Auf was hoffte der Fidesz, als er so unvorbereitet in die Abstimmung ging? Darauf, dass sich mindestens zwei Abgeordneten „verwählen“? Wohl kaum! Schließlich war von vorn herein klar, dass sich fast alle oppositionellen Abgeordneten enthalten werden. Wenn auch insbesondere die Sozialisten gelegentlich Probleme haben, den richtigen Abstimmungsknopf zu finden, den Unterschied zwischen wählen und nicht wählen beherrschen sicher auch sie. Zumal die MSZP-Fraktionsleitung sie gleich noch verpflichtete, in der Zeit, in der ihre Kollegen von den Regierungsparteien fleißig „igen“-Knöpfe drückten, schön mit beiden Händen Papierblätter hochzuhalten, auf denen die Lust von Kanzleramtsminister Antal Rogán zum Helikopterfliegen angeprangert wurde.

Eine sichere Zweidrittelmehrheit war nicht vorhanden und die Möglichkeit des Verwählens so gut wie ausgeschlossen. Warum lief Orbán trotzdem ins offene Messer? Warum nahm er in Kauf, dass seine Gegner jetzt lustvoll von Orbán zweiter Niederlage innerhalb von gut einem Monat schwadronieren können? Und, dass sich Orbáns ausländische Gegner erneut der Illusion hingegen können, das ungarische Volk würde in der Migrationsfrage nicht mehr mehrheitlich hinter dem Kurs ihrer Regierung stehen? Letzteres ist natürlich Blödsinn. Jeder, der nur einigermaßen Ahnung von Ungarn hat, weiß, dass es sowohl beim Referendum als auch jetzt wieder allem Anschein zum Trotz vorrangig um Innenpolitik ging. Konkret darum, dem sonst so wenig verwundbaren Orbán eins auszuwischen.

Genauso gut hätten auch die Olympiafrage oder die Sonntagsöffnungsfrage getaugt. Aber in diesen Fragen gab nun mal kein Referendum und musste auch kein Zweidrittelgesetz geändert werden. Also musste das Migrationsthema herhalten, um an Orbáns Unbesiegbarkeitsnimbus zu sägen. Sogar gleich zwei Mal. Beide Male mit mehr oder weniger absehbarem Endergebnis. Orbán fügte sich trotzdem beide Male dem Lauf der Dinge. Weder sagte er das Quotenreferendum ab, noch die Verfassungsänderung. So als wäre ihm nicht das Endergebnis wichtig, sondern das Spektakel drum herum und sonstigen Auswirkungen.

Beim der Verfassungsänderung könnte es neben dem offensichtlichen A-Szenario, nämlich Ungarn gegen eine Zwangsquote aus Brüssel zu imprägnieren, und vielleicht auch zu zeigen, dass man auch ohne eine Zweidrittelmehrheit weiterhin an Zweidrittelgesetzen schrauben kann, auch ein B-Szenario geben. Das könnte darin bestehen, sämtliche oppositionelle Parteien in den Augen der Wähler als „Vaterlandsverräter“ an den Pranger zu stellen. Insbesondere die in letzter Zeit sehr aufmüpfige Jobbik, die die nationale Karte immer wieder mit einer Lust und Überzeugung ausspielt, dass sich der Fidesz schon Sorgen um sein Alleinstellungsmerkmal machen könnte. Ab jetzt können Orbáns Mannen der Jobbik beim Ausspielen der nationalen Karte jedoch sofort Kontra bieten. „Moment mal, wart ihr nicht die Partei, die einst im November 2016 zusammen mit den ohnehin vaterlandsverräterischen Linken und Liberalen nicht für den Schutz Ungarns gestimmt habt?!“

Die ersten Erklärungen von Regierungsseite nach der gescheiterten Abstimmung unterstützen die Annahme, dass sie tatsächlich die Absicht hat, die taktische Abstimmungsniederlage in einen strategischen Sieg zu verwandeln. Zum geringen Preis einiger weniger negativer Schlagzeilen hat die Regierung ihr langfristiges politisches Guthaben mal so eben nebenbei kräftig erhöht. Durch das Verhalten der Jobbik sowohl beim Referendum als auch jetzt bei der Verfassungsabstimmung haben die Regierungsparteien möglicherweise ein Argument gewonnen, mit dem sie die Jobbik ab sofort nachhaltig auf Abstand halten können. Die Sozialisten können ein Lied davon singen, wie ihnen der Fidesz bis zum heutigen Tage ihr Verhalten bei ansonsten schon längst vergessenen Referenden der Vergangenheit immer wieder lustvoll um die Ohren haut.

Die linken Parteien stellen für den Fidesz längst kein Problem mehr dar. Die Zerlegen sich schon seit Jahren selber (siehe hier). Die einzige relevante Oppositionspartei ist inzwischen die Jobbik. Möglicherweise ist dem Fidesz soeben ein kräftiger Schlag gegen sie gelungen.

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