Der BWL-Professor der Budapester Corvinus-Universität ist es leid, dass sich jeder die Wirtschaftszahlen so hinbiegt, wie es der Betreffende gerade braucht. Unter den vielen gängigen Indikatoren der Leistungskraft einer Volkswirtschaft akzeptiert er das Primat des Wirtschaftswachstums nur im Dreigespann mit dem erreichten Lebensniveau und der Wettbewerbsfähigkeit. In Hinsicht auf das Wachstum scheint die Welt in Ungarn – vor allem im EU-Vergleich – recht heil, dabei besteht ein grundlegendes Problem darin, dass die Konjunktur nahezu vollständig von den Fördergeldern der Europäischen Union abhängt. Chikán zufolge könne deshalb von stabilen Fundamenten des Wachstums keine Rede sein. Was die Lebensqualität betrifft, gibt es schwerwiegende Spaltungen sowohl regional als auch zwischen den einzelnen Schichten der Gesellschaft.

Besonders aussagekräftig ist für den Experten die Platzierung Ungarns auf der Weltrangliste für Wettbewerbsfähigkeit des Weltwirtschaftsforums (WEF): Unter 150 gelisteten Ländern rutschte Ungarn vom 29. Platz zu Beginn des Jahrtausends auf den 69. Platz ab. Nicht nur in Mittelosteuropa, sondern unter allen früheren Ostblockländern der Region ist Ungarn mittlerweile Schlusslicht. „Diese Ranglisten verraten weitaus mehr als das Wachstum oder das Pro-Kopf-BIP, weil mehr als einhundert Aspekte ausgewertet werden, von direkten Wirtschaftsfaktoren über die Effizienz der Institutionen und die Korruption bis zu Gesundheitswesen und Innovationskraft. Das Gesamtbild ist jämmerlich“, sagte Chikán, der den Ministersessel in der Orbán-Regierung nach nur anderthalb Jahren räumte, weil er die Idee der Ausrichtung einer Fußball-EM in diesem Land als Humbug bezeichnete.

Großteil der Leistung geht verloren

Und hier greift die Analyse die Substanz an. „Wir weisen schlechte Produktivitätskennziffern auf, die davon handeln, wie effizient wir die zur Verfügung stehenden Ressourcen – wie Kapital oder Arbeitskräfte – einsetzen können. Natürlich fließt auch die Leistung des öffentlichen Sektors in die Produktivität der Gesellschaft ein, und zieht die Gesamtleistung heftig runter.“ In der Wettbewerbssphäre unterscheidet der Betriebswirtschaftler zunächst einmal die großen multinationalen Unternehmen, die modernste Technologien verwenden und einen Multiplikatoreffekt im Zuliefererkreis auslösen. Eine relativ hohe Produktivität weisen aber auch noch die überwiegend mittelständischen ungarischen Exporteure auf. Erst an dritter Stelle folgen jene internationalen Unternehmen, die in erster Linie von den billigen ungarischen Arbeitskräften profitieren wollen. Und am Ende der Produktivitätsreihe finden sich jene heimischen Firmen, die sich dem Exportwettbewerb erst gar nicht stellen.

Warum es unterm Strich aber so schlimm um die Produktivität im Gesamtbild steht, hat auch etwas damit zu tun, dass in Ungarn der Organisationsgrad von Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen unterentwickelt ist. Deshalb geht nach Ansicht von Chikán ein Großteil der individuell erzeugten Leistung durch den Mangel an institutioneller Effizienz, das bescheidene Niveau der Arbeitsorganisation, die Bürokratie und das bestehende Vertrauensdefizit zwischen Institutionen und Individuen wieder verloren.

Das aber habe hauptsächlich mit der Korruption zu tun, die „mittlerweile selbst innerhalb der ungarischen Gesellschaft mit ihrer hohen Toleranzschwelle geradezu unerträgliche Ausmaße angenommen“ hat. Der 72-jährige Professor findet es einfach unglaublich, was hier passiert: „Neben der extremen Beschädigung der Gesellschaft ist das größte Problem der Korruption, dass sie die Produktivität schmälert, weil das Geld nicht dorthin fließt, wo es gesellschaftlich am sinnvollsten verwendet werden kann. Die neuen Oligarchen investieren ihre erworbene wirtschaftliche Macht gut wahrnehmbar nicht in die Wettbewerbssphäre.“

Bildungsstrukturen der Zukunft anpassen

Chikán spricht in dem Interview von Prozessen, die bislang „ausgesprochen den internationalen Entscheidungstendenzen zuwiderliefen“; aber wenigstens die neue Industriestrategie sei nicht ganz hoffnungslos. Die heute noch das Rückgrat der westlichen Gesellschaften bildende Mittelschicht wird in ihrer gegenwärtigen Form „in absehbarer Zeit und unvermeidlich an Boden verlieren“, weil der Bedarf an mittelmäßig qualifizierten Menschen schon in 10-20 Jahren rapide fallen wird. Die kaum ausgebildeten, billigen Arbeitskräfte werden künftig für persönliche Dienstleistungen und solche Tätigkeiten herangezogen, bei denen sich der Einsatz teurer Maschinen nicht lohnt. Wer über hohe Qualifikationen verfügt, wird wiederum anständig dafür bezahlt, Prozesse und Maschinen ständig weiterzuentwickeln. Wenn das zutrifft, müssten sich die Bildungsstrukturen dieser Zukunft anpassen.

„Da wir heute nicht einmal wissen, welche Berufe in 10-20 Jahren gefragt sein werden, reicht es nicht mehr aus, dass jemand in einer Sache sehr gut ist. Vielmehr müssen die Arbeitnehmer imstande sein, sich flexibel von einer Tätigkeit auf eine andere umzustellen“, resümierte der Professor, um dann konkret die duale Ausbildung anzugreifen, die Arbeitskräfte mit mittleren Abschlüssen generiere, für die später kein Bedarf mehr bestehen wird. Dieses System bilde die jungen Leute nämlich auf den heutigen Bedarf der Unternehmen zugeschnitten aus, statt ihnen in der Schule breite Fundamente und Lerntechniken zu vermitteln. „Ich sage nicht, dass die Konzeption der dualen Ausbildung allgemein und prinzipiell falsch ist, ich denke jedoch, sie sollte auf einem weitaus schmaleren Gebiet zur Anwendung gelangen.“

Junge Leute können aussteigen

Zum seit Jahren avisierten Bürokratieabbau hält Chikán eine niederschmetternde Meinung parat: „Von Zeit zu Zeit werden da Zahlen präsentiert, von denen wir alle schon in dem Moment wissen, da wir sie hören, dass sie nicht wahr sind. Es geht nicht, dass ich 300.-500.000 Menschen entlassen will, aber X und Y doch nicht, weil sie meine Freunde sind. Am Ende stellt sich heraus, dass es 250.000 X und 250.000 Y gibt, und wir sind wieder am Ausgangspunkt angelangt.“ Stattdessen rät er zu einer rationalen Betrachtung, denn während die Wirtschaft über einen chronischen Arbeitskräftemangel klagt, wird in der Bürokratie überbeschäftigt. Nicht mit Worten, sondern mit straffer Organisation und Umschulungen ließe sich der Transfer zwischen den Sektoren bewerkstelligen, was wirklich keine leichte Aufgabe sei.

Um die schwache Effizienz von Ausschreibungen zu verbessern, sollten die Wirtschaftsakteure ein inhaltliches Mitspracherecht erhalten. Abstimmungen, die mit Fachverbänden durchgeführt werden, sind eher formeller Natur, wenn sich die Verkündung der Ausschreibung beispielsweise ein halbes Jahr verspätet, aber plötzlich das Fach um seine Meinung gebeten wird – die schriftlich in zwei Tagen vorliegen soll.

Und wie lautet der allgemeine Ausblick des „alten Fuchses“, der viel Zeit im Kreis von 20-30-Jährigen verbringt, weil die Zukunft in deren Händen liegt? „Die aktuelle Lage der ungarischen Wirtschaft erinnert in vielerlei Hinsicht an die Jahre vor der Systemwende 1989. Es ist bereits zu erkennen, dass sich die Dinge so nicht länger aufrechterhalten lassen, doch kennen wir die Lösung noch nicht. Für die jungen Leute besteht ein riesiger Unterschied zu den 80er Jahren darin, dass sie heute die Möglichkeit haben, auszusteigen. Machte man früher eine Tür hinter sich zu, kann heute jeder kommen und gehen – die jungen Leute sind nicht genötigt, die Regeln dieses Systems zu übernehmen, aber auch nicht, dagegen anzugehen. Das kann dramatische Auswirkungen haben.“

Das Interview erschien in der liberalen Wochenzeitung 168 Óra. Übersetzt und bearbeitet von Rainer Ackermann.


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