Der Jahresbeginn 2016 war innen- und außenpolitisch von einem Thema geprägt – der Flüchtlingskrise. Fast auf den Tag genau zwölf Monate ist es her, dass Premier Viktor Orbán auf dem Fidesz-Parteitag vom „Schlachtfeld Europa“ sprach und davon, dass der nicht enden wollende Flüchtlingsstrom aufgehalten werden müsse. Nun war dies keineswegs ein Novum im Repertoire des Regierungsoberhauptes, ist das Thema „Flüchtlinge“ doch seit Langem sein Steckenpferd. So sollte es auch in seinem Jahresrückblick Ende Februar das bestimmende Element sein – und nicht nur da: Genau genommen zog sich das Thema Migrationskrise durch das gesamte Jahr. Denn auch zum Nationalfeiertag am 15. März drehte sich in der Rede des Ministerpräsidenten alles um Migranten. Eine Ausnahme machte Orbán da nur zugunsten seines zweiten Lieblingsthemas: dem Kampf gegen Brüssel. Der (mal mehr, mal weniger) latente Anti-EU-Duktus Viktor Orbáns ist aber bei Weitem keine Überraschung.

Überraschend war jedoch, dass die im Herbst 2015 begonnenen Lehrerproteste, die sich auch im neuen Jahr fortsetzten, für den Premier wiederum kaum ein Thema waren. Und das, obwohl rund 20.000 Teilnehmer am 15. März auf dem Kossuth tér zusammenkamen, um gemeinsam mit einer der Leitfiguren des Pädagogenprotestes, Schuldirektor István Pukli vom Blanka-Teleki-Gymnasium, Premier Orbán ein Ultimatum zu stellen. Entweder er entschuldige sich bei all denen, die die Regierung in den vergangenen Jahren erniedrigt hat oder die Lehrer werden einen einstündigen Warnstreik abhalten.

Stark angefangen, stark nachgelassen

Eine Woche Bedenkzeit gab der Schuldirektor dem Regierungsoberhaupt und daneben auch Staatschef János Áder. Diese ließen jedoch das Ultimatum verstreichen. Die Reaktion der Lehrer wurde als einer der klügsten Schachzüge regierungskritischer Bewegungen in Ungarn seit Langem gewertet: ein einstündiger Warnstreik. Doch was so stark und mit so viel gesellschaftlichem Rückhalt begann, sollte schon bald Schwächen zeigen.

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Im Sande verlaufen: Die Tanítanék-Bewegung hat die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können.

Denn noch bevor der Streik endgültig angekündigt werden konnte, begannen erste Uneinigkeiten, die bis dahin homogen wirkende Gruppe der Pädagogen auseinanderzureißen. Denn die gepriesene Idee des Streiks traf unter den Lehrern keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Dies lag ohne Zweifel auch an der rechtlich unsicheren Lage. Während die Pädagogen der Tanítanék-Bewegung sich auf ihr Streikrecht beriefen, ermahnte unter anderem der für Bildung zuständige Staatssekretär László Palkovics die Organisatoren des Streiks, niemanden zum Rechtsbruch aufzurufen, denn die rechtlichen Bedingungen für eine Arbeitsniederlegung seien nicht gegeben.

Protest verlief im Sande

In diese Diskussion schaltete sich auch die Gewerkschaft der Pädagogen, die PSZ, ein. Deren Vorsitzende, Galló Istvánné, hatte nach Bekanntgabe des geplanten Streiks ebenfalls Bedenken bezüglich der Rechtmäßigkeit eingeräumt und vorgeschlagen, der Unzufriedenheit lieber nach Ende der Arbeitszeit Ausdruck zu verleihen. Der Aufschrei innerhalb der Tanítanék-Bewegung war angesichts dieses gefühlten Destabilisierungsversuches so groß, dass Frau Galló ihren Vorschlag zurückzog. Am Ende fand der Streik während der Arbeitszeit statt, seine Auswirkungen blieben jedoch überschaubar. Der einzig nennenswerte Erfolg war die Auflösung der für viele Fehlentwicklungen verantwortlich gemachten zentralen Schulbehörde, KLIK. Diese sollte, so die Zusage von HR-Minister Zoltán Balog, noch im April durch kleinere, effizientere Behörden ersetzt werden. Geändert hat sich jedoch nicht viel.

Die sich betrogen fühlenden Pädagogen riefen daher im April erneut zum landesweiten Streik auf. Spätestens hier zeigte sich aber, wie uneins man sich mittlerweile innerhalb der Lehrerschaft war. Denn der landesweite Aufruf verlief mehr oder minder im Sande. Das Schuljahr neigte sich dem Ende zu und auf das Versprechen, im Herbst mit neuen und vereinten Kräften weiter für die Umgestaltung des Bildungssektors zu kämpfen, folgte großes Schweigen, das nur vom überraschenden Rückzug István Puklis aus der Tanítanék-Bewegung gebrochen wurde. Obwohl sie sich über Parteigrenzen hinweg breiter gesellschaftlicher Zustimmung erfreut, ist es fraglich, ob sich die Bewegung noch einmal aufrappeln wird.

Kehrtwende in Sachen Sonntagsschluss

Zeitgleich mit Premier Orbáns Rede zur Lage der Nation versuchte ein anderer Politiker ein gesellschaftlich tatsächlich relevantes Problem von der breiten Öffentlichkeit bewerten zu lassen: István Nyakó, Politiker der linken Oppositionspartei MSZP, versuchte am 23. Februar, seine Referendumsfrage zum verhassten Sonntagsschlussgesetz einzureichen. Nachdem die MSZP in den Monaten zuvor durch oft hanebüchene „Zufälle“ und andere Widrigkeiten einfach nicht zum Zug gekommen war, sollte zu Beginn des Jahres ein Vorfall in dieser Frage besonders die Gemüter erzürnen.

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Bei einem erneuten Versuch Nyakós', der von großem medialen Interesse begleitet wurde, seine Referendumsfrage als Erster einzureichen, wurde der MSZP-Politiker von muskelbepackten Herren daran gehindert. Zum damaligen Zeitpunkt galt im Nationalen Wahlbüro (NVI) noch der Grundsatz: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Mit der Behinderung Nyakós war die Frage zum Sonntagsschluss erneut gesperrt, zumindest schien es so. Die Empörung über diese offensichtliche Missachtung sämtlicher demokratischer Grundwerte ließ nicht lange auf sich warten. Obwohl es selbst für Laien ersichtlich war, dass hier ein massiver Rechtsbruch vorlag, war weder die Polizei noch das NVI bereit, der Sache nachzugehen.

Ganz ohne Konsequenzen blieben die Geschehnisse trotz allem nicht. Zum einen wurde die Bestimmung, nach der ein Themenkreis durch eine eingereichte Frage so lange geblockt ist, bis diese nicht „durchexerziert wurde“, geändert. Stattdessen gilt nun: Wer zuerst 200.000 Unterschriften sammelt, dessen Frage wird dem Volk zur Abstimmung präsentiert. Doch noch bevor die MSZP dazu kam, politisches Kapital aus dem sogenannten „Glatzen-Gate“ zu schlagen, teilte die Regierung mit, den Sonntagsschluss aufzuheben. Die daran geknüpften Erwartungen hätten sich nicht erfüllt und so hieß es knapp ein Jahr nach der Einführung auch schon wieder: „Tschüss, Sonntagsschluss!“ Doch der unerwartet intensive Unmut der Bevölkerung nach den Geschehnissen im NVI hatte noch weitere Folgen: Viktor Orbán persönlich verkündete nur einen Tag darauf, selber ein Referendum abhalten zu lassen, nämlich zur EU-Quotenregelung. Dieses sollte von da an den politischen (und medialen) Alltag bestimmen.

Mediales Dauerfeuer der Regierung

Ende Februar verkündet, bot das Referendum dem Ministerpräsidenten gleich eine doppelte Möglichkeit, seine Lieblingsthemen zu beackern, denn es konnte sowohl gegen Flüchtlinge als auch gegen die EU gewettert werden. Obwohl erst für den Herbst angesetzt, begann die Regierung bereits im Mai mit der Kampagne zum Referendum. Unter der Bezeichnung „Informationskampagne der Regierung“ flutete Kabinettsminister Antal Rogán auf sämtlichen medialen Kanälen das Land mit der Botschaft: „Unsere Nachricht an Brüssel, damit auch sie es verstehen!“

Doch dies war nur der erste Streich. Im Juli wurde eine weitere Kampagne unter dem Titel „Wussten Sie's?“ gestartet, in der missverständliche und zum Teil falsche Aussagen zur Flüchtlingsproblematik verbreitet wurden. Hier schaltete sich erneut die Satirepartei MKKP („Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes“) mit einer nonchalanten Gegenkampagne ein. Wie bereits 2015 plakatierten die MKKP-ler, finanziert durch Crowdfunding, das ganzen Land mit ihren urkomischen Botschaften. Während sich die etablierten Oppositionsparteien in der Frage, wie soll abgestimmt werden, uneinig waren, schaffte es die MKKP binnen kurzer Zeit den Blick vieler Menschen für das Thema Referendum ein wenig zu schärfen.

Staatssender auf Regierungskurs

Die Werbemaschinerie der Regierung lief vor allem während der Sommerolympiade zu Hochtouren auf. Untersuchungen des Fernsehprogramms ergaben, dass insbesondere das Staatsfernsehen bemüht war, den Standpunkt der Regierung zu verbreiten. Doch alle Bemühungen waren umsonst, das Referendum scheiterte an einer zu geringen Beteiligung, denn nur rund 43 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Recht der Stimmabgabe Gebrauch – und unter ihnen stimmten gar weitere sechs Prozent ungültig. Dazu hatte vor allem die MKKP, aber auch im Parlament ansässige Oppositionsparteien aufgerufen. Obwohl das Referendum sein Ziel verfehlt hatte, nahm es die Regierung als Rechtfertigung, eine von langer Hand geplante Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen. Der von Gergely Gulyás geprägte Begriff der „politischen Gültigkeit“ des Referendums wurde schnell zum geflügelten Wort, denn ein Scheitern der Volksbefragung wollte von Regierungsseite niemand eingestehen.

Medienwelt im Umbruch

Am 8. Oktober geschah, womit niemand gerechnet hätte: Die kurz vor ihrem 60. Jubiläum stehende, oppositionelle Tageszeitung Népszabadság wurde von einem Tag auf den anderen dichtgemacht. Die Begründung war mehr als fadenscheinig, hieß es doch, das Blatt rentiere sich nicht mehr. Die Kosten der spontanen Schließung gehen Schätzungen zufolge jedoch in die mehreren Hundert Millionen und auch arbeitsrechtlich dürfte dem Eigentümer für sein Vorgehen noch Ärger ins Haus stehen.

Doch dies war nicht die einzige Änderung in der ungarischen Medienlandschaft: Zum Herausgeber Mediaworks (zu dem auch die Népszabadság gehörte) wanderten beim Erwerb des Portfolios auch zahlreiche Lokalzeitungen, die nunmehr einhellig auf Regierungskurs gebracht wurden. Kurz vor Jahresende dann ein weiterer Paukenschlag: Die bis dato als unabhängig bekannte Wirtschaftszeitung Figyelő wurde zu Beginn der Woche von Historikerin Mária Schmidt erworben. Damit dürfte die neue Richtung des Blattes ebenfalls klar pro-Orbán sein.

Cui bono?

Durch die „politische Gültigkeit“ legitimiert, versuchte der Fidesz also, die siebente Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen. Zuerst schien es so, als sei die Jobbik auch bereit, die nötigen Stimmen zur benötigten Zweidrittelmehrheit beizusteuern – aber nur unter einer Bedingung: der Rücknahme der viel kritisierten Ansiedlungsanleihen. Damit stieß die Partei unter Führung Gábor Vonas jedoch auf Widerstand. Der Fidesz war eher bereit, eine Niederlage hinsichtlich der Verfassungsänderung einzukassieren, als der Jobbik auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen. Der Änderungsvorschlag, der nach Bekanntwerden von Juristen als unsinnig, da nicht EU-Rechtskonform bezeichnet wurde, scheiterte schließlich auch vor dem Hohen Haus. Inwiefern die fehlende Unterstützung der Jobbik ihr selbst oder doch am Ende dem Fidesz nützen wird, bleibt abzuwarten. Zwar sind es noch eineinhalb Jahre bis zur nächsten Wahl, aber das Jahr 2017 dürfte bereits im Zeichen des Wahlkampfs stehen.

Was auf das Land zukommt

Wie sehr die Regierung schon jetzt im Wahlkampfmodus ist, zeigte sich erst in der vergangenen Woche. Premier Viktor Orbán gab bekannt, dass sämtliche Rentner des Landes einen einmaligen Einkaufsgutschein von 10.000 Forint erhalten – noch vor Weihnachten, versteht sich. Nun ist es kein Geheimnis, dass sich Wahlen in Ungarn mit den Stimmen der Senioren gewinnen lassen, der politisch bis heute aktivsten Bevölkerungsgruppe. Es dürfte also nur das erste in einer Reihe vieler kleiner Wahlkampfgeschenke sein.

Doch wo ist eigentlich die linke Opposition 2016? In einem erbärmlichen Zustand möchte man meinen. Angefangen beim totalen Abstimmungschaos vor dem Referendum bis hin zum kläglichen Versuch, am 23. Oktober eine gesamtlinke Kundgebung zu organisieren, bei der per se zwei Akteure nicht dabei waren.

Ausschreitungen der unerwarteten Art

Zu der staatlichen Feierlichkeit hatten sich neben Vertretern der Regierung auch Oppositionspolitiker angekündigt. Péter Juhász von der Partei Együtt hatte zum lautstarken Protest auf dem Kossuth tér aufgerufen. Gefolgt waren diesem Aufruf zahlreiche Aktivisten und Sympathisanten und so gingen weite Teile der Rede des Ministerpräsidenten im Pfeifkonzert unter. Dies war den Anhängern der Regierung ein solcher Dorn im Auge, dass es mehrfach zu Handgreiflichkeiten kam. Unter den Opfern eines solchen Übergriffs war auch der Historiker Krisztián Ungváry, der auf dem Parlamentsvorplatz seinem Missfallen über die Erinnerungspolitik der Regierung mittels Trillerpfeife Ausdruck verleihen wollte.

Der mit gewissem Wohlwollen aufgenommenen Nachricht, die linken Parteien würden 2018 einen gemeinsamen Kandidaten gegen Premier Orbán ins Rennen schicken, folgten sofort Zerwürfnisse, Anfeindungen und letztlich der Plan, doch lieber auf zwei separaten Listen Kandidaten aufzustellen.

Der lachende Dritte bei all dem ist ohne Frage die Jobbik, die sich seit jeher auf den Fidesz eingeschossen hat. Nachdem sie der Regierung die Zustimmung zur Verfassungsänderung verweigert hat, wird das Thema der Quotenregelung – und damit verbunden die Frage der Ansiedlungsanleihen – auch weiterhin das bestimmende Thema zwischen diesen beiden politischen Größen, aber auch generell im ungarischen Politalltag bleiben.

Und dann wäre da noch die MKKP. Auch wenn sie bisher oft nur als Spaßpartei wahrgenommen wurde, liegt sie in Meinungsumfragen mittlerweile landesweit im messbaren Bereich. Nicht Wenige halten ein Erstarken der „Hundepartei“ bis 2018 für durchaus möglich.

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