Im Einrichten von Gremien sind Politiker richtig gut. Mit schrillen Medienfanfaren wird deren Gründung verkündet. Große Pläne werden erarbeitet, deren Verwirklichung meist weiter in die Zukunft reicht, als das Gedächtnis der Wähler. Ministerpräsident Viktor Orbán ist unzufrieden mit der Wettbewerbsfähigkeit, bei seinem Freitag-Interview für das öffentlich-rechtliche Kossuth-Radio sagte er, zu allen Zeiten habe es heftige Debatten darüber gegeben, ob die Wirtschaft in die richtige Richtung steuert. Das gehöre unvermeidlich zur Demokratie dazu. Weil Ungarn eine Marktwirtschaft ist, könne die Regierung allein auf sich gestellt keine gute Wirtschaftspolitik machen oder gar die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen – dafür bedarf es einer Übereinkunft mit den Akteuren der Privatwirtschaft.

Die Regierung wolle eine Vereinbarung mit der privaten Wirtschaftssphäre schließen, zu deren wichtigen Elementen die Berufsbildungs- und Lohnpolitik, das Steuersystem, aber als Schlüsselfrage auch die Zukunft der Jugend und das Bildungswesen gehörten. Gemeinsam müsse man die richtigen Lösungen für die korrekt identifizierten, echten Herausforderungen finden. Orbán hält an seinem Traum fest, eine auf Arbeit basierende Wirtschaft zu schaffen, deren markantes Element die Vollbeschäftigung sei. Seine Regierung trat 2010 mit dem Vorhaben an, binnen zehn Jahren eine Million Arbeitsplätze zu schaffen, nach sechs Jahren sind immerhin 665.000 davon Realität.

Wirtschaftsminister Mihály Varga bekam vom Regierungschef den Auftrag, das Wirtschaftswachstum nachhaltig über drei Prozent zu halten. Problemfelder sind für ihn die Produktivität, die Förderung der (einheimischen) Klein- und mittelständischen Unternehmen, die Spannungen am Arbeitsmarkt und damit im Zusammenhang die notwendigen Lohnerhöhungen. Um diese Prozesse auf die richtige Schiene zu lenken, wird nun der Nationale Rat für Wettbewerbsfähigkeit eingerichtet. Also wieder ein Gremium für große Pläne.

Parole nach fünfundzwanzig Jahren veraltet

Eigentlich rennt dieses neue Gremium offene Türen ein, denn wie der Ministerpräsident selbst erkannte, werden die Herausforderungen im Lande „korrekt identifiziert“. So wie Forscher der Budapester Corvinus-Universität bereits im Vorjahr interessante Schlüsse zum Brennpunktthema Produktivität zogen. Die Ökonomen Pál Gervai, András Sugár und László Trautmann wiesen wenig überraschend nach, dass die höchsten Produktivitätszuwächse in Ungarns Volkswirtschaft zwischen 2010 und 2015 durch die Automobilindustrie erbracht wurden. Nur knapp dahinter folgt jedoch bereits die Textilindustrie, deren Produktivitätssprünge jene des Maschinenbaus und der Nahrungsmittelindustrie mehr als doppelt übertrumpften. Zur gleichen Zeit erzielten die Produzenten von elektronischen Erzeugnissen und von Medikamenten praktisch gar keine Produktivitätsgewinne mehr.

Die Forscher konstatierten, die seit der Wende in eine tiefe Krise geratene Textilindustrie erhielt neue Fundamente, die natürlich nicht losgelöst vom Raumgewinn der Automobilindustrie in der ungarischen Volkswirtschaft betrachtet werden können. Vielmehr sind es Kooperationen mit Weltkonzernen, die an ihre Zulieferer höchste Qualitätsanforderungen stellen, die zu einem Anpassungszwang führten. Mit zunehmend qualifizierteren Arbeitnehmern konnte beispielsweise die Bearbeitung hochwertiger Lederbezüge für die Premiumhersteller überhaupt erst gewagt werden. In der Folge legten die Löhne in der Textilbranche sogar noch dynamischer als im Automobilsektor zu (freilich ausgehend von einer deutlich niedrigeren Basis). Die besagte Studie empfiehlt dieses Modell geradeheraus als Ausweg aus den öffentlichen Arbeitsprogrammen, die sich aktuellen Bekenntnissen von Regierungspolitikern gemäß als Sackgasse herausstellen.

Die Ökonomen der Corvinus-Universität weisen anhand des verarbeitenden Gewerbes eine positive Korrelation zwischen Löhnen und Produktivität nach. Weil dies besonders augenscheinlich für die Textilindustrie zutrifft, ist klar, dass die Triebfeder für die Entwicklung dieser Branche nicht länger ein Billiglohn, sondern eine steigende Produktivität ist. Fünfundzwanzig Jahre lang lautete eine Parole der ungarischen Wirtschaftspolitik, als eine Art verlängerte Werkbank des Westens Wirtschaftswachstum zu erzielen, indem sich Ungarn als Billiglohnland verdingte. Nun entfaltet sich ein neues Entwicklungsmodell, bei dem im Interesse der Nachhaltigkeit freilich alle Lohnanstiege durch entsprechende Leistungen unterlegt sein müssen. Die Regierung könne dieses Modell durch zielgerichtete Förderung bestimmter Wirtschaftsbereiche unterstützen. Doch welche sollen das sein?

Wo sehen Experten Reserven?

Professor Attila Chikán stimmt dem mittlerweile auch von der Politik offensiver vertretenen Standpunkt zu, dass die irreal niedrigen heimischen Löhne angehoben werden müssten, doch sieht der erste Wirtschaftsminister der Orbán-Regierung von 1998 vorläufig keine Deckung dafür. Es zähle nämlich nicht nur die individuelle Leistung, sondern beispielsweise auch das Niveau der Arbeitsorganisation. Diese zeige auf gesellschaftlicher wie auch auf innerbetrieblicher Ebene einen außerordentlich niedrigen Wirkungsgrad. So aber summieren sich die Leistungen der Individuen nicht zu einer hochwertigen Gesamtleistung. Wenn man die Gehälter, wie 2002 im öffentlichen Dienst geschehen, ohne Rücksicht auf diese Belange anhebt, kann das den Staatshaushalt über lange Jahre aus den Angeln heben. Professor Tamás Mellár, der frühere Präsident des Zentralamtes für Statistik, verweist auf die Grundvoraussetzung, das Humankapital zu entwickeln, d. h. in Bildung, Gesundheitswesen sowie Forschung und Entwicklung zu investieren, weil Ungarn auf all diesen Gebieten hinter Europa zurückbleibt. Im Endeffekt werden wir qualifiziertere Arbeitskräfte gewinnen, die höherwertige Arbeiten verrichten können. Das bringt automatisch höhere Löhne mit sich.


Kehrtwende in der Förderpolitik

In der Automobilindustrie diktieren multinationale Unternehmen, selbst bei den Zulieferern (neben Textil- und Elektronik- zum Beispiel auch die Gummiindustrie) sind die ersten zwei Ebenen der Wertschöpfungskette überwiegend durch international agierende Gesellschaften besetzt. Experten geben als Antwort High-tech-Industrien, Mobil- und Internettechnologien oder die erneuerbaren Energien an – Letztere aber genießen hierzulande keine Priorität, weil die Energiepreise durch die staatlichen Eingriffe künstlich verzerrt sind und das Kernkraftwerk Paks der Dreh- und Angelpunkt der ungarischen Energiepolitik bleibt. Selbst die Landwirtschaft könnte zu einer Erfolgsbranche Ungarns werden, sofern an Stelle von Rohstoffen hochgradig verarbeitete Erzeugnisse exportiert würden.

In der rauen ungarischen Wirklichkeit geben aber Firmen den Ton an, die nicht mit Innovationsgeist glänzen. Längst ist den für die Wirtschaftsförderung Verantwortlichen im Entwicklungsministerium und im Wirtschaftsministerium aufgefallen, wie sehr sich bestimmte Unternehmenskreise bei Projekten aller Art an die EU-Fördermittel klammern, Firmen, die sich ohne die Geschenke der öffentlichen Hand nicht von der Stelle rühren würden. Der Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, Nándor Csepreghy, hat mit Hinweis auf ein drohendes Ende der Kohäsionsgelder nach 2020 bereits jetzt eine Kehrtwende in der Förderpolitik verkündet. Demnach werden die staatlich gewährten Zuwendungen sukzessive gegen Fördermittel ausgetauscht, die zurückgezahlt werden müssen. Die Orbán-Regierung wolle diesen EU-Haushaltszyklus dazu nutzen, um das Land im wirtschaftlichen Sinne von den Zuwendungen unabhängig zu machen.

Auch Wirtschaftsminister Varga, der seine Worte gewöhnlich sehr mit Bedacht wählt, zeigte sich in jüngster Zeit etwas genervt von der Erkenntnis, dass einfach zu viele geförderte Unternehmen Zuwendungen einsacken, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Die EU-Gelder bremsen den Unternehmergeist aus, die Unternehmen verlernen, Risiken einzugehen, Zinsen, Kredite und ihre Aussichten am Markt real abzuwägen, klagte Varga ausgerechnet bei der Ehrung der besten Vertreter des Wirtschaftslebens auf der TOP200-Gala des Wirtschaftsmagazins Figyelő. Diesen „guten“ Unternehmen dankte er immerhin dafür, dass sie in Bezug auf Beschäftigung und Investitionen die bessere Seite Ungarns zeigten.

Die Regierung möchte 60 Prozent des EU-Förderrahmens bis 2020 in die Wirtschaftsentwicklung lenken. Diese immensen Beträge müssen jenen zugutekommen, deren marktkonforme Tätigkeit nach Möglichkeit auch im internationalen Maßstab vielversprechend ist. Solche Firmen investieren selbstredend in Technologien und holen sich die bestens qualifizierten Arbeitskräfte an Bord, um Erzeugnisse von hoher Wertschöpfung zu schaffen.

Wettbewerb hat sich nicht bewährt

Mag es zutreffen, dass ungarische Unternehmer einfach nicht viel mit Wettbewerb am Hut haben? Schließlich ist es in Ungarn eine Art Volkssport, den Staat übers Ohr zu hauen, Steuern zu prellen und analog dazu in der Wirtschaft Partner über den Tisch zu ziehen. Zu tricksen bringt mehr als fairer Wettbewerb, sagt Péter Tölgyessy und führt diese Einstellung auf die Jahrzehnte des Gulaschkommunismus zurück, in dem allein die strebsamen, aber vor allem cleveren Menschen ihr Glück machten. Der Politologe sieht das Problem darin, dass Orbán einen Kapitalismus nach dem gleichen Muster stricken will. Der globale Kapitalismus, China und Indien sind den Mittelosteuropäern bei ihrem Versuch, zu Westeuropa aufzuschließen, in die Quere gekommen. Nun muss der Ministerpräsident den Bürgern suggerieren, dass es sich doch ganz gut leben lässt in diesem Ungarn – auch wenn es im globalen Wettbewerb nicht eben zu den Siegern gehört.

Wettbewerb ist in bestimmten Fidesz-Kreisen tatsächlich ein Unwort. So sehr, dass Staatssekretär János Fónagy gar nichts Anstößiges an der Regulierung des Energiemarktes fand; schließlich habe sich Wettbewerb nicht einmal in der Wirtschaft bewährt. Das führt folgerichtig zu Ausschreibungen, bei denen wie just in diesen Tagen bei der landesweiten Modernisierung von Abwasserleitungen für insgesamt 420 Mrd. Forint (1,35 Mrd. Euro) ein illustrer Kreis ausgewählter Bieter zum Zuge kommt. Da finden sich ungarische Tochterunternehmen von Multis ebenso wie Spezialfirmen mit großer Tradition und schließlich die „guten Freunde“, die dem jeweiligen Konsortium vermutlich erst dank ihrer Kontakte zum Tendergewinn verholfen haben.

Wo der Auftraggeber vorm Bieter kapituliert

Nicht von ungefähr sind solche Ausschreibungen in der Regel überteuert. So fällt dem Kanzleramtsminister nicht einmal mehr die Diskrepanz auf, wenn er auf einem öffentlichen Forum den Bau einer Umgehungsstraße für seine Heimatstadt würdigt und zwei Minuten später Zahlen über die Autobahnprojekte der nahen Zukunft verliest. Nach den von János Lázár vorgelegten Zahlen erhält Hódmezővásárhely eine (immerhin zur Schnellstraße ausbaufähige) Straße von zwei Mal einer Spur für spezifisch etwas mehr Geld, als Ungarns Regierung gemeinsam mit der EU für 900 Kilometer Autobahnen und Schnellstraßen bis 2021 je Kilometer bereitstellen will. Die Kosten liegen übrigens in jedem Fall über 9 Mio. Euro je Kilometer, doch wissen Ungarnkenner, wie schwierig ein technisch anspruchsvoller Autobahnbau in Ungarn zu bewerkstelligen ist.

Immerhin: Wenn man dieses Beispiel positiv betrachtet, werden sage und schreibe 900 Kilometer in den kommenden Jahren spezifisch weitaus kostengünstiger gebaut, als lapidare 13 Kilometer im Landessüden. Solche positiven Betrachtungen sind beim Tauziehen um die seit Jahren überfällige Modernisierung der akut unfallgefährdeten U-Bahnlinie 3 in Budapest leider nicht mehr anzustellen. In der Endlosschleife einer Tragikomödie hat der Oberbürgermeister der Hauptstadt gerade erst vor den Bauausführungsfirmen kapituliert: Deren Angebote seien dermaßen überzogen, dass die einzelnen Metrostationen halt von der Rekonstruktion ausgeschlossen bleiben müssten. Was soll man dem noch hinzufügen? Vielleicht ein weiteres Beispiel vom Bahnbetrieb.

Wer also mit der Bahn zwischen Budapest und Esztergom pendelt, hat in diesen Wochen wieder mit Schienenersatzverkehr zu rechnen. Der profane Grund: Die Strecke wird nun elektrifiziert. Dabei war sie in den vergangenen fünf Jahren für schlappe 44 Mrd. Forint (knapp 150 Mio. Euro) umfassend modernisiert worden, nur dass halt die Oberleitungen – und die innerstädtischen Streckenabschnitte und, und, und – in diesen Kostenrahmen nicht ganz hineinpassten. Wir sprechen hier von 50 Kilometern Eisenbahntrasse. Da sich Ungarn gerne als lustigste Baracke im sozialistischen Lager und nicht nur unter der Hand gleichzeitig als effizienteste „Planwirtschaft“ ausgab, sei nur nebenbei erwähnt: Die ostdeutsche Deutsche Reichsbahn elektrifizierte binnen fünf Jahren rund eintausend Kilometer Bahnstrecken. Damit war das moderne Streckennetz glattweg verdoppelt worden. Man schrieb das Jahr 1986.

Wenn die ungarischen Oligarchen nicht bereit sind, das nebenbei mitgenommene Geld in gescheite, ja vielleicht sogar innovative Investitionsobjekte zu stecken, eventuell Arbeitsplätze zu schaffen, die dann auch noch anständig bezahlt werden, wird es schwierig, auf Volkswirtschaftsebene mehr Effizienz ins Getriebe zu bringen. So aber wird Ungarn seine Abhängigkeit von den multinationalen Unternehmen weiter als Bürde (mit mehr oder minder genehmen Nebenwirkungen) mit sich herumschleppen.

Beispiel für Ineffizienz – Wohnpark Ócsa

Ein krasses Beispiel für verschleuderte Ressourcen ist der Wohnpark Ócsa, der 2011 für gestrandete Devisenkreditnehmer angelegt wurde. Die wenig schmucken Standardhäuser sollten Familien aus allen Landesteilen beherbergen, die ihr Heim verloren, weil sie den Kredit in der Krise nicht länger bedienen konnten. Ein rührendes Anliegen der Regierung, an dem sich manche Leute eine goldene Nase verdienten. Denn der Staat kaufte ein Gelände von 66 Hektar an, auf dem ursprünglich 500 Häuser entstehen sollten. (Nach fünf Jahren wurde das Projekt jetzt eingestellt; letztlich wurde nur eine Bauphase verwirklicht.) Insgesamt 80 Einfamilienhäuser wurden für 2,7 Mrd. Forint erbaut und anschließend vermietet. Das sind knapp 34 Mio. Forint oder 110.000 Euro je Haus, wofür man in den meisten Gegenden, aus denen die Familien nach Ócsa verfrachtet wurden, gleich mehrere Häuser hätte kaufen können. Oder man hätte die Leute für das gleiche Geld in moderne Mehrfamilienhäuser stecken können, von denen in Budapest halt wegen der Krise genügend leer standen – da hätte man wenigstens Infrastruktur und Arbeitsgelegenheiten vor der Tür gehabt, Dinge, die in Ócsa Fremdwörter sind.

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Foto: MTVA

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