichen Fundamenten einleiteten, wurde 2014 die Vollmacht zur Stabilisierung dieses Systems erteilt. Bis 2030 soll Ungarn zu den fünf EU-Ländern mit der höchsten Lebensqualität gehören, das den Bevölkerungsschwund stoppt, sämtliche Schnellstraßen bis an die Grenzen führt, eine unabhängige Energieversorgung verwirklicht und eine neue Armee aufgebaut haben wird, zählte Orbán die großen Zielstellungen auf.

Einer der wichtigsten Pläne für Ungarn sei jedoch, das Karpatenbecken neu aufzubauen. „Die einhundert Jahre der ungarischen Einsamkeit sind beendet“, fügte er hinzu, Ungarn sei erneut stark, entschlossen und mutig. In der jüngsten Zeit habe das Land den Nachbarn bewiesen, wer mit den Ungarn zusammenarbeite, der fahre gut dabei. Budapest wolle Schnellbahnverbindungen, Autobahnen, einen Energieverbund sowie eine abgestimmte Verteidigungspolitik.

Orbán warf der europäischen Elite Versagen vor, wofür die EU-Kommission das Symbol sei. Die europäische Führung habe den Kontinent nicht vor der Einwanderung zu bewahren vermocht. Die Sicherheit Europas hänge heute von der Stabilität der Türkei, Israels und Ägyptens ab. Die gegenwärtige Russland-Politik Europas bezeichnete er als primitiv. Heute gebe es in Europa nur noch Liberalismus, aber keine Demokratie – in Westeuropa seien Beschränkungen der Meinungsfreiheit und Zensur an der Tagesordnung. Der Einsatz der Wahlen zum Europaparlament laute, sich von der liberalen Demokratie und der ´68er Elite zu verabschieden, welche durch eine antikommunistische, christlich-nationale Elite von 1990 abgelöst würde. Orbán schloss seinen Vortrag mit den Worten: „Vor 30 Jahren dachten wir, Europa ist unsere Zukunft, heute denken wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“

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