Budapest im Jahre 1998: Julie Szontagh und ihre damalige Partnerin sind die Ersten, die sich trauen, nach der Wende vom Kommunismus zum Kapitalismus ein kleines, unabhängiges Modegeschäft mit Vintage-Kleidung zu eröffnen. „Als wir angefangen haben, gab es keine anderen Läden dieser Art. Nach einer kurzen Zeit haben uns dann ungarische Modedesigner angesprochen, ob auch sie ihre Produkte in unserem Laden verkaufen können“, erzählt Julie Szontagh heute. Dieses Konzept bewährte sich 10 Jahre, bis Szontagh sich dafür entschied, ihren eigenen Weg zu gehen. „Ab einem gewissen Punkt realisierte ich, dass alle Boutiquen um mich herum das Gleiche machen und ich mich durch nichts definiere oder abhebe.“

Auf der Suche nach neuen Looks

Im Jahre 2007 wurde also das Látomás-Konzept geboren wie es auch heute noch existiert. Die junge Modeunternehmerin begann, ins Ausland zu reisen und sich ihre Kleidung selbst auszusuchen. „Ich designe die Sachen zwar nicht selbst, aber ich suche alles nach meinem Geschmack aus.“ Seit dem konzeptionellen Umbruch kann Szontagh nun auch eine andere Leidenschaft in ihren Beruf einbauen: das Reisen.

#

BZT-Fotos: Nóra Halász

„Die Textilindustrie in Ungarn ist beinahe tot. Da ich das Reisen ohnehin liebe, schaue ich mich gerne in Ruhe in Italien, der Türkei und Asien im Allgemeinen um, bis ich etwas Anständiges finde.“ Diese Suche gestaltet sich jedoch nicht immer ganz einfach: Ganz gleich, ob sie nach Taschen, Accessoires oder Kleidern sucht – eine angemessene Qualität zu moderaten Preisen zu finden, braucht Zeit. „Ein Großteil meiner Arbeit besteht aus Recherche. Wenn ich auf diversen Märkten meine Runden drehe, sehe ich zwar eine Vielzahl an geschmackvollen Kleidungsstücken, aber ein Großteil besteht aus Polyester, ein Material, welches ich persönlich nicht mag. Dann suche ich so lange, bis ich etwas Passendes finde.“ Mit der Produktion hat Julie Szontagh grundsätzlich nichts zu tun. Wenn sie aber ein besonders schönes Einzelstück entdeckt, bespricht sie Änderungswünsche oder Massenbestellungen mit der jeweiligen Fabrik, die sie mittlerweile gut kennt.

Neu ist immer besser

Mittlerweile ist Látomás mit drei Geschäften im jüdischen Viertel vertreten. Alle sind fußläufig untereinander erreichbar. Die Kollektionen ändern sich innerhalb weniger Wochen, sodass man in allen drei Stores unterschiedliche und vor allem ständig neue Teile findet. Julie Szontagh bezeichnet ihre Lagerräume liebevoll als „organisiertes Chaos“. Neben den Stores, die ausschließlich Frauenkleidung und Accessoires anbieten, gibt es einen Showroom für Männer, der einmal im Monat seine Pforten öffnet. Dieses monatliche Event wird frühzeitig auf Facebook und im Newsletter bekannt gegeben. Neben dem Showroom befinden sich hier auch das Büro und das Fotostudio von Látomás. Das Alleinstellungsmerkmal des Modegeschäfts, dessen Name zu deutsch „Vision“ bedeutet, liegt auf der Hand: „Látomás funktioniert, weil es günstig ist.

#

Daher haben wir in dem Sinne auch keine Hauptzielgruppe. Die Preise sind für alle vertretbar, sei es für Schüler, Studenten, Arbeiter, Touristen oder Expats.“ Doch wie lassen sich die günstigen Preise bei vergleichsweise guter Qualität erklären? „Als ich mit Látomás begonnen habe, habe ich mir den Grundsatz gesetzt, Kleidung zu Preisen anzubieten, die ich selbst auch bereit wäre, zu zahlen. Ich orientiere mich an einem Durchschnittspreis von 4.000 Forint, mal mehr, mal weniger. Das ist ein Preis, bei dem ich nicht lange überlege, wenn mir ein Kleidungsstück gefällt“. So gibt es laut Szontagh im jüdischen Viertel viele geschmackvolle Boutiquen, von denen die meisten allerdings recht hohe Preise verlangen würden. Das bekommt Julie Szontagh täglich zu spüren: „Ich erlebe es oft, dass Passanten interessiert in den Laden schauen, aber nicht eintreten. Wenn sie sich dann doch einmal dazu entschließen, hereinzukommen, sind sie überrascht, wie günstig wir tatsächlich sind.“ Dabei weiß Szontagh aber auch: „Im Endeffekt macht es keinen Unterschied, ob man nun weniger Teile zu einem höheren Preis verkauft, oder umgekehrt: Man kauft eh ständig Neues. Der Lebenszyklus eines T-Shirts oder auch einer Sonnenbrille hat ein Ablaufdatum, egal wie viel Geld man anfangs ausgegeben hat.“

Keine klassische „Fashionista“

Julie Szontagh ist glücklich mit dem, was sie tut, obwohl sie sich anfangs nicht einmal sicher war, ob sie ins Modegeschäft einsteigen will. „Ich wollte nie für ein großes Modeunternehmen arbeiten und würde mich auch nicht als typische „Fashionista“ bezeichnen. Ich lese weder Modeblogs, noch besuche ich Modeevents. In meinen Augen ist dieses Business in Ungarn nicht sonderlich authentisch. Alle wollen ein Karl Lagerfeld sein, sind es aber nicht. Natürlich mochte ich Kleidung schon immer, aber ich bin mir dessen bewusst, dass es noch ein anderes Leben neben der oberflächlichen Modewelt gibt“, sagt die bodenständige Szontagh. Nichtsdestotrotz ist die junge Unternehmerin glücklich mit dem, was sie tut.

#

Seit Kurzem ist in Szontaghs Leben eine neue Herausforderung hinzugekommen: Sie wurde Mutter. „Ohne meine Mitarbeiter wäre ich aufgeschmissen. Sie kümmern sich so zuverlässig, als sei es ihr eigener Laden. Doch wir sind wie eine kleine Familie und ich möchte ihnen eine gute Work-Life-Balance bieten, sodass wir uns auch genau absprechen, wann wer Urlaub machen kann.“ Derzeit beschäftigt die frischgebackene Mutter sechs Mitarbeiterinnen und eine Managerin, welche sie tatkräftig unterstützen. Geboren wurde Julie Szontagh, die sowohl ungarische als auch französische Staatsbürgerin ist, in Frankreich. Seitdem sie 1997 nach Budapest gezogen ist, fühlt sie sich besonders im jüdischen Viertel zu Hause. Diese Faszination beschränkt sich nicht nur auf die traditionell jüdischen Einrichtungen, wie etwa die Große Synagoge, welche die zweitgrößte der Welt ist.

Das Viertel gehört zu den beliebtesten Ausgehmeilen der ungarischen Hauptstadt und bietet neben dutzenden Ruinenbars internationale wie klassisch jüdische Restaurants und eignet sich auch für Schaufensterbummel. Der perfekte Standort also für das Bermuda-Dreieck von Látomás. Hier lebt und arbeitet Julie Szontagh, genießt es, die Nachbarschaft zu kennen, vom Friseur bis zum Cafébesitzer schätzt sie den Austausch und die tolle Atmosphäre des hippen Quartiers. „Einige Menschen mögen die Gegend zwar, könnten sich aber nicht vorstellen, hier zu leben und zu arbeiten, weil es teilweise laut und touristisch ist. Aber genau das liebe ich. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, die drei Stores zu einem großen zu vereinen. Doch das Konzept ist stimmig und es gibt keinen Grund, es nicht beizubehalten, auch wenn das für mich bedeutet, immer hin und her zu laufen.“ Zu Beginn besuchte sie eine Wirtschaftsschule in Ungarn, welche sie allerdings nicht beendete. „Den Unternehmergeist hatte meine Partnerin in mir gesehen und ich konnte mich nicht wirklich auf die Schule konzentrieren, da meine oberste Priorität immer Látomás war. Diese Entscheidung habe ich auch nie bereut.“

Wer sich für exklusive und doch erschwingliche Kleidungsstücke interessiert, findet die Látomás-Stores an folgenden Standorten:

VII. Bezirk, Dohány utca 16-18

VII. Bezirk, Kiraly utca 39

VII. Bezirk, Akácfa utca 27-29

VII. Bezirk, Kertész utca 20 (Men Department)

Anmeldungen unter +36 70 93 00 393

Konversation

WEITERE AKTUELLE BEITRÄGE
Regierungsbeschlüsse

Ende für Transitzonen

Geschrieben von BZ heute

Am kommenden Dienstag reicht die Regierung jene Vorlage im Parlament ein, mit der sie um die…

Im Gespräch mit Columbo, Frontmann der Band Irie Maffia

Musik in der Quarantänezeit

Geschrieben von Péter Réti

Vor 15 Jahren wurde die ungarische Band Irie Maffia gegründet. Die Budapester Zeitung sprach mit…

Brettspielverleih „Játszóház Projekt”

Lasset die Spiele beginnen!

Geschrieben von Elisabeth Katalin Grabow

Gezwungenermaßen verbringen viele Menschen heute mehr Zeit daheim. Da wird die Suche nach neuen…