„Was verbindet Sie mit Ungarn? Welche Besuche, welche Begegnungen?

Ich war 1989 Vizepräsident der EDU, der Vorläuferin der Europäischen Volkspartei. Der Generalsekretär hieß damals Andreas Khol. Mit ihm bin ich 1990, als das möglich wurde, in Ungarn zu Besuch gewesen. Damals auch als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich habe mit allen politischen Initiativen, die es damals gab, Verbindung aufgenommen. Am intensivsten mit dem MDF-Vorsitzenden und späteren Ministerpräsidenten József Antall. Bei diesem Besuch habe ich aber auch Viktor Orbán kennengelernt. Seit 1990 bin ich regelmäßig, sei es als Ministerpräsident von Thüringen, sei es als Vorsitzender oder heute als Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, in Ungarn gewesen. „

Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre erste Begegnung mit Herrn Orbán?

Unvergesslich bleibt, dass er mir im ersten Gespräch als besonderes Markenzeichen seiner Partei die Entscheidung nannte, niemand dürfe älter als 35 Jahre sein, wenn er eine Position in der Partei bekleiden will.

„Daran dürfte er sich heute wahrscheinlich nicht mehr so gern erinnern…

Ja, die Zeiten ändern sich. Aber damals war er ja noch weit unter 35. „

Hat der Titel Ihres Buches etwas mit einem gewissen Mangelzustand zu tun?

Die Idee ist geboren worden, als man im Zusammenhang mit den heftigen Auseinandersetzungen um den Neubau des Bahnhofs in Stuttgart von Wut-Bürgern sprach. Darunter verstand man Protest, Ablehnung und Gegen-etwas-sein. Da haben wir die Initiative ergriffen und gesagt: „Deutschland braucht nicht Wut-Bürger, sondern mutige Bürger!“ Also Mut-Bürger. Wut-Bürger sind eine Abart von Mut-Bürgern, weil sie egoistisch sind, während sich mutige Bürger verantwortlich für das Ganze fühlen. „

#

„Das Dilemma ist, dass wir einerseits als christliche Partei ganz selbstverständlich notleidenden Menschen helfen müssen, und dass wir uns andererseits nicht überfordern dürfen. Dieses Dilemma ist nicht so einfach aufzulösen.“

Und von diesen mutigen Bürgern gibt es zu wenig?

Ja natürlich, es gibt grundsätzlich immer zu wenig mutige Bürger. In Deutschland gibt es auf jeden Fall zu wenige. Vielleicht trifft das auch für andere Länder, vielleicht sogar für Ungarn zu. „

Woran liegt das?

Der eigentliche Grund für den Mangel an mutigen Bürgern ist, dass zu wenige verstehen, dass Demokratie nicht nur heißt, in Freiheit und möglichst auch in wachsendem Wohlstand zu leben, sondern auch, sich zu engagieren, Hand anzulegen und die Ärmel hochzukrempeln. All das verbindet sich zu wenig mit der Sympathie, die die Staaten Europas grundsätzlich mit der Demokratie verbindet.

„Um mutig zu sein, braucht man Leute mit Rückgrat. Insbesondere in Ihrer Sphäre, also der Sphäre der Politik, sehe ich davon immer weniger, auch innerhalb der CDU.

Dem möchte ich aus meiner Erfahrung widersprechen. Dieselben Klagen gab es immer. Wenn es heute in Deutschland heißt, alles ist Merkel… Als ich meine ersten Schritte in der Politik tat, hieß es, dass alles Adenauer sei. Und später habe ich erlebt, dass es hieß, alles sei Kohl. Oder alles sei Willi Brandt. Das ist nicht neu, dass eine Partei mit ihrer Führungsfigur identifiziert wird. Das gibt es in Deutschland seit 1949. „

Auch in einer so extremen Ausprägung wie heute?

Ja. Parallel wurde aber auch immer wieder auf die Risiken und Gefahren einer zu starken Konzentration auf eine Führungsperson hingewiesen. Auch das ist nicht neu. „

In der Ära Kohl gab es etliche markante CDU-Politiker. Ich könnte Ihnen sofort etliche vom Schlage eines Heiner Geißler oder Kurt Biedenkopf aufzählen. Heute hätte ich da meine Probleme…

Übrigens, nur nebenbei bemerkt, mancher hat den Eindruck, in Ungarn gäbe es nur Orbán. „

Dahinter verbirgt sich eher ein grundsätzliches Problem der vereinfachenden Auslandsberichterstattung. Auch in Ungarn kommt natürlich Kanzlerin Merkel deutlich häufiger in der Deutschland-Berichterstattung vor als andere deutsche Politiker.

Aber zurück zu Ihrer Frage. Sie haben insofern Recht, dass beispielsweise die Riege der deutschen Ministerpräsidenten in der Vergangenheit häufig der Teich war, aus dem die Fische geangelt worden sind. Heute stellen wir als Union nur noch sehr wenige Ministerpräsidenten. Insofern hat sich da eine Verschiebung ergeben. Aber denken Sie nur an die Person von Norbert Lammert, unseren Bundestagspräsidenten, der sich in der ganzen Bundesrepublik höchster Sympathie und Anerkennung erfreut. Oder denken Sie an den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, der sich durch das Wagnis einer ersten schwarz-grünen Koalition in einem großen Flächenland in der Tat großer Sympathien erfreut. Oder an die Ministerpräsidentin des Saarlands, Annegret Kramp-Karrenbauer. Oder auch an Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz. Auf keinen Fall darf man Wolfgang Schäuble vergessen, der inzwischen ja nicht nur ein großer Name, sondern auch eine Institution geworden ist. „

Ja, das ist auch einer von der alten Garde markanter CDU-Politiker, auf die ich zuvor anspielte… Aber wie geht es jetzt mit der CDU weiter? Wird sie wieder an konservativem Profil gewinnen? Wie viele Wahlniederlagen braucht die CDU noch und wie viele Wähler müssen sich noch zur AfD verabschieden, bis es in Ihrer Partei zu einer Kurskorrektur kommt?

Zunächst einmal sind AfD-Wähler Protestwähler. Es geht ihnen mehr darum, Denkzettel in Richtung der einen oder anderen Partei zu verteilen, als sich gleich mit dem Programm und der Führungsriege der Partei zu identifizieren. Aus den Wählern lässt sich also nicht klar auf die Entwicklung der Partei schließen. Das wird sich erst in den nächsten Jahren entscheiden, wenn man das Profil der AfD tatsächlich erkennen kann. Wenn man erkennt, wie sie sich etwa in den zehn Landtagen, in denen sie bis jetzt vertreten ist, politisch verhält. In Thüringen scheint gerade eine AfD-Fraktion schrittweise zu zerfallen. Das muss sich alles erst herausbilden. Es ist noch verfrüht, belastbare Aussagen zu treffen. „

#

„Wir müssen bestehende Probleme innerhalb der EU regeln und nirgends sonst.“

Ja, aber wie geht es mit Ihrer CDU weiter?

Das Dilemma ist, dass wir einerseits als christliche Partei ganz selbstverständlich notleidenden Menschen helfen müssen, und dass wir uns andererseits nicht überfordern dürfen. Dieses Dilemma ist nicht so einfach aufzulösen. Das ist ein Grund, warum wir gegenwärtig eine lebhafte Diskussion in der CDU und mit unserer Schwesterpartei CSU haben. Dass das nicht nur Sympathie bei der Wählerschaft findet, ist richtig. Ich gehöre allerdings zu denen, die sagen, natürlich will eine Partei Wahlen gewinnen. Aber bitte nicht um jeden Preis. Das eigene Profil ist mindestens ebenso wichtig, wie das Wahlergebnis am Wahltag. Im Übrigen führen große Koalitionen immer dazu, dass sich die großen Parteien in ihrem Profil einander annähern. Deswegen bin ich entschieden der Meinung, es muss alles getan werden, um nach den kommenden Bundestagswahlen die Bildung einer erneuten großen Koalition zu verhindern. Österreich lässt aus der Ferne grüßen.

„Die konservativen Wähler müssen sich also noch bis zu den Bundestagswahlen gedulden?

Die beiden Volksparteien müssen sich in ihrem Profil wieder deutlicher voneinander unterscheiden. Diese Unterscheidung ist zu gering geworden. Wenn die Unterschiede nicht mehr groß genug sind, dann ist die Gefahr, dass man gar nicht zur Wahl geht, oder halt Denkzettel verteilt, sehr hoch. Es muss natürlich schon vor der Wahl ein Klärungsprozess einsetzen. Selbstverständlich kann man so nicht in den Wahlkampf gehen. Diese Klärung wird auch eintreten. Nur der Klärungsprozess ist mit dem Wahltag nicht beendet. „

Die Krise der CDU hat vor allem etwas mit den Weichenstellungen und der Positionierung der Kanzlerin in der Migrationskrise zu tun. Viele können Merkels Position nicht nachvollziehen. Wie soll es hier weitergehen?

Also zunächst einmal, indem man aus dieser Diskussion keinen Schaukampf vor der Öffentlichkeit auf dem Balkon des Hauses macht, sondern indem man, wenn man sich streitet, die Fenster zumacht und erst wieder öffnet, wenn man sich geeinigt hat. Und zweitens, indem man in der Tat den Mut hat, sich dazu zu bekennen, dass unser Grundrecht das Recht auf Asyl einräumt. Nicht zuletzt auf der Grundlage unserer Geschichte. Und dass man dieses Asylrecht nicht begrenzen kann. Man kann die Zahl der Flüchtlinge begrenzen, man kann aber keine Obergrenze für das Asylrecht setzen. „

Man könnte aber zumindest die Missbräuche des Asylrechts eindämmen.

Ja, wenn die Verhältnisse so sind, dass man das kann. Aber die Verhältnisse waren etwa im Sommer 2015 am Budapester Ostbahnhof alles andere als einwandfrei. „

Wie könnte ein tragfähiges Modell aussehen?

Also zunächst einmal ist Herrn Asselborn eine klare Absage zu erteilen. Wir müssen bestehende Probleme innerhalb der EU regeln und nirgends sonst. Außerdem sind wir ja wohl in den wesentlichen Fragen einer Meinung. Erstens müssen in den Quellenländern der Flüchtlingsbewegung wieder geordnete Verhältnisse geschaffen werden. Zweitens muss den Aufnahmeländern der Flüchtlingsbewegung wie etwa der Türkei und dem Libanon geholfen werden. Drittens müssen die Außengrenzen der EU gemeinsam gesichert werden. Wenn wir Schengen wollen, dann müssen wir die Außengrenzen sichern. Das kann man nicht allein den Griechen und Italienern überlassen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Viertens müssen wir in der Lage sein, den wirklich an Leib und Leben bedrohten Bürgern in Europa Aufnahme zu gewähren. Nicht durch Quotenstreit, sondern durch Menschlichkeit. „

Das sind alles Punkte, die auch Orbán unterschreiben könnte.

Die ersten drei ganz sicher. „

Meiner Meinung auch den vierten.

Da habe ich so meine Bedenken. „

Auf jeden Fall kostet es eine gewisse Zeit, bis diese vier Punkte Wirkung zeigen. Bis dahin brauchen wir Notlösungen. Wie zum Beispiel den ungarischen Zaun, der für eine große deutsch-ungarische Verstimmung gesorgt hat. Österreichs Bundeskanzler Kern hat jüngst in einem Interview dem ungarischen Zaun positive Anerkennung gezollt. Wann wird man solche Töne auch von Bundeskanzlerin Merkel hören?

Man möge bitte dafür Verständnis haben, dass Deutsche Probleme mit dem Errichten von Mauern und Zäunen haben. Das gilt für die Grenzbefestigung zwischen den USA und Mexiko, und das gilt auch für die Grenzen von Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. „

#

Gäbe es nicht den ungarischen Grenzzaun und all die Zäune, die danach entstanden sind, hätte Deutschland jetzt ein deutlich größeres Problem. Eine gewisse positive Anerkennung oder gar ein Dank wären hier keine übertriebene Erwartung.

Das müssen Sie den heutigen österreichischen Bundeskanzler fragen. Der vorige hat noch ganz anders geredet. „

Ich frage jetzt aber Sie als Vertreter der bundesdeutschen Politik.

Wir haben nicht die Absicht, in diesem Fall Österreich zu folgen. Es ist Sache der Österreicher, über Österreich Aussagen zu treffen. Aber nicht von uns. „

Solange der ungarische Grenzzaun von der Merkel- und von der Orbán-Regierung so unterschiedlich bewertet wird, stellt dies eine Belastung der deutsch-ungarischen Beziehungen dar!

Was ist jetzt bitte Ihre Frage? „

Wie kann man vernünftig miteinander umgehen, wenn die offizielle deutsche Politik nach wie vor die Existenz des ungarischen Grenzzauns vehement ablehnt?

Wenn man unterschiedliche Meinungen hat, muss man sich mit der Meinung des anderen auseinandersetzen. Man kann nicht den Kompromiss schließen, das eine ist richtig und das andere ist falsch. „

Was hätte Ungarn im letzten Jahr tun sollen?

Es ist nicht meine Aufgabe, Herrn Orbán Ratschläge zu erteilen oder ihn zu verteidigen. „

Wenn man etwas kritisiert, dann muss man auch sagen, was man hätte stattdessen machen sollen.

Jedenfalls keine Mauern und Zäune bauen. „

Was dann?

Ich bitte noch einmal um Verständnis, Deutsche haben Probleme, es zu begrüßen, wenn Mauern gebaut oder Zäu ne errichtet werden. Das gilt für Israel, das gilt für die Vereinigten Staaten. Und das gilt auch für EU-Mitgliedsstaaten. „

Wie soll es mit der EU nach dem Brexit weitergehen?

Ich bedaure das Ergebnis der Abstimmung in Großbritannien zutiefst. Ich halte das für einen großen Fehler und für das übrige Europa für einen großen Schaden, weil wir durch den Austritt Großbritanniens einen wichtigen starken und handlungsfähigen Partner in der EU verlieren. Wir müssen an den Zielen und Aufgaben der EU festhalten. Wir dürfen nicht einfach so weitermachen. Wir müssen die Europäische Union einer Revision unterziehen, mit dem Ergebnis, dass manches, was gegenwärtig in Brüssel entschieden wird, besser in den Einzelstaaten entschieden werden sollte. Und anderes, was gemeinsam entschieden werden sollte, beispielsweise in der Sicherheits- und Außenpolitik, in Brüssel entschieden werden muss. Es muss die Frage geklärt werden, wieviel Gemeinsamkeit und wieviel Eigenständigkeit die EU vertragen kann. Eine Revision ist notwendig. Aber Europa als Insel des Friedens- und als Hoffnungsträger für die Zu kunft zu sehen, daran sollte sich nichts ändern. „

Sollte nicht auch der Umgangsstil miteinander überdacht werden?

Wir sprechen gerne und mit Recht von den gemeinsamen Wurzeln, die alle Mitgliedsstaaten der EU haben. Aber wir sprechen heute zu wenig von der unterschiedlichen Lebenswirklichkeit. Darüber muss mehr gesprochen werden. So etwa auch darüber, wie wir die Lebensverhältnisse aneinander angleichen können. Allein aus der Berufung auf die gemeinsamen Wurzeln kann man zwar Ermutigung ziehen, aber nicht die Lösung der vielen Probleme. Das muss sich ändern, sonst wird Europa zwar eine gemeinsame Vergangenheit, aber keine gemeinsame Zukunft haben.

Der CDU-Politiker Bernhard Vogel (1932) war von 1976 bis 1988 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und von 1992 bis 2003 des Freistaats Thüringen. Unter seinen zahlreichen hohen Auszeichnungen, sei in diesem Zusammenhang lediglich das Großkreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn erwähnt, das er 2012 erhielt.

Bernhard Vogel in seinem Buch

„Mutige Bürger braucht das Land“ über Angela Merkel

„Frau Merkel wird überwiegend mit dem Kopf gewählt, Kohl wurde überwiegend mit dem Herzen gewählt.“

„Ich würde ihre Fähigkeiten nicht unter den Begriff Charisma bringen. Wenn Sie so wollen: Das Gegencharisma macht sie anziehend. Also beispielsweise ihre Fähigkeit, durch eine absolut unauffällige Kleidung jede Debatte über ihre Kleider zur Seite zu schieben.“

„Ihr Charisma ist das völlige Anderssein. Gerade in ihrer uns Deutschen ungewohnten Unaufgeregtheit, Nüchternheit, Sachlichkeit, Verstandesgeleitetheit ist sie besonders. Das hatten wir noch nicht.“

Konversation

WEITERE AKTUELLE BEITRÄGE
Regierungsbeschlüsse

Ende für Transitzonen

Geschrieben von BZ heute

Am kommenden Dienstag reicht die Regierung jene Vorlage im Parlament ein, mit der sie um die…

Im Gespräch mit Columbo, Frontmann der Band Irie Maffia

Musik in der Quarantänezeit

Geschrieben von Péter Réti

Vor 15 Jahren wurde die ungarische Band Irie Maffia gegründet. Die Budapester Zeitung sprach mit…

Brettspielverleih „Játszóház Projekt”

Lasset die Spiele beginnen!

Geschrieben von Elisabeth Katalin Grabow

Gezwungenermaßen verbringen viele Menschen heute mehr Zeit daheim. Da wird die Suche nach neuen…