Die Lebenserwartung der Ungarn sinkt wieder. Es gibt wohl keine andere statistische Zahl, die den Reformbedarf besser veranschaulicht. Schließlich muss man kein Experte sein, um den Zusammenhang zwischen hohen Bildungsstandards und modernem Gesundheitswesen auf der einen sowie einem längeren Leben auf der anderen Seite aufzuspüren. Nun ist die Lebenserwartung hierzulande im vergangenen Jahr wieder auf 75,8 Jahre zurückgefallen. Für 2016 verzeichnete das Zentralamt für Statistik (KSH) das bisherige ungarische Rekordjahr, in welchem es neu geborene Jungen und Mädchen im Durchschnitt und rein statistisch betrachtet auf rund 76 Jahre brachten. (Wobei die Mädchen mit ihren 79 Jahren Lebenserwartung den Jungen ungefähr sechseinhalb Jahre voraus sind.)

Natürlich sorgt bereits eine heftige winterliche Grippewelle oder eine hochsommerliche Hitzewelle für statistische Ausschläge, weshalb eine längere Zeitleiste aussagekräftiger ist. Diese verrät, dass der in Ungarn im Großen und Ganzen seit der Jahrtausendwende anhaltende Aufwärtstrend in Sachen steigender Lebenserwartung seit 2013 mehr oder weniger zum Stillstand gekommen ist. Zwar schoss die Sterberate 2015 und 2017 in der gesamten EU in die Höhe, nur dass diese in Ungarn seit Jahr und Tag um drei Todesfälle je eintausend Einwohnern höher liegt. An ein Aufholen ist derweil nicht zu denken.

Ressourcen für Prioritäten

Den allgegenwärtigen Reformbedarf fokussiert die Wirtschaftspolitik unter der vierten Orbán-Regierung eindeutig auf die Wettbewerbsfähigkeitswende. Bildung und Gesundheit erhalten dabei herausragende Beachtung. Das Finanzministerium unter Mihály Varga sammelt derzeit im Rahmen des Landesrates für Wettbewerbsfähigkeit jene Vielzahl von Vorschlägen, die vom neu gegründeten Innovations- und Technologieressort ebenso eintrafen, wie von Seiten der Ungarischen Nationalbank (MNB) oder der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK). Bis Ende des Sommers obliegt es nun dem Varga-Team, die vielen Anregungen zu einem stimmigen Paket zu formen, welches die Regierung gleich im Frühherbst behandeln wird.

„Die Ressourcen für den Entwicklungsbedarf der im Zuge der Verhandlungen definierten Prioritäten sind im Budget sicherzustellen, wofür der Haushaltsplan – wenn erforderlich – zu modifizieren ist“, sagte der Finanzminister der Wirtschaftszeitung „Világgazdaság“. Dabei unterstrich er einmal mehr, dass der Staatshaushalt der Verwirklichung der wichtigsten wirtschaftspolitischen Zielstellungen dient, die in diesem Zyklus um Wettbewerbsfähigkeit, Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen gruppiert sind.

Die ruhigen Zeiten sind vorbei

Während die Politiker das Parlament zur Sommerpause geräumt haben, hat der Apparat des Finanzministeriums somit alle Hände voll zu tun. Bevor wir aber schlauer werden, in welche Richtung die Reform-Reise im Herbst gehen soll, erscheint in der jetzigen „Ruhephase“ ein Blick auf den aktuellen Stand angebracht. Da wäre gleich an erster Stelle der Forint zu nennen, der bereits turbulente Wochen hinter sich gebracht hat.

Nachdem die heimische Währung gegenüber dem Euro auf ein neues historisches Tief bei 330 abstürzte, will die Korrektur nicht wirklich gelingen – auch aktuell bewegt sich der Wechselkurs um 325 Forint. Dazu erklärte Varga in besagtem Zeitungsinterview bemerkenswert offen: „Selbstverständlich müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass jene ruhigen Zeiten, in denen sich der Forint zwischen 305 und 315 zum Euro hielt, vorbei sind.“ Wenig überraschend begründet der Finanzminister diese Erkenntnis mit dem neuen Zyklus von Zinserhöhungen der Fed und dem Ende der lockeren monetären Politik der EZB. In diesen sensibleren Zeiten suche logischerweise auch der Forint ein neues Gleichgewichtsniveau.

Demnach hat die ungarische Wirtschaftspolitik keine Illusionen und hält offenkundig im Einverständnis mit der Notenbank nichts von einer starken nationalen Währung. Zumal es sich im Staatshaushalt um ein Nullsummenspiel handeln dürfte, weil die steigenden Zinsausgaben inflationär ausgeglichen werden. Ein sinkendes Defizit und sinkende Schulden bleiben schließlich das „Ankerziel“, alles andere wird diesem untergeordnet.

Wenn auch der Forint keine Rettung erhält, dürften die Zinsen noch eine geraume Weile im Keller bleiben. Die MNB hält den Leitzins auf dem historischen Tief von 0,9 Prozent, welches Niveau bei den Anlegern zuletzt an Attraktivität einbüßte. Solange jedoch die Eurozonen-Bankiers in Frankfurt ihre Drehschrauben nur an der Geldmenge verstellen, ist keine Gefahr in Verzug. Mindestens ein Jahr bleibt den hiesigen Währungshütern wohl noch Luft, die nicht einmal das Zwischenhoch der Inflationskurve nervös machen kann.

Apathische Gesellschaft

Anders als die Bürger, denn die Inflation wird über den schwachen Forint zu einem gehörigen Teil importiert. Gerade für die Empfänger staatlicher Transfers trifft da wieder die altbekannte Formel zu: Was der Staat mit der einen Hand gibt, nimmt er mit der anderen. So sind die Reallöhne im I. Halbjahr nicht mehr zweistellig gewachsen, was nach der Anhebung des garantierten Lohnminimums für Fachkräfte um zwölf Prozent zu Jahresbeginn nicht unbedingt so eintreten sollte. Die Bruttolöhne sind auf Volkswirtschaftsebene bei 325.000 Forint im Monat angelangt; aktuell entspricht dieser Betrag 1.000 Euro. Netto verbleiben den Beschäftigten davon 215.000 Forint oder gut 650 Euro, außerhalb von Budapest und den anderen Ballungszentren muss das Gros der Beschäftigten aber eher mit umgerechnet 400-500 Euro monatlich auskommen.

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Nun warnt auch ein Arbeitgeberverband: „Kein Bildungssystem kann besser sein, als die Qualität seiner Lehrer.“ (Foto: kormany.hu/ Károly Árvai)

Bei solchen Lohnverhältnissen spricht es eher für die Apathie der Gesellschaft, dass die jüngste „Diätenerhöhung“ im Parlament nicht mehr sonderlich für Aufregung sorgen konnte. Sprecher der Regierungspartei Fidesz argumentierten tatsächlich, unter allen Staatsdienern hätten die Politiker das Ende der Reihe abgewartet, und sich erst eine Erhöhung bewilligt, als alle anderen Gruppen besser gestellt waren. Das schlechte Gewissen war damit offenbar beruhigt, so dass es für die eigene Besserstellung selbst aus den Oppositionsbänken Zuspruch gab. Hinter dem berechtigten Anspruch trat der Umfang der Anhebung zurück, die mit glattweg 200.000 Forint freilich nahezu dem Nettolohn eines Durchschnittsbürgers gleichkommt. Ein ungarischer Politiker kassiert ab sofort netto 950.000 Forint allein an Grundbezügen, der „Leistungsaufschlag“ für die Mitgliedschaft in verschiedenen Parlamentsausschüssen spült weitere Hunderttausende Forint in die Kasse. Damit sind die Weihen des Wirtschaftswachstums endlich auch bei den letzten Mitgliedern der Gesellschaft angekommen.

Im Widerspruch zur bisherigen Politik

Damit dieses Wachstum langfristig anhält, muss sich das Land für die dünneren Jahre nach 2020 vorbereiten, wenn der Brüsseler Haushalt ohne die Briten weniger hergeben wird. Über die Wettbewerbsfähigkeitswende sollen bislang brachliegende Potenziale erschlossen werden. Dabei geht es um die Ausschöpfung von Vorteilen der Digitalisierung, einen effizienteren Staat und weniger Bürokratie. Um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen, sollen die Unternehmen die Löhne weiterhin dynamisch anheben. Der Staat möchte dieses Bestreben durch fortgesetzte Abgabensenkungen unterstützen. Als Nebeneffekt könnten attraktivere Vergütungen daheim viele ins Ausland abgewanderte Fachkräfte zur Rückkehr bewegen.

Die neue Strategie muss der demographischen Herausforderung begegnen, die Ressource Humankapital qualitativ entwickelt werden. Die bescheidene Effizienz der einheimischen Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) hat Ungarn duale Wirtschaftsstrukturen beschert; mit der intensiven Steigerung von Kapazitäten, Wertschöpfung und Umsatzerlösen pro Mitarbeiter soll diese Fallgrube zugeschüttet werden. Beobachter sehen den größten Widerspruch zur bisherigen Politik der Orbán-Regierung darin, dass sie mit dem Konzept der verlängerten Werkbank brechen muss.

Eine wissensbasierte Wirtschaft, die aus den Herausforderungen des digitalen Zeitalters, von Robotisierung und Automatisierung Kapital schlagen soll, kann unmöglich auf einem qualitativ minderwertigen Bildungsunterbau basieren, mit einem Lehrerberuf ohne Prestige, zwanzig Prozent Abgängern nach Abschluss der achtjährigen Grundschule und immer weniger Studenten. Weil die Wirtschaft dringend (billige) Arbeitskräfte brauchte, senkte die Orbán-Regierung noch 2012 die Altersgrenze für die Schulpflicht von 18 auf 16 Jahre. Das geschah ohne Frage auch auf Druck der MKIK; immerhin sieht die Kammer in ihren aktuellen Reformvorschlägen ein, dass diese Weichenstellung nur zum Feuerlöschen geeignet war, der Volkswirtschaft aber ganz sicher nicht zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhilft.

Verständigung einzig in der Muttersprache

In die gleiche Kerbe schlug jetzt der Arbeitgeberverband MGYOSZ, der Finanzminister Varga folgenden Tipp mit auf den Weg in die Sommer-Sonderschicht gab: „Kein Bildungssystem kann besser sein, als die Qualität seiner Lehrer, jene Länder erreichen die besten Ergebnisse, die das meiste Geld in ihre Lehrer investieren.“ Zur Genüge gibt es auch in Sachen Fremdsprachenkenntnisse zu tun, denn 63 Prozent der erwachsenen Ungarn können sich ausschließlich in ihrer Muttersprache verständigen. Der größte Arbeitgeberverband des Landes erhebt zudem Einspruch gegen die von der Kammer verfolgte Linie, aus vielseitig kompetenten Berufsschülern „Fachidioten“ zu machen.

Neben vielen weiteren Vorschlägen plädieren auch die Arbeitgeber für ein modernes Gesundheitswesen, das in einem gemischten Modell der staatlichen und privaten Finanzierung optimiert werden könnte. Und sie erinnern daran, dass sich die europäische Integration des Landes am ehesten über die Einführung der Gemeinschaftswährung stärken ließe. Der Euro wäre vermutlich die richtige Alternative, um in einer Europäischen Union der zwei Geschwindigkeiten nicht an die Peripherie gedrängt zu werden.

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