„In Ungarn sind die Löhne zwar niedriger, das Leben ist aber dennoch besser, als wärst Du ein Sklave im Westen.“ Mit dieser starken Behauptung wischte Kanzleramtsminister János Lázár vor einer Woche den Einwand eines Journalisten der Wirtschaftszeitung „Világgazdaság“ vom Tisch, den tollen Arbeitsmarktdaten zum Trotz würden auch weiterhin viele ihr Glück im Ausland versuchen. Das liege ganz sicher nicht an der Orbán-Regierung, sondern an jenen westeuropäischen Ländern, „die christliche weiße Jugendliche aus der Region Mittelosteuropa suchen, die für einen niedrigen Lohn zu arbeiten bereit und auch in der Lage sind“. Lázár meint, diese Ungarn würden riesige Opfer bringen, denn weil das Leben im Ausland teurer sei, könnten sie nur sparen, wenn sie sich selbst ausbeuten. Sie würden unter schlechten Bedingungen leben, hätten weder Geld noch Zeit für Erholung und Entspannung und seien fern von Familie und Freunden.

Politiker für „ausgeglichene Vergütung“

Der Kanzleramtsminister hatte sein Interview ganz offensichtlich nicht mit dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses im Parlament abgestimmt, denn am Nachmittag des gleichen Tages, an dem die erst kürzlich dem Imperium eines regierungsnahen Oligarchen zugeschlagene Wirtschaftszeitung den ungarischen Arbeitnehmern mit dem Portrait des strahlend-optimistischen Ministers zurief, ja nicht das gelobte Land für den dem Verfall nahen Westen aufzugeben, platzierte Erik Bánki jene Vorlage, die vielleicht den größten Aufruhr von Gewerkschaftsseite seit Jahren provozierte.

Es ging um eine Modifizierung des Arbeitsgesetzbuches (AGB), um die Arbeitszeiten besser zu organisieren. Im diplomatischen Ton von Gesetzentwürfen zur Vorlage im Parlament klingt das so: Die „flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten unter Berücksichtigung der langfristigen Trends in der Wirtschaft“ sollte den Arbeitnehmern dabei behilflich sein, ihre Arbeitsplätze selbst noch in einem wirtschaftlichen Umfeld zu bewahren, das einem rasanten Wandel unterliegt. Zum Erhalt der Arbeitsplätze trage eine „regelmäßige und ausgeglichene Vergütung“ bei, während den Arbeitgebern die entsprechenden Arbeitskräfte zugesichert würden. Der demagogisch vorgetragene Gedanke, wonach die „harmonischere Abstimmung abzuleistender Arbeitszeiten mit den Betriebszeiten des Unternehmens“ dem Schutz der Arbeitnehmer diene, blendete die Politikerkollegen dermaßen, dass die Debatte im Parlament längst auf das angesichts der Zweidrittelmehrheit von Fidesz-KDNP übliche „Durchwinken“ hinauslief, als bei Gewerkschaftsfunktionären die Alarmglocken schrillten.

Den der Arbeitswelt vollkommen entfremdeten (Regierungs-) Politikern stieß halt nicht auf, dass die von Bánki vorgetragene „Ausgestaltung einer berechenbaren und planbaren Produktion“ im Geiste der Unternehmen und die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit Ungarns wohl kaum den Interessen der Arbeitnehmer entgegenkommen wird.

Noch ein Ruhetag im Monat

Womit wir wieder beim Kanzleramtsminister wären, der gerade vor Ausbeutung im Ausland gewarnt hatte. Und vor schlechten Lebensbedingungen, wenn weder Geld noch Zeit für Erholung und Entspannung blieben und die arbeitenden Menschen fern von Familie und Freunden wären. Für die Gewerkschaften läuft aber genau das, was der Fidesz-Ausschussvorsitzende schon ab 1. Juli zum Gesetz erheben wollte, darauf hinaus. Ein von einem auf drei Jahre ausgeweiteter sogenannter Arbeitszeitrahmen legte die Nerven der Interessenvertreter ebenso blank wie die Passage, wonach Arbeitgeber künftig nur einen Ruhetag im Monat gewähren müssten. Das ist kein Druckfehler: In der Orbán´schen Arbeitswelt mit dem seit 2012 bereits „flexibelsten Arbeitsgesetzbuch Europas“ sollen Arbeitnehmer nicht länger rechtlich verbrieft zwei Ruhetage pro Woche zustehen, wie man das aus der ausbeuterischen westlichen Welt so kennt, sondern nur ein einziger Ruhetag im Monat!

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Saisonarbeit wie in der Landwirtschaft ist besonders anfällig für Missbrauchserscheinungen. (
Foto: MTI / Tamás Sóki)

Bánki begründete die Eingriffe in das AGB mit dem Erfordernis, dass die Arbeitgeber moderne Produktionsmethoden noch effizienter einführen und anwenden könnten, wenn die Arbeitszeiten den Produktionszyklen noch besser angepasst würden. Auf dem heutigen ungarischen Arbeitsmarkt gehen den Arbeitgebern nämlich die Arbeitskräfte aus, die Firmen können nicht in ausreichender Anzahl Mitarbeiter „umgruppieren“, wenn Not am Mann ist. Sobald die Produktion dann wieder zurückfalle, würden viele Mitarbeiter entlassen.

Absurder Arbeitszeitrahmen von drei Jahren

Das lässt sich nachvollziehen, aber welche Opfer sollen die Arbeitnehmer dafür auf sich nehmen, dass ihr Unternehmen künftig noch „flexibler“ auf die Bedürfnisse des Weltmarktes reagieren könne? Sie müssten – ein Beschäftigungsverhältnis mit dem sogenannten Arbeitszeitrahmen vorausgesetzt – an Stelle der heute gültigen 12 Monate 36 Monate Zeitspanne einkalkulieren, bis der Arbeitgeber den Mitarbeitern die wegen erbrachter Überstunden zustehenden Zuschläge oder Urlaubstage abrechnet. Das erscheint absurd angesichts der hohen Fluktuationsrate im verarbeitenden Gewerbe, wo Mitarbeiter mit drei und mehr Jahren Betriebszugehörigkeit die Minderheit bilden.

Sie müssten weiterhin hinnehmen, dass die wöchentliche Ruhezeit im Durchschnitt des jährlichen Arbeitszeitrahmens festgelegt wird. Während im Westen die 40-Stunden-Woche als höchste Zumutung für die Arbeitnehmer angesehen wird, will das ungarische AGB ab dem Sommer für Mitarbeiter mit flexibler Arbeitseinteilung vorschreiben, dass sie wöchentlich 48 Stunden Ruhezeit oder aber wenigstens 40 Stunden am Stück erhalten sollen. Es sollte also nicht die Arbeits-, sondern die Ruhezeit geregelt werden!

Die Familienbande „stärken“ dürfte auch jene Passage, wonach die Arbeitnehmer auf ihr Recht verzichten, wenigstens sieben Tage (in Ausnahmefällen: vier Tage) im Voraus ihre Arbeitszeiteinteilung kennenzulernen. Stattdessen könnten die Arbeitgeber ständige Korrekturen vornehmen und müssten einvernehmlich mit den Arbeitnehmern dafür nicht einmal mehr Überstundenzuschläge ansetzen. Außerordentliche Arbeitsverrichtungen kämen in Mode, wenn sich diese an Stelle von Geldzuschlägen in Form von Ruhezeiten kompensieren lassen. Insbesondere im Tourismus- und Gastgewerbe sowie bei Saisonarbeit, wie sie in der Landwirtschaft oder auf dem Bau gang und gäbe ist, würde Missbräuchen von Seiten der Arbeitgeber Tür und Tor geöffnet. Vielen Arbeitnehmern drohte bei flauer Auftragslage wochenlanger Zwangsurlaub, die ausgeglichene Abrechnung würde sie zum „Sklavenschicksal“ verdammen, befürchten die Gewerkschaften.

Nicht auf dem Mist der Regierung gewachsen?

Dass Politiker keinen Schimmer von der heutigen Arbeitswelt haben, verraten in der Parlamentsdebatte fallengelassene Argumente wie jenes, man wollte nur das Beste für die Arbeitnehmer, wenn ihnen „fortlaufend gleichmäßige“ Löhne gezahlt würden. Wer monatlich Millionen ohne größere Anstrengungen aufnimmt, mag auf Kontinuität der Gehaltshöhe setzen, für viele Arbeitnehmer sind hingegen gerade die Zuschläge das Salz in der Suppe. Bei Stundenlöhnen um 1.000 Forint ist es nicht gleichgültig, ob noch 15-50 Prozent draufgeschlagen werden oder nicht. So schwach die Gewerkschaften in Ungarn auch sind, an den Zuschlägen lassen sie nicht rütteln.

Aus Sicht der Arbeitgeber ist verständlich, dass moderne Produktionssysteme wie das weit verbreitete Just-in-Time mit seinen Sofortauslieferungen ohne Lagerhaltung hochgradige Flexibilität verlangen. In Zeiten eines allgegenwärtigen Mangels an Humanressourcen kann da schon eine Grippewelle die Produktionsabläufe von Unternehmen durcheinander wirbeln. Unter dem Vorwand der „Flexibilität“ geht es somit darum, aus den verbliebenen Arbeitskräften das Maximum herauszuholen und dabei nicht die Kosten für Überstundenzuschläge ins Uferlose zu treiben. Nach Kalkulationen von Gewerkschaften könnten aus jedem Mitarbeiter jährlich bis zu 400 Überstunden zusätzlich (!) herausgequetscht werden.

Viele Medien verbreiten deshalb die These, dieser Eingriff ins AGB sei nicht auf dem Mist der Regierung gewachsen, sondern Ergebnis der Lobbyarbeit eines Großunternehmens, noch dazu sehr wahrscheinlich aus der Automobilindustrie. Auch alle Gewerkschaften sprechen von Großunternehmen und Multis, auf deren Altar die Interessen der Arbeitnehmer geopfert würden. Naheliegend wäre das schon, wenn man nur die Technik des Arbeitszeitrahmens ins Kalkül zieht, das Nichtgewähren von Zuschlägen und Ruhetagen dürfte aber gerade bei windigen kleinen einheimischen Firmen ein Renner sein. Zumal diese häufig erst gar keine drei Jahre existieren, ihre Arbeitnehmer also nach dem neuen AGB gewissermaßen „vorsätzlich“ niemals vollständig entlohnen würden.

Keine Steilvorlage für die Gewerkschaften

Obgleich die Kritiken hauptsächlich gegenüber den Multis formuliert wurden, zog die Regierung die umstrittene Vorlage so schnell zurück, wie sie diese aus dem Ärmel gezaubert hatte. (Bánki log zwar im Parlament, er hätte die Vorlage auf „Wunsch von Gewerkschaften und Arbeitnehmern“ eingebracht, das wollten ihm aber nicht einmal die dem Fidesz nahestehende Liga und die Arbeiterräte abnehmen.) Der Rückzug erfolgte so: Nach den ersten Protesten wurde eine Konsultation mit den Sozialpartnern in der ersten Maiwoche angeboten – man wollte also nachholen, was vor der Einreichung des Gesetzentwurfes weitaus mehr Sinn gemacht hätte. Dann dürften Kommunikationsexperten bemerkt haben, den Gewerkschaften eine Steilvorlage für die Feiern zum 1. Mai zu liefern, wenn die Angelegenheit über das lange Wochenende ungeklärt bleibt.

Also nahm der Wirtschaftsausschuss an diesem Dienstag „auf Empfehlung des Fidesz und der Gewerkschaften“ die Vorlage zurück, die „in der jetzigen Form, unter den gegenwärtigen Umständen nicht geeignet sei, ihre Rolle wahrzunehmen“. Der wichtigste Aspekt sei – nunmehr auch für die Regierung –, dass die Interessen der Arbeitnehmer nicht geschmälert werden. Schließlich will nicht nur Kanzleramtsminister Lázár die „Sklaven“ lieber im Ausland sehen.

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