Fast auf den Tag genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass in Budapest Autos brannten und wütende Massen das Gebäude des Staatsfernsehens am Budapester Szabadság tér stürmten. Diesem Gewaltausbruch vorausgegangen waren Proteste, bei denen der Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány gefordert wurde. Doch was war geschehen?

„Gyurcsány, verschwinde!”

Am 26. Mai 2006 hielt der damalige Premier Ferenc Gyurcsány in Balatonőszöd eine Rede vor einem parteiinternen Gremium. Einen Monat nach dem Gewinn der Parlamentswahlen ging er in dieser mit sich und seiner sozialistischen Partei (MSZP) hart ins Gericht. Unter anderem fielen Sätze wie „Wir haben Tag und Nacht gelogen“ und „Wir haben´s verkackt“.

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Nachdem Ungarn die Wende friedlich gemeistert hatte, kam es im Herbst 2006 zu mehreren blutigen Gewaltausbrüchen.

Bis heute ist nicht geklärt, durch wen schließlich ein Mitschnitt der Rede am 17. September zeitgleich an verschiedene Medien gelangte und erst in Ausschnitten, dann jedoch in voller Gänze verbreitet wurde. Insbesondere die heftige Wortwahl war es, die vielen Ungarn zu weit ging. Noch am selben Tag versammelten sich mehrere Tausend Menschen auf dem Kossuth tér vor dem Parlament und forderten den Rücktritt des frisch im Amt bestätigten Ministerpräsidenten.

Auch außerhalb von Ungarn versammelten sich Menschen spontan, um ihrem Unmut Luft zu machen. Tags darauf kam es dann zum berühmten „Sturm auf das Fernsehgebäude“. Aufgebrachte Demonstranten zogen am Abend des 18. September vom Kossuth tér zum Sitz des ungarischen Fernsehens und verschafften sich dort schließlich gewaltsam Zutritt. Dabei richteten sie an und in der Fernsehzentrale erheblichen Schaden an.

Die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten waren erheblich, die Polizei konnte im Laufe der Nacht die Situation aber wieder unter Kontrolle bringen. Doch der Widerstand war geboren. Der damals in der Opposition befindliche Fidesz forderte unter Viktor Orbán den Rücktritt Gyurcsánys, stellte gar ein Ultimatum und machte Stimmung gegen den amtierenden Premier.

Unverhältnismäßig hartes Vorgehen der Polizei

Am 2. Oktober stellte Premier Gyurcsány in Aussicht, sich der Vertrauensfrage durch das Parlament stellen zu wollen. Der damals größten oppositionellen Kraft, dem Fidesz, ging dies jedoch nicht weit genug. Allen voran Viktor Orbán forderte weiterhin den sofortigen Rücktritt des Premiers. Bis zum Nationalfeiertag am 23. Oktober schaukelte sich die Stimmung unter den Demonstranten, die mittlerweile täglich auf dem Kossuth tér zusammenkamen, weiter hoch. Erneut kam es an diesem Tag zu Ausschreitungen, in deren Verlauf mehrere Personen teils schwer verletzt wurden. Das Vorgehen der ungarischen Polizei wurde auch international scharf kritisiert. Unverhältnismäßig und zu hart sei es gewesen – teilweise kamen Tränengas, Hartgummigeschosse und Wasserwerfer zum Einsatz.

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Für den heutigen Premier Viktor Orbán konnte es vor zehn Jahren nur eine Lösung geben: Sein Kontrahent Ferenc Gyurcsány musste zurücktreten.

Obwohl der Fidesz alles daran setzte, Ferenc Gyurcsány als Premier aus dem Amt zu jagen – selbst ein Referendum brachte der Fidesz damals diesbezüglich ins Gespräch, hielt sich dieser bis zum Jahre 2008 an der Spitze der Regierung. Und brachte sich nun, zehn Jahre nach Őszöd wieder ins Gespräch.

Veränderter politischer Diskurs

Seitdem ist viel passiert in Ungarn. Vor allem hat der, ohnehin nie mit Zurückhaltung geführte politische Diskurs an Schärfe zugenommen. Oder ist komplett ausgeblieben. Denn, nachdem weder das angedrohte Referendum, noch die Vertrauensfrage Gyurcsány aus dem Amt fegen konnten, nahm die Fidesz-Fraktion schlicht nicht mehr an Plenarsitzungen teil, in denen Gyurcsány reden sollte. Medienwirksam verließ die gesamte Fraktion jedes Mal den Plenarsaal, wenn der Premier ans Rednerpult trat.

Generell hat sich auch der Ton im politischen Gespräch seitdem stark verändert. Während es schon immer eine starke Polarisierung innerhalb der Gesellschaft gab, ist es nach 2006 in Familien sogar zu Scheidungen wegen unüberbrückbarer politischer Differenzen gekommen, Freundschaften gingen zu Bruch. Den Schuldigen im Fidesz zu suchen, wäre zu kurz gedacht. Zwar hat es insbesondere die einst liberal-demokratische Partei wie keine andere verstanden, die Freund-Feind-Rhetorik zu etablieren, dies hätte jedoch nicht von den anderen Parteien übernommen werden müssen. Mehr noch: die MSZP und später LMP und auch die Jobbik lassen sich bis heute rhetorisch vom Fidesz vor sich her treiben.

Gyurcsány wittert vorgezogene Wahlen

Dem versucht Ferenc Gyurcsány, das Stehauf-Männchen der ungarischen Politik, nun Herr zu werden. Statt dem Fidesz das Feld der Geschichtsdeutung „zehn Jahre danach“ zu überlassen, versucht der Ex-Premier und Wieder-Parteivorsitzende, das Thema gar nicht erst groß auf die Tagesordnung kommen zu lassen. „Ja, die Rede ist vor zehn Jahren publik geworden, doch lassen Sie uns lieber über das Heute reden!“, scheint dieser Tage bei der Gyurcsány-Partei DK das Motto zu sein.

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Und das Heute ist ebenso widersprüchlich, wie das Damals bei Gyurcsány. Denn der Ex-Premier ist unterwegs, um seine Anhänger zu mobilisieren – zum Daheimbleiben. Die DK fordert, wie auch andere linke Parteien, ihre Anhänger zum Referendumsboykott auf. Doch Ferenc Gyurcsány geht noch weiter als andere Oppositionspolitiker. Hinter dem Referendum werden zwar fast allseits rein innenpolitische Interessen seitens des Fidesz vermutet, doch Gyurcsány vermeint nun sogar die Vorbereitung auf vorgezogenen Wahlen darin zu entdecken.

Auf einem Bürgerforum in Újpest sprach er jetzt erstmals öffentlich von seiner Vermutung: „Die Angst- und Hasskampagne baut eine neue politische Gemeinschaft, die, wenn sie die Mehrheit bildet, Grundlage dafür sein wird, im Januar oder Februar vorgezogene Wahlen abzuhalten.“ Denn, so viel steht für den Ex-Premier fest, auf regulärem Wege und mit politischer Arbeit sei die Wahl 2018 für den Fidesz nicht zu gewinnen, auf keinen Fall mit einer neuerlich angestrebten Zweidrittel-Mehrheit. Bis 2018 wird sich das Thema Flüchtlinge auch nicht weiter instrumentalisieren lassen, da ist sich Gyurcsány sicher, stattdessen werden wirkliche innenpolitische Themen, wie etwa die Lage des desolaten Gesundheits- und Bildungssystems wieder verstärkt auf die Tagesordnung kommen.

Neuwahlen – eine wahltaktisch durchaus reale Alternative

Das Nachrichtenportal index.hu fragte sodann auch beim Premier an, ob es diesbezüglich Pläne gäbe. Der Leiter des Pressebüros, Bertalan Havasi, ließ am Montag wissen: „Mit Ferenc Gyurcsánys verzweifelten Versuchen des sich Reinwaschens beschäftigen wir uns nicht.“ Doch wirklich zurückgewiesen wurde die Idee der vorgezogenen Wahlen nicht, stellte das Portal weiter fest. Noch im Januar war das Stichwort Neuwahlen vom MSZP-Politiker István Ujhelyi ins Gespräch gekommen. Damals reagierte das Regierungsinformationszentrum eindeutiger: „Diese Annahme ist offensichtlicher Unfug.“ Es wäre müßig, jedes (fehlende) Wort von Regierungsseite auf die Goldwaage zu legen, doch ganz von der Hand zu weisen, ist Gyurcsánys Gedankengang auch nicht.

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