Neusten Umfrageergebnissen des Republicon Instituts zufolge, würden 54 Prozent der repräsentativ Befragten am Sonntag zur Wahl gehen. Der Wert, darauf weisen auch die Fertiger der Studie hin, sollte aber niemanden in die Irre führen. Erfahrungsgemäß gehen weniger Menschen zur Wahl, als ihre Teilnahme vorher angekündigt haben. Nun braucht es für den Erfolg des Referendums nicht nur eine entsprechende Zahl an Wählern, sondern – und dies ist entscheidend – auch eine entsprechende Zahl an gültigen Stimmen. Und hier lassen die Zahlen zarte Hoffnungen für Referendumsgegner sprießen. Elf Prozent der Befragten gaben an, ungültig stimmen zu wollen, von den sicher zur Wahl Gehenden, sind dies jedoch nur zwei Prozent. Mit einer erdrückenden Mehrheit werden die „Nein”-Stimmen überwiegen, das steht fest, denn einzig die liberale Partei um Polit-Chamäleon Gábor Fodor ruft zu einem „Ja” auf dem Stimmzettel auf. Es gibt aber eine Bevölkerungsgruppe, die die Wahl noch maßgeblich beeinflussen könnte und nun auch von der Regierung entdeckt wurde: die Roma.

„Wir müssen doch auch von etwas leben”

Tatsächlich hat Kanzleramtschef János Lázár das Thema erst vor zwei Wochen aufs Tapet gebracht. Die Begründung, nämlich dass die Ressourcen für Sozialausgaben beschränkt seien und deswegen Kürzungen anstünden, sollten Flüchtlinge nach Ungarn kommen, verfängt, das ist klar. Insbesondere bei alten schlecht informierten Menschen trifft die Aussage Lázárs voll ins Schwarze.

Júlia ist 38, sieht aber wesentlich älter aus. Ausgeblichene Tätowierungen, Arbeiterhände und drei Kinder, das ist Júlia. Sie lebt im Lyukóvölgy, dem ehemaligen Bergbaugebiet der einstigen Arbeiterstadt Miskolc. Das Lyukóvölgy liegt an der Grenze der ostungarischen Stadt Miskolc und ist zu weiten Teilen nicht mehr die einstige Schrebergartenkolonie, sondern das Armenhaus der Stadt. Und hier lebt Júlia. Nein, sie gehe nicht zur Wahl, warum auch. Aber Migranten sollen bloß auch nicht kommen, „wenn die kommen, dann bricht hier Krieg aus, die vergewaltigen und morden”. Woher sie das wisse, fragen wir. „Aus dem Fernsehen”.

Lajos trägt die Haare länger, sein Blick ist wach und offen. Natürlich müsse man Menschen aus Kriegsgebieten aufnehmen, solange in ihrem Heimatland Krieg herrsche. Zur Wahl gehe er aber nicht, er will sich nicht von der Regierung instrumentalisieren lassen: „Die Politiker versuchen immer über die Stimmen zu bekommen, die günstig zu haben sind.”

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Die Gyurcsány-Partei DK ruft zum Boykott und Daheimbleiben auf.

„Mir persönlich tun die Kinder ja leid, aber trotzdem will ich nicht, dass die Migranten hierher kommen”, erklärt eine Rentnerin, die eben ihre Obstbäume beschneidet. Ob sie denn am 2. Oktober zur Wahl gehen werde. Ganz bestimmt, sagt sie. Ansonsten würde ja auch der Rentenzuschuss wegfallen. Gemeint ist eine einmalige Zusatzzahlung von 10.000 Forint, die über einen Antrag bei der Kommunalverwaltung von Miskolc beantragt werden kann. Zoltán Tyetyák, Roma-Aktivist, erklärt, dass dies keinesfalls zusammenhänge, aber die gärtnernde Dame habe das im Fernsehen gehört und will lieber nichts riskieren. Generell ist Geld eine wichtige Frage, ihre beiden erwachsenen Söhne haben mal Arbeit, und mal nicht, „was, wenn jetzt auch noch denen, also Migranten, Geld vom Staat gezahlt wird, was bleibt dann für meine Kinder?”

„Mir tun die Menschen ja leid, aber…”

Ein paar Dörfer weiter in Harsány steht Éva hinter dem Pult der hiesigen Dorfkneipe. Sie wirkt gut informiert, belesen, ihre Meinung vertritt sie freundlich, aber nachdrücklich: „Bloß, weil wir hier auf dem Land leben, heißt das nicht, dass wir keine Nachrichten lesen würden. Hier gibt es ganz genauso Internet, wir können uns ebenso informieren.” Natürlich gehe sie am 2. Oktober zur Wahl, immerhin gehe es „um die Zukunft meiner Enkel”. Erneut fällt der Satz, der fast immer zu hören ist: „Mir tun die Menschen ja leid, aber…”.

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Die Liberalen fordern dazu auf, mit "Ja" zu stimmen.

Das „aber” öffnet dann Tür und Tor für sämtliche Ängste, die es eben zu verbalisieren gilt. Und hier liegt auch das Geheimnis des Erfolgs der Regierungskampagne, die einzig auf Ängste baut. Den Ärmsten der Armen eine Kürzung der Bezüge in Aussicht zu stellen, wenn Flüchtlinge in Ungarn untergebracht werden? Natürlich erhitzt das die Gemüter, selbst in Regionen, in denen die Menschen Migranten und Flüchtlinge nur aus dem Fernsehen kennen. Generell ist die hohe Arbeitslosigkeit unter schlecht ausgebildeten Ungarn und die damit einher gehende Armut der Nährboden für Ängste aller Art, die nun, durch die Regierung angeheizt eben auf Migranten projiziert werden.

Doch auch in der Hauptstadt ist das Stimmungsbild keineswegs einheitlich. „Ich gehe nicht zur Wahl”, sagt Petra. Generell ist sie gegen die Quotenregelung, weiß aber auch, dass die Abstimmung keinerlei Auswirkungen auf die Politik haben wird und das es hier mehr um innenpolitische Meinungsmache, denn um wirkliche Meinungsäußerung geht. „Außerdem: Selbst wenn ich zur Wahl gehe, wer garantiert mir denn, dass meine Stimme nicht gefälscht wird? Wenn ich einmal im Wahlregister unterschrieben habe, kann ich doch trotzdem nicht sicher sein, dass meine Stimme auch so wie abgegeben gezählt wird.” Also geht sie lieber gar erst nicht zur Wahl.

Jobbik-Chef Vona: „Referendum lenkt von innenpolitischen Themen ab“

Einer, der sich in dem Stimmungschaos zurücklehnen könnte, ist Gábor Vona. Der Parteivorsitzende der rechten Jobbik sieht das Referendum jedoch ebenfalls kritisch. Eigentlich ginge es hier um Innenpolitik, denn solange die Regierung das Thema Migranten auf der Tagesordnung halte, bliebe kein Platz für innenpolitische Themen wie beispielsweise das marode Gesundheitssystem. Wie er die Kampagne generell bewerten würde: „Sehen Sie, vieles, was der Fidesz in Sachen Migrationspolitik tatsächlich umsetzt, haben wir ein halbes oder gar ein Jahr vorher bereits vorgeschlagen, so war es auch mit dem Zaun.” Generell könnte man fast sagen, der Fidesz mache Jobbik-Politik. Wie sehr diese Strategie der größten Oppositionspartei auf Dauer zusetzen wird, ist fraglich. Fest steht vorerst, auch die Jobbik ruft zu einem Nein beim Referendum auf.

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Derweil versuchen die linken Oppositionsparteien mehrheitlich, ihre Sympathisanten zum Boykott zu bewegen. Allen voran Péter Juhász von der Együtt-Partei. In einem Facebook-Post erklärt er, warum er den Boykott für die richtige Wahl hält: „Ich glaube, der Fidesz ist zu allem imstande. Ich erfahre das am eigenen Leib. Ich denke, es gibt unter ihnen (den Fidesz-Anhängern - Anm.) auch solche, die alles dafür tun würden, dass das Referendum gültig wird. Einfach alles! (…) Und genau solche Menschen könnten als Delegierte neben den Wahlurnen sitzen.”

Der Blog kettős mérce widerspricht jedoch solchen und ähnlichen Gedankenspielen. Denn tatsächlich scheint das Wahlsystem relativ schwer auszuspielen sein, sofern nicht alle Beteiligten involviert sind. Die Rückkopplungen und doppelten Sicherungen sollen nämlich genau solche Manipulationen verhindern, vor denen sich unter anderem auch Péter Juhász fürchtet. Denn die abgegebenen Stimmzettel müssen zahlenmäßig konstant bleiben, über mehrere Instanzen hindurch. Zettel herauszunehmen oder hineinzuschleusen, um aus Boykott- kurzerhand Referendumswähler zu machen, sei aber nicht nur riskant, sondern auch recht aufwendig, so sieht es jedenfalls der Autor. Doch egal, ob nun gefälscht wird, oder nicht. Immerhin lässt es deutliche Schlüsse auf die Stimmung im Land zu, wenn Menschen schon allein die Möglichkeit der Wahlfälschung ernsthaft in Betracht ziehen.

Am Sonntag sind mehr als acht Millionen Ungarn dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Derzeit ist keineswegs gewiss, ob das erforderliche Quorum von 50 Prozent gültig abgegebener Stimmen erreicht wird.

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Wahlplakat der Satirepartei "Partei des zweischwänzigen Hundes": "Wer gegen sie ist, ist für uns"

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