Und so las die Regierung mal wieder Brüssel und gleich noch den inländischen „Vaterlandsverrätern“ die Leviten, meldete Jobbik erneut Regierungsansprüche an und kamen die linken Kräfte einmal mehr darin überein, fortan wirklich gemeinsam zu marschieren, um der „bösen Orbán-Regierung“ nun aber endgültig den Garaus zu machen. Sie alle inszenierten sich dabei selbstbewusst als einzig wahre Verkörperer des ‘56er Geistes inklusive daraus abgeleiteter waghalsiger Vermutungen: Die Regierungskritiker würden sich an den Werten von ’56 versündigen, und die berühmten „Pester Jungs“ würden gleich wieder zu den Waffen greifen, wenn sie mitbekämen, wie sich die gegenwärtigen Machthaber gebärden. Alles klar?

Während das Ausland voller Hochachtung an die Ereignisse von vor 60 Jahren erinnerte, und erneut etwas von der großen internationalen Wertschätzung von damals für Ungarn spürbar wurde, ging das würdevolle Gedenken an ’56 in Ungarn selbst im kleinkarierten innenpolitischen Kampf fast völlig unter. Traurig, aber wahr: Ausländische Repräsentanten, die in diesen Tagen bei Begegnungen mit ungarischen Offiziellen natürlich immer wieder ihren Respekt für den couragierten Verzweiflungsakt der ’56-er Revolutionäre in Reden und Gesprächen bekunden, gedenken der ungarischen Revolution würdevoller, als deren unmittelbaren, sich bis aufs Blut streitenden Erben in Ungarn.

Die klare Sicht auf die damalige Revolution wird aber nicht nur von innenpolitischen Interessen und daraus resultierenden kleinlichen, egoistischen Besitzansprüchen bezüglich des Revolutionserbes verstellt und verzerrt, sondern auch von einer anderen Interpretation der Ereignisse von 1956. Wer glaubt, dass nach bald drei Jahrzehnten freier, intensiver Forschungstätigkeit die Triebkräfte und Motive der Revolution sowie die sich daraus ergebenden Handlungen relativ unstrittig wären, ist überrascht, wie wenig das der Fall und wie groß der Interpretationsrahmen noch immer – oder: schon wieder? – bemessen ist.

Freilich spielen auch hier wieder innenpolitische Interessen eine Rolle. Gewisse Kräfte wollen in dem sehr komplexen Ganzen nur die Facetten sehen, aus denen sie größtmögliches aktuellpolitisches Kapital schlagen können und die sich für eine Legitimierung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Konzeption eignen. Alles andere wird mehr oder weniger massiv ausgeblendet. Die Vehemenz, mit der das zuweilen geschieht, lässt wieder einmal erkennen, wie gewaltig die determinierende Kraft der Vergangenheit in Ungarn ist.

Obwohl die Position der Regierung wahrscheinlich um keinen Deut schwächer wäre, wenn sie dem großväterlich blickenden, unfreiwilligen Revolutionsführer Imre Nagy die ihm gebührende Wertschätzung entgegenbringen würde, klammert sie ihn dennoch mit einer Leidenschaft aus, als könnte ihr ein anderes Nagy-Bild irgendwie schaden. Warum kann sie nicht einfach historische Tatsachen ebensolche sein lassen? Was verspricht sie sich davon, wenn sie sich innerhalb der 56er Ereignisse und Akteure so wählerisch bedient wie an einer Salattheke?

Abgesehen von solchen individuellen Präferenzen ist es übrigens generell faszinierend zu erkennen, welche Rolle die Geschichte unter der Oberfläche des sichtbaren Gegenwartsungarn spielen muss. Über eigentlich unstrittige historische Figuren und Tatsachen wird so intensiv gestritten, als würde davon das Prokopfeinkommen oder das Wirtschaftswachstum abhängen. Es ist zwar schön, wenn Völker im vollen Bewusstsein der Höhe- und Tiefpunkte ihrer Geschichte in die Zukunft voranschreiten. Es geht aber – bei allem Respekt für die nationalen Eigenheiten anderer Völker – schon etwas zu weit, wenn – so wie letzten Sonntag – der Diskurs über Tatsachen der Vergangenheit in physische Gewalt in der Gegenwart mündet.

Weitere Informationen zu den Feierlichkeiten am 23. Oktober finden Sie hier.

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