Wie die Regierung den Bericht liest

Der Landesbericht der OECD bewertet die makroökonomische Lage in Ungarn positiv, hob Volkswirtschaftsminister Mihály Varga auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag hervor, die den Bericht der breiten ungarischen Öffentlichkeit vorstellen sollte. In dem Dokument würden die Erfolge der ungarischen Wirtschaftspolitik anerkannt: Wirtschaftswachstum, Schuldenabbau, Schaffung von Arbeitsplätzen und sinkende externe Verletzlichkeit des Landes. „Diese Studie kam zum richtigen Zeitpunkt, um den Bogen zu zeigen, den die ungarische Wirtschaft zwischen 2010 und 2015 gespannt hat“, erläuterte Varga. Es werde ein objektives Bild gezeichnet, wie Ungarn zunächst die Krise niederrang, um anschließend die Bedingungen für einen Neuanfang zu schaffen, so dass das Land in den letzten drei Jahren daran gehen konnte, das Wirtschaftswachstum zu dynamisieren.

Hatte der letzte OECD-Länderbericht vor zwei Jahren nur potenzielle Möglichkeiten formuliert, bestätigt der jetzt vorgelegte Bericht, dass weitaus mehr als die damaligen Zielstellungen verwirklicht werden konnten. An erster Stelle erwähnte der Minister die verringerte externe Verletzlichkeit des Landes, wozu beträchtlich der Abbau der Fremdwährungskredite beigetragen habe. Daneben gelang es, die Staatsschulden gemessen am Bruttoinlandsprodukt auf eine neue Bahn zu stellen, die einen tendenziellen Abbau generiert. Schließlich tragen die immer neuen Rekordüberschüsse der Zahlungsbilanz zur Stabilisierung bei.

Für das laufende Jahr rechnet die OECD – übrigens in Übereinstimmung mit allen anderen Institutionen und auch der ungarischen Regierung – mit einem gedrosselten Wachstum. Der Wirtschaftsminister verwies jedoch auf den Zusammenhang, wonach die positiven Risiken in Bezug auf die Wachstumszahl überwiegend heimischen Prozessen, die negativen Risiken externen Prozessen wie einer eventuell langsamer wachsenden Weltwirtschaft zuzuordnen sind.

Ohne konkret auf Kritikpunkte einzugehen, erklärte der Fidesz-Politiker: „Mit den Empfehlungen im Bericht stimmen wir weitgehend überein, weil diese mit den langfristigen wirtschaftspolitischen Plänen der Regierung konform gehen, beziehungsweise auf Bereiche verweisen, in denen Ungarn Reserven besitzt, die sich auf lange Sicht in den Dienst des Wachstums stellen lassen.“ Die fachpolitischen Empfehlungen der OECD sind nicht verbindlich, unterstützen jedoch die Planung für wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierung, beschloss Varga die Pressekonferenz. Die Empfehlungen aus dem OECD-Bericht offen anzusprechen, überließ er anderen.

Wie Fachportale den gleichen Bericht lesen

Wir schauten uns deshalb auch auf den führenden Wirtschaftsportalen Ungarns um und wurden schnell fündig. Portfolio.hu stach ins Auge, dass die Ökonomen der OECD mit der nicht abreißen wollenden Verstaatlichungswelle im Versorgungssektor nicht einverstanden sind. Auch die Übernahme einer Mehrheit an der Budapester Wertpapierbörse durch die Ungarische Nationalbank (MNB) wird missbilligt, da die MNB als Kapitalmarktaufsicht damit in einen Interessenkonflikt gerät. Die seit 2012 erlebte positive Wende hat die Einkommen noch nicht an das in der modernen Welt übliche Niveau herangeführt. Es seien weitere strukturelle Reformen vonnöten, um den Privatsektor zu stärken und das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte bzw. ihre Kompatibilität mit dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Die Investitionstätigkeit insbesondere einheimischer Klein- und mittelständischer Unternehmen bleibt verhalten, weil ständig Rechtsnormen modifiziert werden.

Der Bericht fordert die Senkung des strukturellen Defizits und hebt bei den zu senkenden Staatsausgaben explizit die Vergünstigungen auf dem Energiemarkt hervor. Das ist eine unmissverständliche Kritik an der Politik der sinkenden Wohnnebenkosten, die von der Orbán-Regierung als ein Grundpfeiler ihrer Gesellschaftsphilosophie angesehen wird. Schön und gut, dass die Notenbank die faulen Kredite etwa der MKB Bank in die Reorganisationsfirma MARK Zrt. umgeschichtet hat, doch wo ist die Strategie, was mit diesem vergifteten Kreditportfolio geschehen soll? Im Kampf gegen den weiterhin verbreiteten Mehrwertsteuerbetrug rät die OECD dazu, die Verbrauchsteuern noch stärker in den Vordergrund zu rücken, auch um Arbeit besser zu entlasten. Transparenz und Stabilität in der Gesetzgebung, ein Abbau der Bürokratie sowie die Streichung der ungezählten Ausnahmen und Befreiungen im Wettbewerbsrecht sind weitere Empfehlungen aus Paris. Auf die öffentlichen Arbeitsprogramme, mit denen in der Tat für mehr Beschäftigung gesorgt wurde, sollten nun Programme folgen, die den ABM-Kräften die Rückkehr in den primären Arbeitsmarkt ermöglichen.

Weniger Ressourcen für Absicherung der Zukunft

Die Entschlossenheit der Regierung bei der Senkung des Haushaltsdefizits ist anzuerkennen, doch ging dieser Kurs am ehesten zu Lasten der sozialen Ausgaben und des Bildungswesens, hebt napi.hu hervor. Ungarn gibt relativ wenig Geld für Bildungszwecke aus, was die langfristigen Wirtschaftsaussichten beeinträchtigen kann. Die Armutsrate lag 2013 mit über zehn Prozent leicht über dem Durchschnittswert der Region, die Wachstumsrate wird mittelfristig bescheidener als im regionalen Mittel ausfallen. In dieser Lage sei es laut OECD eine ständige Herausforderung für die ungarische Regierung, einen politischen Mix zu implementieren, der gleichzeitig Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen unterstützt, soziale Unterschiede und geographische Ungleichgewichte beim Zugang zu öffentlichen Leistungen reduziert.

Der Staat ist hierzulande noch immer über Maßen präsent: Knapp die Hälfte des BIP wird über das Budget umverteilt. In den 28 OECD-Staaten sind es im Schnitt 45 Prozent, in der Region Mittelosteuropa nur 43 Prozent. Der Staat beschäftigt noch immer beinahe jeden fünften Arbeitnehmer, in den umliegenden Ländern wie allgemein in der OECD ist es nur eine von sechs oder sieben Personen.

Die Ausgaben für das Bildungswesen wurden in den Jahren nach der Krise unter zehn Prozent an allen öffentlichen Ausgaben gesenkt. Damit verwendet Ungarn rund zweieinhalb Prozentpunkte weniger seiner Ressourcen als die Nachbarn für die Absicherung der Zukunft – auf dem Gebiet des Gesundheitswesens erreicht der relative Rückstand sogar vier Prozentpunkte. Weniger Geld für die Grund- und Mittelschulen schlägt sich schon heute in schlechteren PISA-Testergebnissen nieder. Mehr als anderswo spielt die Herkunft der Schüler und die Wahl der Schule eine Rolle, wenn es um die Leistungsfähigkeit geht. Während Ungarn einen recht hohen Anteil von Mittelschulabgängern aufweist, sind Hochschuldiplome rar – ein krasser Wettbewerbsnachteil in einer wissensbasierten Wirtschaft.

Auf dem Weg ins digitale Zeitalter hat die Regierung anerkennenswerte Anstrengungen unternommen, nur bleibt die Nutzung der digitalen Dienstleistungen durch die Allgemeinheit stark beschränkt. Ähnliches lässt sich von öffentlichen Auftragsvergaben auf elektronischem Wege sagen, die den Unternehmen, der Prozesseffizienz und Transparenz entgegenkämen.

Das Wirtschaftsmagazin Figyelő erwähnte neben den vorgenannten Punkten auch jene Kritik von OECD-Generalsekretär Ángel Gurría, wonach Ungarns Produktivität in der Region zurückbleibt und noch nicht einmal wieder das Niveau von 2008 erreicht habe. Arbeitswillige Frauen müssten bessere Chancen zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nach dem Kinderjahr erhalten. Die Einkommensteuer sei in Ungarn zwar niedrig, die Abgabenlasten auf die Arbeit aber unverändert hoch.

Der OECD-Bericht rechnet übrigens recht optimistisch nach 2,5 Prozent in diesem schon 2017 wieder mit 3 Prozent Wirtschaftswachstum, während die Inflation von 0,7 auf 1,7 Prozent im Jahresmittel zulegen und die Erwerbslosenquote über 5,8 bis auf 5,3 Prozent sinken soll.

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