Budapest ist, was Barrierefreiheit angeht, eine sehr kontroverse Stadt. Nehmen wir beispielsweise die Metrolinie 3 (M3): Hier werden wir in den seltensten Fällen überhaupt einen Fahrstuhl vorfinden. Hingegen bietet die modernste und neueste Linie der Stadt, die M4, einen solchen an jeder Station. Ein anderes Beispiel sind die Blindenampeln, die eine wahre Rarität in Budapest sind - ähnlich verhält es sich mit Leitstreifen. Die Behindertenbewegung „Rehab Critical Mass“ (RCM) macht auf diese Probleme aufmerksam. RCM wurde von Csaba Kiss initiiert, mit dem Ziel eine „kritische Masse“ von Menschen mit Behinderung zusammenzubringen. Gemeinsam mit Familie, Freunden und Unterstützern sollen sie in der Öffentlichkeit sichtbar werden und die Chance haben, sich selbst für ihre Rechte starkzumachen, Kooperationen zu verbessern und die Solidarität innerhalb der Gesellschaft zu festigen.

Erstmalig fand eine solche Begegnung am 19. Oktober 2014 in Budapest statt. „Das war eine wirklich neuartige Bewegung in jeglicher Hinsicht", erzählt Judit Surányi, Vorstand der „Rehab Critical Mass“. „An diesem Tag haben wir Barrierefreiheit symbolisch realisiert. Nie zuvor waren in den Straßen von Budapest so viele Menschen mit den verschiedensten Behinderungen auf einmal zu sehen.“ An diesem Festmarsch, der am Erzsébet tér endete, nahmen rund 3.000 Menschen teil. Am Platz selbst waren Bühnen aufgebaut, auf denen mehrere Künstler mit Behinderungen sowie bekannte Bands wie Budapest Bar, Republic und Eszterlánc auftraten.

Ungerechtigkeit aus dem Weg räumen

„Barrierefreiheit ist ein großes Thema. Doch zuallererst ist dieses Thema in den Köpfen der Menschen verankert und viele denken, dass ausschließlich die Politik etwas dafür tun kann“, so Judit Surányi. „Das stimmt natürlich, aber jeder Einzelne kann mit wachsamem Auge durch die Stadt laufen und helfen, wo er kann.“ Problematisch findet sie auch, dass Menschen mit einer Behinderung teilweise isoliert leben und sie nicht die Chance haben, ordentlich ins Arbeitsleben integriert zu werden, um ein unabhängigeres Leben führen zu können. „Eltern behinderter Kinder erhalten oft keine Hilfe oder Unterstützung, weder finanziell, noch psychologisch. Wir wünschen uns, dass Ungarn diese Menschen als wertvolle und nützliche Mitglieder der Gesellschaft betrachtet, sie trainiert und gleichwertig behandelt.“

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Der Umzug soll beispielweise darauf aufmerksam machen, dass körperlich Beeinträchtigte vielerorts auf Barrieren stoßen.

Die ungarische Regierung hätte eigentlich ein Budget für diese Menschen, steckt aber keine Mühe hinein, um vertretbare Lösungen zu finden. Daher hat RCM eine Petition namens „WE DO EXPECT“ ins Leben gerufen, um die Wünsche und Forderungen der Menschen zu manifestieren. „Unsere Petition enthält Verbesserungsvorschläge in den Bereichen Rehabilitation, Bildung, Pflegezuschüsse, Inklusion, die Verlagerung von überfüllten Pflegeheimen zu betreutem Wohnen sowie die Wertschätzung von professionellem Pflegepersonal.“ Für RCM ist es wichtig, ein positives Bild zu schaffen und sich von der klassischen „Mitleidsschiene“ klar zu distanzieren.

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Judit Surányi: „Barrierefreiheit beginnt zuallererst in den Köpfen der Menschen.“

Daher finden regelmäßig Straßenmärsche, Workshops und Events statt, bei denen die Behinderten selbst Verantwortung übernehmen dürfen und diese Selbstständigkeit nach außen tragen können. Außerdem hat RCM das Projekt "Say yes to life!" ins Leben gerufen. Hier werden unter anderem Menschen betreut, die Heiligabend andernfalls alleine verbringen müssten. „In Zukunft werden weitere Projekte folgen. Auch wollen wir Podiumsdiskussionen veranstalten, wo wir Experten mit hinzuziehen und darüber diskutieren, inwieweit Integration und das Schaffen von Arbeitsplätzen selbstverständlicher werden können“, so Judit Surányi.

Ungarn hinkt hinterher

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stellen die Initiatoren von RCM fest, dass in Ungarn bisher ein großer Nachholbedarf besteht. „Gerade öffentliche Plätze sind teilweise schlecht ausgestattet, genauso wie Arbeitsplätze“, bedauert Judit Surányi. „EU-Gelder werden an dieser Stelle leider kaum für Rampen oder beispielsweise behindertenfreundliche öffentliche Toiletten ausgegeben.“ Nichtsdestotrotz weist Surányi auf die kleinen, aber guten Verbesserungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln hin – auch wenn der Prozess in diesem Bereich noch lange nicht vollständig abgeschlossen ist. Für Busfahrer ist es immer noch ein großes Problem, dass die Busse nicht barrierefrei sind. Das Traurige daran ist, dass die Frustration über diesen Zustand meistens die Hilfebedürftigen abbekommen. „Es kann sogar im Extremfall vorkommen, dass der Busfahrer sich weigert, Rollstuhlfahrer zu transportieren.“ Abschließend betont Judit Surányi: „Es ist unglaublich, dass fast zwei Millionen Menschen mit Behinderung in Ungarn leben und nicht genügend Aufmerksamkeit bekommen. Wir wollen nicht nur einen Appell an die Regierung und alle Entscheidungsträger senden, sondern auch an jeden einzelnen Bürger, dass er sich mit der Thematik beschäftigen sollte.“

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Die erste Rehab Critical Mass fand in Budapest im Oktober 2014 statt.

Eine Critical Mass, zu Deutsch „kritische Masse“ ist ursprünglich eine Bewegung von Radfahrern, die in vielen Städten der Welt angefangen haben, gemeinsame Fahrten zu organisieren, um auf ihre Belange und Rechte im Verkehr aufmerksam zu machen.

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