(…) Eine Ära ist zu Ende gegangen. (…) Eine Chance kommt. (…)

Nach den vielen Krisen, Freiheitskämpfen und Weltkriegen haben wir nie selbst über unser Schicksal entscheiden dürfen, sondern immer die Großmächte. (…) Und immer so, dass dabei ein national geprägtes, autoritäres System mit zumeist populistischen Zügen an die Macht kam: unter der Führung von Franz Joseph, Horthy, Rákosi und Kádár. (…)

Aus dieser Situation heraus war es keine schlechte Idee des Schicksals, dass die Wähler 2010 und dann noch mal 2014 selbst die populistische Tyrannei gewählt haben. (…) So bietet sich nämlich auch die Möglichkeit, dass wir uns auch selbst die Demokratie wählen. Es schien bis jetzt, als wäre die gegenwärtige Regierung an die Macht festbetoniert. (…)

Jetzt geschah aber eine radikale Veränderung, und zwar in zweierlei Hinsicht.

Erstens wurden die Regierung und der geliebte Führer in ein anderes Licht gerückt. (…) Es wird immer mehr und mehr Menschen klar, dass der Führer nackt ist.

Bisher glauben viele, dass sich der Führer um die Verbesserung des Schicksals seiner Gesellschaft bemüht. Das war zumindest die große Propaganda. (…) Aber es wird immer klarer (und dabei war die CEU-Angelegenheit eine große Hilfe), dass er ein viel wichtigeres „Projekt“ im Schilde führt: (…) Er will in einem immer größeren Ausmaß auf der weltpolitischen Bühne mitspielen. Viele Zeichen deuten darauf hin. (…)

Er will eine außerordentliche Macht in Europa

Das erste ist die widersprüchliche Beziehung zur Europäischen Union. Die Fördergelder nimmt er zwar dankend entgegen, (…) währenddessen geht er aber mit dem Spruch „Stoppen wir Brüssel!“ hausieren. (…)

Dies kann ein Grund dafür sein, sich auch anderswo umzusehen. (…) Zum Beispiel bei Putin. (…) Dieser wusste die Initiativen des ungarischen Führers auch sehr zu schätzen: siehe Budapest-Besuch und AKW Paks 2. (…) Die Presse berichtete auch ganz offen darüber, dass dies nur die Spitze des Eisbergs sein könnte, sie hätten nämlich viel mehr Vereinbarungen getroffen. (…)

Ach, was soll‘s, nehmen wir doch gleich die Vereinigten Staaten dazu! (…) Donald Trump schien ein geeigneter Partner zu sein, (…) er macht jedoch eine ausgewogenere Politik und es ist ihm kein großes Anliegen, sich mit dem Führer zu treffen, noch weniger gar mit ihm zu kooperieren. (…)

Der Führer will sich mithilfe von Putin und Trump (…) eine außerordentliche Machtstellung in Europa sichern. (…)

Die Ironie des Schicksals ist dabei jedoch, dass eben gerade die Annäherungsversuche an Amerika zum Erwachen der Bevölkerung führten.

Denn was war eigentlich der große Sinn dahinter, dass der Führer plötzlich die CEU attackierte? Kulturpolitische Gründe sind auszuschließen, die CEU funktionierte einwandfrei und genoss einen guten Ruf. (…)

Zirkus statt wahre Sorgen Ungarns ernst zu nehmen

Warum kreierten sie also so einen Riesenskandal aus der Soros-Angelegenheit? Dies kann nur einen Grund haben: sich bei Trump in gutem Licht zu zeigen, (…) dass hier alle verfolgt werden, die mit den amerikanischen Demokraten liebäugeln. Trump sah dafür aber nach den Wahlen keine Notwendigkeit mehr. (…)

Die Sinnlosigkeit und der Dilettantismus des Kampfes gegen die CEU löste auch in Ungarn eine unerwartete Wirkung aus. So ähnlich, wie dieser auch geführt wurde: unerwartet, in Wirklichkeit unbegründet, aber sofort mit den härtesten Konsequenzen.

Die Menschen fingen an, zu denken. Und das führte auch dazu, dass man merkte: Der Führer ist nackt! Er verliert keine Gedanken daran, wie er die ungarischen Schulen und Krankenhäuser aus dem Schlamassel ziehen soll. Oder wie die ungarische Industrie, die Landwirtschaft und der Handel einen Aufschwung erfahren könnten. Auch daran nicht, wie man die Folgen der ungarischen „Sackgasse“ beseitigen könnte: die Bekämpfung der tiefen Armut und das Aufschließen zu den entwickelten europäischen Ländern. Stattdessen macht er einen Zirkus: Er will eine weltberühmte Hochschuleinrichtung schließen, obwohl diese keinen einzigen feindlichen Schritt gegen die Regierung unternommen hatte.

Auch bisher waren immer mehr Menschen besorgt, was hier in Ungarn alles passiert. (…) Jetzt kamen aber Zehntausende zusammen und legten ein öffentliches Bekenntnis ab. Der Führer ist nicht nur nackt, er hat auch keine Gewänder, und auch die Gesellschaft ist zukunftslos.

Wir sind an einem Wendepunkt angelangt. (…) Damit wir dort sein können, wo wir in Wirklichkeit sein sollten, müssen wir einander finden und gemeinsam auftreten.

Der Autor (* 1925) ist Soziologe, ehemaliges Mitglied der Ungarischen Kommunistischen Partei (1945-1948), der stalinistischen Ungarischen Arbeiterpartei (1948-1956), der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (1972-1989), Gründungsmitglied und ehemaliger Abgeordneter der MSZP (1989-2011) sowie gegenwärtig Abgeordneter der gyurcsányschen DK.

Der hier in Auszügen wiedergegebene Kommentar erschien am 25. April auf dem Online-Portal der linksliberalen Tagesszeitung Népszava.

Aus dem Ungarischen von Dávid Huszti

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