Mit 5,3 von 10 möglichen Punkten bei der Bewertung ihrer Lebenszufriedenheit, liegen die Ungarn laut des Better Life Index der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter dem Durchschnitt der OECD-Länder, der bei 6,5 Punkten liegt. Ungarn belegt damit in der Rangliste der zufriedensten Nationen den 36. Platz, gefolgt nur noch von Portugal und Südafrika. Man könnte nun davon ausgehen, dass diese Unzufriedenheit vor allem mit weiteren im Better Life Index veröffentlichten Zahlen zusammenhängt. Da wäre zum einen die unterdurchschnittliche Erwerbstätigenquote in Ungarn von 62 Prozent im Vergleich zu 66 Prozent im OECD-Durchschnitt sowie das geringere Pro-Kopf-Einkommen. Während im OECD-Durchschnitt 29.016 US-Dollar pro Jahr zur Verfügung stehen, sind es in Ungarn gerade einmal 15.614 US-Dollar.

Doch hört man sich unter Ungarn und Menschen, die sich mit dem Land auskennen, um, dann sind diese Faktoren zwar mitverantwortlich für das geringe Wohlbefinden der Nation, denn sie helfen Existenzängste und Sozialneid zu schüren, doch mindestens genauso wichtig sei die grundsätzliche Lebenseinstellung. Diese wird vornehmlich als negativ eingeschätzt, geprägt von Egozentrismus, Melancholie und Verbitterung. Das kollektive Leiden fußt dabei unter anderem auf Ereignissen, die teilweise bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. „Wir haben schon alle Katastrophen erlebt, für alle nationalen Sünden gebüßt, alles verloren, worauf wir stolz waren”, so erklärt es Reinhold Vetter in seinem Buch „Ungarn: Ein Länderporträt” (2012).

Historische Ereignisse haben Auswirkungen auf heutiges Wohlbefinden

Allein in den letzten 100 Jahren hat Ungarn aufgrund von Niederlagen im Ersten Weltkrieg (damals noch als Teil von Österreich-Ungarn) sowie im Krieg gegen Rumänien den Verlust eines Großteils seines Staatsgebietes zu beklagen. Zudem kostete der Zweite Weltkrieg aktuellen Schätzungen zufolge über eine Million Ungarn das Leben, während die Hauptstadt Budapest durch die mehrmonatige Belagerung stark zerstört wurde. Die im Zuge der Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland zurückerworbenen Gebiete musste Ungarn 1946 wieder abtreten.

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Wer regelmäßig Yoga macht, wie hier über den Dächern von Budapest, der tut nicht nur seinem Körper, sondern auch seinem Geist etwas Gutes. (Foto: Nóra Halász)

Auf Krieg und Territorialverlust folgte die jahrzehntelange und teilweise höchst brutale Unterdrückung durch die Sowjetunion, die erst 1989 mit der Ausrufung der Ungarischen Republik beendet wurde. Verwunderlich ist: Zwei Drittel der ungarischen Bevölkerung sehen sich noch heute „als Verlierer dieses Systemwechsels”, so Vetter in seinem Buch.

Auch der EU-Beitritt Ungarns 2004 brachte nicht die Verbesserung des Lebensstandards, die sich laut Eurobarometer, einer Meinungsumfrage der EU-Kommission, ein Großteil der ungarischen Bevölkerung davon erhofft hatte. Während der Export zwar deutlich anstieg, blieben die Reallöhne auf demselben Niveau wie vor dem Beitritt beziehungsweise sanken in einigen Jahren sogar. Die Enttäuschung darüber und die darauffolgende Desillusionierung beförderte die Verunsicherung und pessimistische Grundhaltung der Bevölkerung noch weiter.

Faszination für eine leidende Nation

Ein Mann, der trotz oder genau wegen dieser Negativmentalität vom Ungarischen Volk fasziniert ist, ist Paul Pahil (46). Der aus einer indischen Familie stammende Brite kündigte 2004 seinen Job bei der britischen Regierung, verkaufte sein geräumiges Haus und seinen BMW-Sportwagen, trennte sich von einem Großteil seiner Besitztümer und zog von London nach Budapest. „Ich suchte nach einer neuen Herausforderung und spürte, dass die Menschen hier extra Kraft benötigten, um mit all den Veränderungen nach dem EU-Beitritt umzugehen”, so Pahil. Bereits in den ersten Tagen nach seiner Ankunft fiel ihm auf, wie sehr die Menschen mit sich selbst beschäftigt waren und wie wenig Gemeinschaftssinn vorhanden war. Viele Leute seien verwundert darüber gewesen, warum er ausgerechnet nach Ungarn gekommen war. Sie sagten ihm, es sei kein guter Ort zum Leben.

„Durch die Verbreitung der Positiven Psychologie wollte ich ihnen dabei helfen, mehr Optimismus und Resilienz zu entwickeln”, erklärt Pahil. Kaum angekommen gründete er daher die Beratungsfirma „Hungry 4 Learning“, die Unternehmen und Privatpersonen die Wissenschaft der Positive Psychologie näherbringen will. Zehn Jahre später, 2014, organisierte Pahil die erste „Happiness Week” in Budapest, eine Woche voller kostenfreier Vorträge und Workshops, die Interessierte dazu inspirieren soll, eine positivere Zukunft für sich und ihre Mitmenschen zu kreieren. In diesem Jahr ging die Happiness Week bereits in die dritte Runde und wurde vom 10. bis 17 September von über 2.500 Menschen besucht, die dort beispielsweise Vyāyāma-Yoga ausprobierten, an interaktiven Spielen teilnahmen und erfuhren, was Neurowissenschaftler in den letzten Jahren über das Glücksempfinden herausgefunden haben.

Ausgerechnet ein Ungar gilt als Mitbegründer der Positiven Psychologie

Das Konzept der Positiven Psychologie, dies sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, wurde übrigens ausgerechnet von einem Ungarn maßgeblich geprägt. Der 1934 geborene Mihály Csíkszentmihályi, der während des Zweiten Weltkrieges in einem italienischen Gefängnis saß, emigrierte im Alter von 22 Jahren in die USA und erlangte dort 1965 an der University of Chicago seinen Ph. D in Psychologie. Während seiner Inhaftierung fiel Csíkszentmihályi auf, wie sehr ihm konzentriertes Schachspielen dabei half, seine miserablen Umstände auszublenden.

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„Glück ist sehr subjektiv“, sagt Paul Pahil. Viel wichtiger sei „ein generelles Wohlbefinden.“

Dieser Zustand, den er später als „Flow” oder auch „in the zone” bezeichnete, wurde ihm Jahre später erneut beim Malen bewusst und er begann Nachforschungen anzustellen. Anfang der Neunziger veröffentlichte Csíkszentmihályi das Buch „Flow: The Psychology of Optimal Experience“, in dem er seine Theorie darlegt, wonach Menschen dann am glücklichsten sind, wenn sie ihre Konzentration vollständig auf eine Sache richten. Der bekannte amerikanische Glücksforscher Martin Seligman bezeichnete Csíkszentmihályi im Jahr 2000 als den weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Positiven Psychologie. Elf Jahre später erhielt Csíkszentmihályi den Széchenyi-Preis für seinen außerordentlichen akademischen Beitrag.

Auch hier ist wieder eine gewisse Ironie und gleichzeitig Tragik im Spiel: István Széchenyi (1791-1860), der legendäre ungarische Staatsmann, nach dem der Preis benannt wurde, litt zeitlebens an Depressionen und nahm sich mit 68 Jahren schließlich das Leben. Seinem Beispiel folgten weitere ungarische Persönlichkeiten wie der hochverehrte Dichter Attila József (1905-1937) und der Schauspieler Zoltán Latinovits (1931-1976). Auch der ungarische Pianist und Komponist Rezső Seress (1899-1968), der 1933 mit dem von Stars wie Billie Holiday gesungenen „Gloomy Sunday“ die sogenannte ungarische „Suizid-Hymne“ schrieb, beging Selbstmord.

Haben die Freitode dieser berühmten Männer zur Heroisierung des Suizides in Ungarn beigetragen und ihm so zu einer gewissen sozialen Akzeptanz verholfen? Die Suizidrate in Ungarn ist laut eines Berichts der Weltgesundheitsorganisation mit 19,1 zumindest eine der höchsten (Rang 16 von 170) weltweit. In Deutschland etwa liegt sie bei 9,2 (Rang 77). Beachtenswert ist auch der hohe Männeranteil daran. Während nur 7,4 von 100.000 Frauen Selbstmord begehen, sind es bei den Männern 32,4.

Frauen sind glücklicher

Eine aktuelle Studie der Arbeitsgruppe für Positive Psychologie der ungarischen Eötvös-Loránd-Universität bestätigt, dass Frauen in Ungarn tendenziell glücklicher sind als Männer, was wohl unter anderem an der hohen Erwartung an diese als Versorger liegt beziehungsweise umgekehrt formuliert: ihrer Konzentration auf die Versorgung der Familie, wonach wir wieder bei der Theorie von Csíkszentmihályi wären. Neben anderen Faktoren identifizierte die Studie aber auch eine ausgeprägte Resilienz, also eine psychische Widerstandsfähigkeit als eine wichtige Voraussetzung für persönliches Lebensglück.

Um sich diese anzueignen, haben Paul Pahil und seine Kollegen bei ihren Vorträgen eine Reihe von Empfehlungen parat. So sei es vor allem wichtig, sich um Körper und Geist gleichermaßen zu kümmern. Mit Yoga lässt sich der Geist beruhigen, während Hirnscans zeigen, dass Meditation hilft, weniger stressanfällig zu sein und mehr Mitgefühl zu entwickeln. Denn soziale Interaktion, Teamwork und auch ein Ehrenamt seien extrem wichtig, um Isolation vorzubeugen und Menschen aus ihrer Negativblase rauszuholen, so Pahil.

Mihály Csíkszentmihályi, erzählt Pahil, komme mehrmals im Jahr nach Ungarn und hätte bereits einen Fortschritt im Wohlbefinden der Menschen festgestellt. Zudem lesen immer mehr Ungarn seine Bücher. Damit das so bleibt, wird Pahil weiterhin die Budapest Happiness Week veranstalten. Der Termin für das kommende Jahr steht bereits fest: 10. bis 17. September. Die Sorge, dass es in Ungarn in naher Zukunft einmal nicht mehr genug für ihn zu tun geben könnte, hat Pahil nicht. „Die Happiness Week wächst jedes Jahr, denn das Bedürfnis nach mehr Glück und Wohlbefinden ist in Ungarn immer noch himmelhoch”, sagt er.

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